Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Tobias Berggren
(Stockholm 1940 – Tyresö 2020)
Johannes Kepler in Tabor
(Auszug)
I (Abend)
Graues Brot
wie aus altem Gipshoch oben in den Fensternischen der Wand, Abendlicht
in flirrenden Regenbogen gebrochen im Dampf
vom Ofen. »Halbviertelgroschen das Brot«, ohne
sich umzuwenden der Bäcker, den langschäftigen Schieber
unablässig in Arbeit. Graues Brot, Roggen vom Vorjahr
Der Sterndeuter an der Tür, abgewandt beim Kramen nach Münzen
die Abendsonne zerschlissen in den Falten des Rocks, Gold in Grün, Duft von Schnee
wie Grünspan, und die Erde gefroren, die Erde hart vor seinem Blick.
Der Fuhrmann am Tisch, unbeobachtet
zwischen Sterndeuter und Bäcker
packt die Magd am Gelenk, derb, zieht sie an sich, ganz
ohne Laut, »Ach nicht!« doch unverwandt und ernst
sieht er sie an, schiebt dabei die Hand zwischen ihren Schenkeln nach oben.
Nicht unsanft, doch unbeirrbar. Der Kater auf der Ofenbank
erhebt sich, buckelt, gähnt, setzt sich und
putzt weggewendet sein Fell. An der Tür der Sterndeuter: »Zwei. Viertelkanne Warmbier
dazu. Wird kälter heut nacht«, sieht
die beiden am Tisch, wo die Wärme abermals
in dieser sublunaren Welt, wo alles unbeständig ist,
unausweichlich die Harmonie des Unerreichbaren
aufzulösen beginnt, sieht den Bäckerrücken
der dumpf in seinen Lebensdunst eingesunken
und eins geworden ist mit seinem Tun, sieht
den Kater der unablässig auf etwas in der Ecke starrt
sieht in der Hand des Fuhrmanns die Münze, sieht die grauen Brote, sieht
durch den schmalen Fensterspalt
den ersten Stern aufleuchten
wie im Himmel also auch auf Erden
Aus dem Schwedischen übersetzt von Anna-Liese Kornitzky, Gunilla Rising Hintz, Klaus-Jürgen Liedtke u. a. Aus: die horen, Heft 135, Bremerhaven 1984
»Seine Poesie kann als ungelenk und schwer empfunden werden, wie wissenschaftlich geformte Instrumente für Felsbohrungen und nicht wie die Requisiten für ein fröhliches Picknick. Das Leichte und Melodische, traditionell stark in der schwedischen Poesie, hier wird ihm eine Abfuhr erteilt.«
Aus der Begründung der Jury Aftonbladets litteraturpris 1973
Tobias Staffan Erik Berggren wurde 1940 in Stockholm geboren und trat seit Ende der sechziger Jahre mit Gedichtbänden an die Öffentlichkeit. Er arbeitete außerdem als Literaturkritiker und Übersetzer, wobei er unter anderem Fernando Pessoa ins Schwedische übertrug. Zu seinen wichtigen Werken zählen Threnos und 24 romantiska etyder, in denen er sich auf musikalische Formen bezieht. Tobias Berggren starb im Juni 2020 in Tyresö (Provinz Stockholm).
14.10.2020