Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Ernesto Cardenal
(Granada / Nicaragua 1925 – Managua 2020)
Notizen
I
Es wird Tag
Der See grau mit kleinen Wellen
Drei Inseln
– gegenüber –
verschwommen durch den Regen:
grau die hintere
grüngrau die mittlere
zartgrün die vordere
Ein großer weißer Reiher fliegt langsam
Mehrere schwarze Vögel ziehen schnell vorbei
II
Die rosa-weiß-gelben Wolken
(nur ein bisschen verschwommener
als die darüber)
im Spiegelglas des Sees
III
Die Ruhe dieses Sees
silbern und blau
eher silbern als blau
Die Vulkane in der Ferne zartblau
Oben wie verschneite Gipfel
oder Rasierschaum
ihr Widerschein im See
das was ihn silbern aussehen lässt
Übersetzt von Lutz Kliche. Aus: Etwas, das im Himmel wohnt. Peter Hammer Verlag,
Wuppertal 2014
»... ein katholischer Priester, der ganz von dieser Welt war, ein Mönch, der ausführlich von seinen Liebesgeschichten erzählte, ein Minister, der vor dem Papst kniete und vor laufender Kamera von ihm gemaßregelt wurde, einer der populärsten Dichter des 20. Jahrhunderts und fast ein Gleichnis für das anhaltende Unglück Lateinamerikas.«
Willi Winkler
Ernesto Cardenal Martínez wurde 1925 in Granada, Nicaragua, geboren und gilt als einer der bedeutendsten Dichter Nicaraguas. Zunächst studierte er Philosophie und Literaturwissenschaft in Mexiko, anschließend in New York. Nach Reisen durch Europa absolvierte er ein Theologie-Studium in Mexiko sowie später in Medellín (Kolumbien) und wurde 1965 zum Priester geweiht. Bereits als Student begann er mit dem Schreiben und stand dem Lyrikkreis von Coronel Urtecho und Martinez Rivas nahe. Seine Psalmen (Salmos, 1969) wurden in 20 Sprachen übersetzt. Er erhielt unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und war 2005 für den Literaturnobelpreis nominiert. Ernesto Cardenal starb im März 2020 in Managua.
13.08.2020