Liu Xiaobo
(Changchun 1955 – Shenyang 2017)
Meine Liebe, es ist Zeit, aufzustehen.
Die Brücke in Richtung Abgrund stürzt ein.
Wenn du platzt, beiß dich fest an meinem Willen.
Zweifel beginnt mit dem Stein des Sisyphos.
Glaube fängt an mit dem Hausschlüssel, den du verloren hast.
All meine Panik und meinen Hass
geb ich dir, dir allein.
So kann ich noch einmal,
ganz kostbar,
meinen Kopf hoch halten
bis zur dunkelsten Stunde.
Deutsch von Martin Winter. Aus: FAZ vom 14.7.2017.
»Er argumentiert als ein der Moderne verpflichteter Kritiker einer maroden Gesellschaft, verachtet den alten wie den neuen Konfuzianismus, geißelt das ›Geschwafel‹ Mao Zedongs und die ›nationale Katastrophe‹ der Kulturrevolution ebenso wie die Sexbesessenheit und die ›Kommerzkultur‹ der neuen prosperierenden Klasse.«
Herbert Wiesner
Liu Xiaobo wurde 1955 in Changchun (China) geboren und studierte Literatur an der Jilin-Universität und an der Universität Peking. Er beteiligte sich Anfang der neunziger Jahre an der Demokratiebewegung und wurde wiederholt inhaftiert und unter Hausarrest gestellt, unter anderem weil man in ihm einen der Hauptverantwortlichen für die Charta 08 sah. Im Jahr 2009 wurde er zu elf Jahren Haft verurteilt und erhielt 2010 den Herman-Kesten-Preis für besondere Verdienste um verfolgte Autoren und den Friedensnobelpreis. Auf Deutsch erschien der Band Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass (Ausgewählte Schriften u. Gedichte. S. Fischer, 2011). In Haft starb Liu Xiabo im Juli 2017 im Alter von 61 in Shenyang an einer Krebserkrankung.