Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer Gedenksteine in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
(Caluire 1932 – Paris 2024)
die tage werden kürzer
die tage werden kürzer
es ist noch nicht allzulange her
da waren sie lang
und in nicht allzulanger zeit
werden sie kurz sein
jetzt sind sie nicht sehr lang
aber sie sind auch nicht sehr kurz
all das ist nur eine frage
des maßes
aber wie weiß man
daß diese tage lang waren
und daß jene tage
kurz sein werden
man kann sie nicht nebeneinanderlegen
um sie zu vergleichen
um sie zu messen
nimmt man den raum
den raum einer krichturmuhr
den raum einer sonnenuhr
den raum einer sanduhr
und man sieht
daß die tage kürzer werden
da gibt es keine zweifel
sie sind auch blasser
griesgrämiger
naß
traurig
aber vielleicht
sind es nicht die tage die kürzer werden
vielleicht sind nur wir es
die eine dehnbare dauer haben
andererseits muß man sich sagen daß jeden tag
an dem es weniger tag gibt
es mehr nacht gibt
man ein bißchen weniger tag hat
man ein bißchen mehr nacht hat
die summe konstant ist
im grunde
beklagt man sich umsonst
es gibt immer einen ausgleich
Übersetzung: Walter Helmut Fritz (nach der Interlinearversion von Hans Thill)
Aus: Gregor Laschen (Hg.) Der Finger Hölderlins. Poesie aus Frankreich.
Edition »die horen«, Bremerhaven 1996.
»Das Fallen der Blätter wie der Haare ist bei Roubaud gewiß. Jacques Roubaud ist ein Dichter (...), der Vergnügen daran findet, sie zu zählen. Was bei allem Anspruch an den Leser auch die vergleichsweise hohe Popularität Jacques Roubauds ausmacht, ist das Entzücken über seine Fügungen und Findungen, seine Fähigkeit, das Schwere auch wieder leicht und luftig zu machen.«
Ursula Krechel
Jacques Roubaud wurde 1932 in Caluire-et-Cuire bei Lyon geboren und beschäftigte sich früh mit Literatur und Mathematik. Nach ersten surrealistisch inspirierten Jugendgedichten publizierte er 1952 seine Gedichtsammlung Voyage du soir. 1966 trat er der Gruppe Oulipo (Ouvroir de litérature potentielle) bei. Bekanntheit erlangte er vor allem mit dem Roman Die schöne Hortense. Er war Mitbegründer der Zeitschrift Change und schrieb zusammen mit Octavio Paz und anderen das erste europäische mehrsprachige Renga-Gedicht. 2021 erhielt er den Prix Goncourt de la Poésie Robert Sabatier. Jacques Roubaud starb im Dezember 2024 im Alter von 92 Jahren.