Jonas Mekas
(Semeniškiai/Litauen 1922 – New York 2019)
Die Züge auf den Feldern im Herbst
Es fahren und fahren die Züge
durch Tausende von Feldern, durch herbstliche Dörfer,
wie schwere Kühe, die sich mit prallen Eutern von den Weiden schleppen,
wanken Waggons, mit Heu beladen,
mit krächzenden Kohlköpfen,
mit Kisten voller Obst.
Noch brummen in den Dörfern die Maschinen,
noch tönen die Lieder der betrunkenen Drescher,
und die Bauern greifen in die weißen Säcke
und schauen beim Verfall des gelben Weizens zu,
und Staubwolken hüllen die Köpfe der Scheunen ein,
aufgewirbelt von riesigen Diemen,
die Männer binden in den Höfen
das Stroh zu großen dicken Ballen,
die sie durch hohe, offne Scheunentore ziehen,
wo oben auf den Hafertennen die Frauen
mit schweißgetränkten Haaren und zerkratzten Armen
den Staub und den Geruch von Ackersenf einsaugen –
und ölverschmiert und übernächtigt döst
der Maschinist auf einem Haufen Stroh,
betrachtet die Hirten, die neugierig zuschaun,
und das bebende Motorgestänge, und in den Dörfern
und den weit verstreuten Gehöften
ist zu hören, wie bis in die tiefe Nacht
auf den herbstlich leeren, weiten Feldern
die Maschinen brummen –
wie sie vor gewaltigen Haufen Hafer und Gerste
um einen großen Holztisch sitzen
und singen, trunken von Bier und Staub –
und wie sie dann, aus voller Kehle schreiend, Arm in Arm
durch die leeren herbstlichen Felder streifen,
und nur die rote, verstaubte Dreschmaschine,
nur die geöffneten Scheunentore
und die riesigen Diemen stehen noch in den Höfen –
und nur durch die nassen herbstlichen Felder,
durch die versilberten, einsamen Dörfer
fahren noch immer pfeifend die Züge, voll und schwer,
und nur im schwarzen Fenster der Dampflok,
über leeren Feldern, verstreuten Gehöften
singt, ruß- und ölverschmiert der Maschinist.
Übersetzt von Claudia Sinnig. Aus: Schreibheft 75. Rigodon, Essen 2010.
»Die ersten Idyllen habe ich 1947 in Deutschland geschrieben, in Kassel. Mir war allzu schwer ums Herz. Ich lief durch die Felder von Kassel, doch ich hatte nur die Felder von Semeniskiai vor Augen..« Jonas Mekas
Jonas Mekas wurde 1922 in Semeniškiai, Litauen, geboren und wuchs in einer evangelisch-reformierten Familie auf. 1944 wurde er für mehrere Monate von den Nationalsozialisten in ein Arbeitslager gesperrt. Von 1946 bis 1948 studierte er in Mainz Philosophie und wanderte 1949 in die USA aus, wo er zu filmen begann und sich späterhin zu einer der Schlüsselfiguren des New American Cinemas entwickelte. Er arbeitete mit Künstlern wie Andy Warhol, Nico (Christa Päffgen), Yoko Ono, John Lennon und Salvador Dalí zusammen. Zu seinen dichterischen Arbeiten gehören unter anderem die Zyklen Die Semeniškiai-Idyllen und Reminiszenzen (Matto Verlag, deutsch, litauisch). Jonas Mekas starb am 23. Januar 2019 in New York.