Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer Gedenksteine in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
(Sibiu / Hermannstadt 1944 – Usingen 2025)
Bedrohung
für Werner Söllner
Jetzt da die Heuschrecken kommen und nicht
die Barbaren, auf die wir uns herausreden
wollten, sind wir ziemlich ratlos, denn was machen
wir mit Wesen, die uns nicht ähnlich sind, wissen
sie überhaupt, weshalb sie kommen, was sie von uns
wollen, schätzen sie unsere Frauen, Banken, Gepflogenheiten,
Weine, Autobahnen, kann man denn Heuschrecken
dienen, ihnen Opfer darbringen und wieder
zum Tagegeschäft übergehen, lassen sie sich gebührend
feiern, verehren, können sie im Schlaf sehen, und darf man
ihn stören, wenn Feinde im Anzug sind oder Naturkatastrophen
hereinbrechen, haben sie Sprichwörter, in denen man sich
vernünftig einrichten kann, ist ihre Willkür ihnen heilig, also
berechenbar, haben sie Götter, Ziele, Visionen, kann man
sie gütig stimmen, indem man mit ihnen mitzieht, nach
Osten, nach Westen, oder macht man bei Heuschrecken
alles falsch? Sie sollen, anders als die Barbaren, die einzigen
sein, die ihre jämmerlichen Geschichten für sich behalten
und Würde zeigen, und fortan geschichtslos zu
sein, das macht uns Angst.
Aus: lyrikline
»Der rumäniendeutsche Schriftsteller Franz Hodjak hatte eine mönchische Ernsthaftigkeit, die er mit Sprachwitz konterkarierte.«
Alexandru Bulucz
Franz Hodjak wurde 1944 im rumänischen Hermannstadt geboren und arbeitete zunächst als Lektor im Bukarester Dacia Verlag, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seit den 1970er-Jahren trat er als Lyriker, Erzähler und Übersetzer hervor. In seinen Gedichten setzte er sich oft mit Identität, Herkunft und politischer Enge auseinander. 1992 siedelte er in die Bundesrepublik über und veröffentlichte Gedichtbände wie Landverlust und Ankunft im Konjunktiv beim Suhrkamp Verlag. Er war Stadtschreiber von Dresden und Gastdozent bei der Frankfurter Poetikvorlesung. Franz Hodjak starb im Juli 2025 im Alter von 80 Jahren in Usingen.