Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Natalja Gorbanewskaja
(Moskau 1936 – Paris 2013))
La vie quotidienne? Da, schau:
Schmutzig das Metro-Tunell,
die Blicke verschlafen, grau,
der Tag schreit auf, wird hell,
steigt dann hinauf zum Zenit;
die Augen durchschneidet er,
er packt dich, dreht sich, glüht,
wendet sich hin und her;
zum Westen trollt er sich,
er macht es nicht mehr lang,
aus Fenstern fällt schon Licht –
Sonnenuntergang.
Der Brücken Nachtgestalt,
Am Mund Zigarettenrauch,
Umarmung: ebenso kalt
Wie der Bänke granitener Hauch.
Aus dem Russischen übersetzt von Kay Borowsky. Aus: Russische Lyrik im 20. Jahrhundert, Heliopolis, Tübingen 1991.
»Bei allem Pathos war ihre Stimme von Anfang an nicht geschaffen für das Luschniki Stadion oder gar für die Seiten der sowjetischen Zeitungen, sondern für einen kleinen Kreis Gleichgesinnter, und das waren damals die Besten unseres Volkes.« Juri Kublanowski
Natalja Jewgenjewna Gorbanewskaja wurde 1936 in Moskau geboren und starb am 29. November 2013 in Paris. Nach ihrem Studium an der Leningrader Universität war sie in Moskau als Bibliothekarin und Übersetzerin tätig und gründete die Samisdat-Zeitschrift Chronika tekuschtschich sobytij (Chronik der laufenden Ereignisse). Die Menschenrechtlerin gehörte der russischen Dissidentenbewegung an und wurde Anfang der siebziger Jahre in einer psychiatrischen Klinik zwangsbehandelt.1975 emigrierte sie nach Frankreich. Natalja Jewgenjewna Gorbanewskaja verfasste rund 15 Lyrik-Bände, darunter Tri tetradi stichotworenij (Drei Hefte mit Gedichten) und Proletaja sneshnuju granizu (Die Schneegrenze überfliegend).
(Dank an Olga Martynova)
Druckansicht 01.05.2014