Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer Gedenksteine in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
(Port-au-Prince 1928 – Montreal 2025)
Gesicht
Zwischen der sandigen Farbe der Zeichnung und der Streichung im Text
habe ich immer dieses Gesicht auf der Zungenspitze.
Als erstes Übungsheft meiner Schritte im Schreiben
höhlt es mein Hiersein aus und gibt mir ein Dach zum Leben.
An jedem Markstein meiner Pausen hebe ich zu einem Gebet an.
Ich bin in ihm es ist in mir Gedächtnisbaum.
In den frühen Stunden der Freundschaft
wenn die Schmetterlinge heranreifen
fügt sein Mosaik meine aussprechbaren Bruchstücke zusammen.
Ein sanftes Raunen von Jugendlichen beim Himmel und Hölle-Spiel
bauscht seine Wimpern auf
und das ferne Stammeln der Kinder beim Buchstabieren
bringt die Freudenschnecke zum Laufen.
Doch in der stummen Zeichensetzung der Irrfahrt
wenn die Stille dazwischentritt
wie eine unheilbringende Anwesenheit
fehlen zu viele Hände um seine Falten zu zählen.
Ich habe immer dieses Gesicht auf der Zungenspitze
im zerbrochenen Wohnort Zwilling des Gedichts.
Aus dem Französischen übersetzt von Rike Bolte.
Aus: Andalusische Radierungen. Ausgewählte Gedichte. Litradukt, Trier 2022 |
litradukt.de
»Die glühende Lyrik von Anthony Phelps beruht die auf einer subtilen Dialektik von Distanz und Engagement, sie verwandelt das Gedicht in ein alchemistisches Gefäß, in dem die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Dichter mit seinem Erbe versöhnt wird. Wie alle großen, von der Geschichte geprüften Autoren trennt Phelps sein persönliches Schicksal nicht von dem seines Volkes.«
Jean-Yves Masson
Anthony Phelps wurde 1928 in Port-au-Prince in Haiti geboren und war Mitbegründer der Gruppe Haiti Littéraire sowie der Zeitschrift Semences. Nachdem er unter dem diktatorischen Regime von François Duvalier ins Exil gezwungen wurde, ließ er sich 1964 in Kanada nieder. Er schrieb Gedichte, Romane und widmete sich der Bildhauerei. Dabei ist sein Werk universellen Themen wie Exil, Identität und der Suche nach Freiheit gewidmet. Auf Deutsch erschien von ihm unter anderem 2022 der Lyrikband Andalusische Radierungen (Eaux-fortes andalouses) in der Übersetzung von Rike Bolte. Anthony Phelps starb im Alter von 96 Jahren im März 2025 in Montreal.
Dank an Peter Trier und litradukt