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Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner lite­rarischer Gedenks­teine in Form eines Gedichtes jüngst ver­stor­bener Dichter, über­wiegend fremd­sprachiger, aber auch deutsch­sprachiger. Aus­gangs­punkt sind unter ande­rem aktuelle Todes­mel­dungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.

Liste der Stelen   ↓

 

Wulf Kirsten
(Klipphausen 1934 – Weimar 2022)


stimmenschotter

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Heinrich Heine

trostesbang
die abschwünge
wider
alle unumstößlichen verheißungen,
schachfiguren, aus der lebensmitte
gerückt, ins totenreich der natur.
der stimmenschotter
im versiegenden flußbett
mit ulmenzweigen gepeitscht
wie damals.
die umgeschuldeten mißerfolge
in den gebetsmühlen aufrecht
zersungen, zermalmt.
die rückläufigen erfolge
die bettelsuppe ausgelöffelt
für die mitglieder der menge
das backmehl huldreich gestreckt
schon wieder ein hungerjahr lang
im handgepäck
die kleinen wortrechte,
ausgesiedelte lebensgeschichten,
gewissenhaft totgeschwiegen.
was willst du noch hier?
die stühle der königreiche
sollen sich umkehren
oder auch nicht.
wer aber, herr pfarrer, wer soll uns begraben,
die wir hierbleiben?
fragen die alten
in den dörfern reihum.
im kirchenschiff
tanzt
der vom licht getroffene staub.
auf einer staubsäule
fahrn
in das himmelreich!

Aus: Michael Braun/Hans Thill (Hrsg.), Punktzeit. Deutschsprachige Lyrik der achtziger Jahre. Heidelberg, Wunderhorn 1987.

 

»Er will das ihm Nächstliegende zur Sprache, die ›biographien aller sagbaren dinge‹ ans Licht bringen; er will Menschen, die keine ›resonanznamen‹ haben, Leuten vom Dorf, ›standbilder‹ aus Worten errichten, will ›inständig benennen‹.«
Peter Horst Neumann

 

Wulf Kirsten wurde 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren. Nach seinem Pädagogikstudium arbeitete er kurzzeitig als Lehrer, war dann von 1965 bis 1987 Lektor des Aufbau Verlags. Seither lebt er als freier Schriftsteller in Weimar. Er war Stadtschreiber in Salzburg, Dresden und Bergen-Enkheim. Für sein literarisches Schaffen wurde er u.a. mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Thüringer Literaturpreis ausgezeichnet. Am 14. Dezember starb Wulf Kirsten achtundachtzigjährig in einem Krankenhaus in der Nähe von Weimar.