Derek Walcott
(St. Lucia 1930 – St. Lucia 2017)
Mittsommer VII
Von unseren häusern ist es nur ein schritt in die gosse. Plastikvorhänge
oder billige drucke verdecken das was hinter den fenstern im dunkeln bleibt –
die pedalbetriebene nähmaschine, die photos, die papierrose
am spitzendeckchen. Rote blechdosen, am verandageländer aufgereiht.
Der türsturz ist gerade einmal hoch genug um die menschen durchzulassen
und im gitterwerk der türen selbst, die normalerweise genauso breit
wie särge sind, finden sich manchmal kleine halbmonde eingeschnitzt.
Die hügel haben kein echo. Nicht das echo das ruinen besitzen.
Das unbebaute land nickt mit dem palankin seines grüns.
Jeder riß im gehsteig hat seinen ursprung in den verwerfungen
der ersten karte der welt, ihren grenzen und mächten.
Neben einem haufen rotem sand, übrig gebliebenem kies voller unkraut
auf einem ausgebrannten grundstück, stellt der dschungel aufs neue
die grünen elefantenohren wilder jamswurzeln und kolokasien auf.
Ein schritt über die niedere mauer, nimmt man sie im lauf
bringt eine kindheit zurück und ihre kletten schlingen sich um den fuß.
Und dies ist das terrain für jeden reisenden, dies ist sein los
daß je weiter er geht, die welt nur um so weiter wird.
Gleich wo man überall herumgekommen ist, jeder schritt hinterläßt
bloß weitere stapfen bis man sich in einem labyrinth verirrt –
warum solltest du sonst auf einmal an Tomas Venclova denken
und weshalb es mir etwas ausmachen was sie Heberto angetan haben
wenn exilanten sich ihre eigene karte zeichnen müssen, dieser asphalt
dich vom eigentlichen geschehen entfernt, an hecken vorbei
die mit ihren blumen nie irgendeiner linie treu geblieben sind.
Aus: Derek Walcott: Mittsommer / Midsummer. Zweisprachige Ausgabe.
Aus dem karibischen Englisch übersetzt von Raoul Schrott.
München, Wien: Carl Hanser Verlag 2001 [Edition Akzente]
Quelle: Lyrikline
»Wie jener Maler, der er selber gern geworden wäre, skizzierte er in seinen Versen die Dörfer der Insel, mit ihrem Rost und den ›Ockerstraßen‹, mit Krebsen und verbrannten Bananenblättern. Zugleich aber reicherte er sie mit der Sinnlichkeit seiner Sprache an ...«
Nico Bleutge
Derek Walcott wurde 1930 in Castries, St. Lucia (Karibik), geboren und war ein lucianisch-britischer Schriftsteller. Bereits als Jugendlicher veröffentlichte er Gedichte. Er studierte an der University of the West Indies in Kingston und lehrte später in den USA an der Boston University, wo er auch das Boston Playwrights' Theatre gründete. Mit Gedichtbänden wie In a Green Night (Poems 1948–1960), Tiepolo's Hound und The Prodigal (Der verlorene Sohn, Hanser 2007) fand er weltweit Anerkennung und erhielt 1992 den Nobelpreis für Literatur. Derek Walcott starb im März 2017 in seiner Heimat St. Lucia.