Amjad Nasser
(Al-Turra 1955 – London 2019)
Exil
Hast du gesehen?
Wir haben uns nicht sehr verändert,
und vielleicht verändern wir uns nie:
die vollen Laute,
der beduinische Tonfall,
der lange Hals
und die Frage nach den Verwandten und dem Vieh,
gurgelndes Lachen.
Der Geruch alten Brennholzes,
das im Schuppen gestapelt ist,
hängt immer noch in unseren Kleidern.
Hast du gesehen?
Wir haben uns nicht sehr verändert,
und vielleicht veränderten wir uns nie:
das in der Hocke Sitzen,
die Wäsche an den Leinen vorm Haus,
die Kinder voller Staub und Lehm,
der Minztee am Abend,
die erfrischend üble Nachrede,
das mit wenig Zufriedensein,
das Rache Nehmen
und das Blut, das nicht zu Wasser werden will,
all dies, ganz so, als wären wir noch nicht in Mafraq
oder Salt oder in Kerak oder Ramtha.
Als hätten wir die nördlichen Grenzen noch nicht überschritten
in die großen Städte
und an die Küsten,
wo der Krieg tost
wie das Meer
und sich die Fremden gegenseitig am Kragen packen
oder von ihren Balkonen
Kugeln auf die Wäscheleinen feuern.
Beirut, 29.1.1982
Übersetzt von Stefan Weidner. Aus: Stefan Weidner (Hrsg.), Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung. München, C.H. Beck, 2000.
»Man spürt in seiner Sprache eine Energie, die es den Wörtern erlaubt, in Bewegung, unverbraucht zu bleiben.« Adonis
Amjad Nasser wurde 1955 in Al-Turra, Jordanien, geboren und begann früh, Gedichte zu verfassen und publizierte 1979 seinen ersten Gedichtband (Madih li maq'ha akher). Nach einem Studium an der Beirut Arab University arbeitete er als Journalist und Redakteur in palästinensischen und arabischen Medien in Beirat, auf Zypern und in London, wo er seit 1987 lebte. Amjad Nasser verfasste zahlreiche Gedichtbänd sowie lyrische Prosawerke und wurde als einer der ersten zeitgenössischen jordanischen Schriftstellers für seine Lyrik bekannt. Amjad Nasser starb am 31 Oktober 2019 im Alter von 64 Jahren in London.