Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Adam Zagajewski
(Lemberg 1945 – Krakau 2021)
Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen
Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen.
Denk an die langen Junitage
und die Erdbeeren, die Tropfen des Roséweins.
An die Brennnesseln, die systematisch
die verlassenen Häuser der Vertriebenen überwuchern.
Du musst die verstümmelte Welt besingen.
Du hast elegante Yachten und Schiffe betrachtet;
eines davon hatte eine lange Reise vor sich,
auf andere wartete nur das salzige Nichts.
Du sahst Flüchtlinge, die nirgendwohin gingen,
du hörtest Henker, die fröhlich sangen.
Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
Denk an die Augenblicke, die ihr zusammen verbrachtet
in dem weißen Zimmer, als sich der Vorhang bewegte.
Erinnere dich an das Konzert, bei dem die Musik explodierte.
Im Herbst hast du im Park Eicheln gesammelt,
und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.
Besinge die verstümmelte Welt
und die graue Feder, die die Drossel verlor,
und das zarte Licht, das umherirrt, verschwindet
und wiederkommt.
Übersetzt von Renate Schmidgall. Aus: Sinn und Form, Heft 5, September / Oktober 2021
»Es ist eine leichte und zugleich durchdringende Lyrik, und wenn ich sie lese, kommt es mir vor, als sei der Kalender durcheinander geraten und habe die Feiertage vergessen, von denen sie kündet.«
Tomasz Rózycki
Dank an Renate Schmidgall.
Adam Zagajewski wurde 1945 in Lemberg geboren und studierte Psychologie und Philosophie an der Jagiellonen-Universität in Krakau. 1972 debütierte er als Lyriker. Zu seinem Werk zählen neben Gedichten vor allem Essays und mehrere Romane. Wegen seiner kritischen Haltung zum kommunistischen Regime waren seine Bücher in der Volksrepublik Polen von 1976 bis 1989 mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen ging Adam Zagajewski über West-Berlin und die USA ins Exil nach Paris. Im Jahr 2002 kehrte er nach Polen zurück. Er lebte mit seiner Ehefrau bis zu seinem Tod im März 2021 in Krakau.
03.11.2021