Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Edoardo Sanguineti
(Genua 1930 – Genua 2010)
Radiosonett
mein Buch bist du bist, meine alte Liebe:
ich habe dir die Wirbel gelesen, die Haut
deiner Handgelenke: habe auch das Geräusch
deines Gähnens übersetzt: in deine Achselhöhlen
habe ich mein Tagebuch geritzt: die Wärme
deines Bauchnabels ist dein Glossar: in den
Holzschnitten deiner Falten steckt das Herz
deiner allzu vielen Alphabete: den Brustwarzen
deiner kurzen Kapitel habe ich meine Bibel
anvertraut, meine pathetischen Widmungen:
mein einziges Sonett habe ich jetzt von deinem Hals
abgeschrieben: und habe deine Vagina
entziffert, deine hermetischen Schlagadern,
deine Zeigefinger, und deine Galle, und deinen Atem:
Übersetzt von Stefanie Golisch.
»Die Ablehnung des Stils hat eine doppelte Bedeutung. Zum Einen als Ablehnung eines stilistischen Gefängnisses, zum Anderen als Absage an die Höflichkeit, als Ausdruck des Wunsches, eine konstante Härte des Diskurses zu erzeugen.«
Edoardo Sanguineti
Edoardo Sanguineti wurde am 9. Dezember 1930 in Genua geboren und starb am 18. Mai 2010 ebendort.
Er studierte Literatur und arbeitete später als Professor in Genua. In den 1960er Jahren wurde er zu einem der wichtigsten Vertreter und Theoretiker der Künstlervereinigung Gruppo 63. Neben Gedichten publizierte er literaturkritische Beiträge sowie Texte fürs Theater. Mehrere Jahre war er zudem Mitarbeiter der kommunistischen Tageszeitung L'Unità .
20.05.2010