Kito Lorenc
(Slepo 1938 – Wuischke 2017)
Aus dem Stegreif
Die Eisenbahn muß da vorbeigehn
und der Wind muß um das Haus gehn
und hinter dem Schuppen an dem Haus
zwischen der Wand da und dem Bretterzaun
in dem langen Gang auf der Regenrinne
müssen Kurbelwellen liegen Zahnräder
und Schrauben und Schrauben
und alle die da lebten als sie da lebten
und es ihnen gefiel daß sie da lebten
müssen da sein und es muß
Weihnachten Geburtstag Ostern Pfingsten
Erster Ferientag Besuch da sein
und ein grundloser Bücherschrank muß da sein
und eine Truhe mit unleserlichen Papieren
und ein verbotenes Zimmer
und eine schwarze Küche
und eine versteckte Durchreiche
und ein Vorhang mit Paradiesvögeln und einem Lebensbaum
und ein Bild mit einem Fest im Freien
oben links in das von unten rechts
ein Bote eine schlimme Nachricht bringt
Ich soll nicht beißen und spucken
Ich soll 1 000mal nicht beißen und spucken
Ich soll Ich soll nicht beißen und spucken
1 000mal im ganzen Satz schreiben und nicht 1 000mal
Ich Ich
soll soll
nicht nicht
beißen beißen
und und
spucken spucken
Die Mundart: egal
Die Gegend: zur Not
Aber die Eisenbahn muß da vorbeigehn
und der Wind muß um das Haus gehn
und und
Aus: Michael Braun, Hans Thill (Hg.), Punktzeit. Deutschsprachige Lyrik der 80er Jahre.
Heidelberg, Wunderhorn 1987.
»Die Verkettung von Wortassoziationen und das erheiternde Spiel mit Redensarten führt Lorenc ad absurdum, sie sind Wahrzeichen seiner Dichtung geworden, die jenseits jeder Larmoyanz Wirklichkeiten durch Sprache zu relativieren versucht.«
Ewout van der Knaap
Kito Lorenc, geboren 1938 in Schleife (Slepo) bei Weißwasser, studierte nach dem Besuch der Cottbuser sorbischen Internatsoberschule Slawistik in Leipzig. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler und Dramaturg in Bautzen und lebte von 1979 bis zu seinem Tod im September 2017 als Autor in Wuischke bei Hochkirch. Er war Träger zahlreicher literarischer Auszeichnungen (zuletzt Petrarca-Preis und Christian-Wagner-Preis) und Ehrendoktor der TU Dresden. Neben einer Reihe sorbischer und deutscher Gedichtbände (u.a. Gedichte, Suhrkamp 2013) verfasste er Theaterstücke sowie Kurzprosa. Sein letztes Werk erschien im poetenladen Verlag: Windei in der Wasserhose des Eisheiligen (Reihe Neue Lyrik 2015).