Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Bernard Noël
(Sainte-Geneviève-sur-Argence 1930 – Laon 2021)
Ein anderer Mund verschlingt in mir mein eigenes Ich,
das auf den Bauch herabschneit. Ein immerzu
übersättigter Mund, der doch immerzu kaut, immerzu
schluckt. Mit eingeschnürtem Hals schlucke ich mein
unerschöpliches Fleisch hinunter.
Wüste
im Fallen durch Wüsten Und
keine Organe mehr nichts als zwei
Mundetagen und, von der einen und zur anderen, der
langsame, klebrige Staub des Selbst. So als ob die
Hänge der unsichtbaren Berge ihre Furchen abrollten
und geräuschlos in den Abgrund stürzten. Nichts als
erdige Wolken. Darüber, darunter, das Verdauen der
Leere.
Übersetzt von Angela Sanmann. Aus: Körperextrakte. Wunderhorn, Heidelberg 2010.
»Der Körper ist ein Wortsteinbruch. Und seine Entdecker versichern, dort, unter der Haut, gäbe es etwas, um die Sprache zu erneuern.«
Bernard Noël wurde 1930 in Sainte-Genevieve-sur-Argence, Frankreich, geboren. Er besuchte zunächst eine Journalistenschule in Paris und arbeitete als Lektor und Übersetzer. 1953 erschien sein erster Gedichtband. Später veröffentlichte er u.a. einen Roman, der als Allegorie auf die brutalen Ereignisse im Algerienkrieg gedacht war. Daneben verfasste er Reisebeschreibungen, literaturkritische und politische Essays. Im Jahr 1992 erhielt er den Grand prix national de poésie und 2010 den Prix Ganzo de poésie. Bernard Noël starb im April 2021 in Laon.
10.05.2021