Ferreira Gullar
(São Luís 1930 – Rio de Janeiro 2016)
Aus: Schmutziges Gedicht
...
Mein Körper
den ich im Bett liegen sehe
wie einen Gegenstand im Raum
der 1,70 m mißt
und der ich bin: dieses
liegende Ding
Bauch Beine und Füße
mit fünf Zehen jeder (warum
nicht sechs?)
Knie und Knöchel
um sich zu bewegen
sich zu setzen
sich zu erheben
mein Körper von 1,70 m der meine Größe in der Welt ist
mein Körper gemacht aus Wasser
und Asche
der mich aufblicken läßt zu Andromeda, Sirius, Merkur
und mir das Gefühl des Vermischtseins gibt
mit all der Masse von Wasserstoff und Helium
die sich zersetzt und wieder zusammensetzt
ohne zu wissen wozu
Körper mein Körper Körper
der so eine Nase hat einen Mund
zwei Augen
und eine gewisse Art zu lächeln
zu sprechen
die meine Mutter als Eigenart ihres Sohnes erkennt
die mein Sohn als Eigenart
seines Vaters erkennt
Körper der wenn er zu funktionieren aufhört
ein schwerwiegendes Familienereignis auslöst:
ohne ihn gibt es keinen José Ribamar Ferreira
gibt es keinen Ferreira Gullar
und viele kleine auf dem Planeten geschehene Dinge
werden für immer vergessen sein
Körper-Fackel
Körper-Irrlicht
Körper-Faktum
durchdrungen von Hühnerstall- und Mäuselochgerüchen
im Krämerladen
...
Aus: Schmutziges Gedicht / Poema Sujo. Übertragung von Curt Meyer-Clason.
Suhrkamp, Frankfurt 1985
»Ferreira Gullar hat es auf bewunderungswürdige Weise verstanden, mit seinem tragisch-subversiven Lyrismus einerseits einen Ästhetizismus zu vermeiden, der den sozialen Problemen des Elends, der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit gleichgültig gegenüberstünde, ohne andererseits die schöpferische Freiheit, und das heißt seine Poetik, dem Kanon des proletarischen Akademismus, dem offiziellen Dogmatismus des sozialen Realismus unterzuordnen.«
Curt Meyer-Clason
Ferreira Gullar (Pseudonym für José Ribamar Ferreira) wurde 1930 in São Luís, Brasilien, geboren und lebte lange in Rio de Janeiro. 1964 trat er der brasilianischen kommunistischen Partei bei und wurde im Jahr 1968 aus politischen Gründen verhaftet. Mehrere Jahre lebte er in Chile, Peru und Argentinien im Exil, ehe er 1977 nach Brasilien zurückkehren konnte. Er wirkte als Schriftsteller, als Kunstkritiker, Übersetzer, Biograph und Essayist und gehörte zu den renommiertesten zeitgenössischen Dichtern Brasiliens. Auf Deutsch erschienen mehrere Gedichtbände, so unter anderem Faule Bananen und andere Gedichte (Vervuert, 1986) und Der grüne Glanz der Tage (Piper, 1991). Ferreira Gullar starb 2016 in Rio de Janeiro.