Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Péter Kántor
(Budapest 1949 – ebenda 2021)
Was Gott wissen sollte?
Gott sollte wissen, dass ich auf ihn zähle,
dass ich ihn brauche,
dass ich ihm vertraue,
dass er auf mich zählen kann,
dass er mich braucht,
dass er mir vertrauen kann,
dass er sich, egal was kommt,
nicht wie ein Bankdirektor verhalten kann,
oder ein Ministerpräsident, oder eine Schönheitskönigin,
dass ich mich, egal was kommt,
nicht wie ein Bankdirektor verhalten kann,
oder ein Ministerpräsident, oder eine Schönheitskönigin,
dass ich nicht von ihm erwarte, dass er überall staubsaugt,
die Teppiche ausschüttelt, schwimmen geht,
und mit dem Rauchen aufhört,
dass er nicht von mir erwarten kann, dass ich überall staubsauge,
die Teppiche ausschüttle, schwimmen gehe
und mit dem Rauchen aufhöre,
dass er sich vor Augen halten soll, dass Gutes nicht nur aus Gutem entsteht,
er soll nicht versuchen, perfekt zu sein
und er soll von der Welt nicht verlangen, perfekt zu sein,
dass ich mir vor Augen halte, dass Gutes nicht nur aus Gutem entsteht,
und ich will nicht perfekt sein,
und ich verlange auch von der Welt nicht, perfekt zu sein,
aber dass es Grenzen gibt,
es soll nicht glauben, dass ich ihm Dinge durchgehen lasse,
die nicht wieder gutzumachen sind,
dass es Grenzen gibt,
dass ich nicht glaube, dass er mir Dinge durchgehen lässt,
die nicht wieder gutzumachen sind,
und schließlich, dass, wenn auch keiner keinem was,
er mir doch mit Sicherheit
sich selbst schuldet,
und schließlich, dass, wenn auch keiner keinem was,
ich ihm doch mit Sicherheit
mich selbst schulde.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Aus: lyrikline.org
»Ein Raucher, ein Ungar, ein nervöser, oft schlafloser Mann, der gleichzeitig ein Dichter von Flüssen und Bäumen ist – Kántor berücksichtigt, wie er selbst sagt, ›alles‹: die Komödie, die Tragödie, das Pathos, das Bedürfnis nach menschlicher Wärme und Verbundenheit, alle Launen und Grausamkeiten der Geschichte und der Menschen.«
Hungarian Literature Online
Péter Kántor wurde 1949 in Budapest geboren und studierte russische und englische Literatur an der Eötvös Loránd Universität, ehe er 1980 einen zweiten Abschluss in ungarischer Literatur erwarb. Er arbeitete als Lehrer an Gymnasien und als Lektor. Seit den 1970er Jahren veröffentlichte er Gedichte und trat als Übersetzer englischer, amerikanischer und russischer Literatur hervor. Er war Redakteur der Literaturzeitschriften Kortárs und Élet és Irodalom und wurde unter anderem mit dem József-Attila-Preis ausgezeichnet. Péter Kántor starb im Juli 2021 in Budapest.
21.11.2021