Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Elisabeth Borchers
(Homberg 1926 – Frankfurt/Main 2013)
Zeit. Zeit
Ich muß endlich begreifen
daß ich Zeit habe.
Zeit für den Vogel auf der Brüstung
der mit mir redet, im Auftrag.
Zeit für den Lampenfuß
in dem sich das Erdenlicht spiegelt.
Zeit für die Katze auf blauem Samt
in kleinstem Format an der Wand
von Almut gemalt, als beide noch lebten.
Auch für das Schaf mit den schwarzen Ohren
den schielenden Augen, dem schiefen Maul und dem
durstigen Mund. Indianisch, ganz einfach, instruktiv.
Vermissen werde ich's im kommenden Jahrhundert.
Ich habe noch nicht ein stillschweigendes Wort
mit der getrockneten Rose gewechselt, woher und wohin denn.
Und das Kalenderbuch in schwarzem Leder
mit der goldenen Jahreszahl
klafft elegant auseinander, um mich ein- und auszulassen.
Lernen, Zeit zu haben.
Lernen, daß es zu spät ist.
Aus: Zeit. Zeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
»Von allen Dichterinnen ist Elisabeth Borchers die spektakulär
Unspektakulärste.« Arnold Stadler
Elisabeth Borchers, geboren 1926 in Homberg am Niederrhein, lebte nach 1945 in Frankreich und den USA und seit 1971 in Frankfurt am Main. Neben ihrer Arbeit als Autorin und Herausgeberin war sie als Lektorin bei Luchterhand und später bei Suhrkamp tätig. Für ihre Lyrik erhielt sie unter anderem den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und den Horst-Bienek-Preis. Sie veröffentlichte Erzählungen und Kinderbücher sowie viel beachtete Gedichtbände, darunter zuletzt den Sammelband. „Alles redet, schweigt und ruft“ (2001) und den Band „Zeit. Zeit“ (2006).
26.10.2013