Paulus Böhmer
(Berlin 1936 – Frankfurt am Main 2018)
Wasserkopf oder: Rachitis, Rommel, Rhizinus
Als ich noch Kind war
eine unstete Erscheinung der Blenden, der Augenglaukome,
ein Wasserkopf, schmalbrüstig, puppig,
in tiefer Ofleidener-Nacht,
rückten nach Einbruch der Dunkelheit die großen Bäume auf mich zu
und schlugen über mir zusammen, lagen unter Stroh und Wolle
die Körper der Alten und ich konnte nicht glauben, daß einmal
irgendjemand ihre Seelen stürmisch und ungestüm empfangen würde,
durchstreiften Katzen die Wildnis, ballte sich
in Sielhäuten aus Fett und Fäkalien
ein Anderes meiner Selbst,
eine ungeheuerliche Masse.
Vom Spiel der Hände, die wie Insekten aufflogen, sich abrupt
wieder niederließen, ging ein Grauen, eine Besessenheit aus,
eine vage, unsagbare Angst,
als ich noch ein Kind war und träumte,
daß ich noch ein Kind war und daß eine Frau,
die neben dem Bett stand und die ich nicht kannte,
wieder und wieder hinausging, um den Hund zu beruhigen, jedesmal
mit einer Bißwunde zurückkam, jedesmal.
Im Keller, in den Kaninchenställen, hinter den Briketts,
hielt Vater sich nach dem Krieg versteckt, manchmal
schlich er hinaus und hörte Schallplatten im nahen
Basaltbruch. Vollkommen lautlos, vollgesogen
mit Schamgries, Schammes, Sudel, dem Jauche-Tief
der belgischen Riesen überstand er die Patrouillen
der Amis. Zur Mitternacht weinte die Mutter.
Engel erhoben sich, flogen schwer, schwer mit Bomben beladen,
über die Oberfläche des Wassers davon – aus welchem
Davor?
...
Aus: Zum Wasser will alles Wasser will weg. Peter Engstler, Ostheim 2014.
»Feierlich und spielerisch mischt Böhmer unaufhörlich Welten, Welt und Erde, das Sublime und die Schönheit, Wildnis und Zivilisation: seine Lyrik lebt von einer konsequent durchgeführten discordia concors. Den Gedichten sie man dies auch gleich an: Weit ausladend, sind sie doch zentral ausgerichtet.«
Lucas Hüsgen
Paulus Böhmer wurde 1936 in Berlin geboren und studierte mehrere Semester Rechtswissenschaft sowie Architektur und Literatur, ehe er eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolvierte. Von 1985 bis 2001 war er Leiter des damaligen Hessischen Literaturbüros in Frankfurt. Paulus Böhmer gilt als Vertreter des rhythmisch-epischen Langgedichts und publizierte zuletzt vorwiegend im Verlag Engstler. Für den dort erschienenen Lyrikband Zum Wasser will alles Wasser will weg erhielt er den Peter-Huchel-Preis 2015. Paulus Böhmer starb am 5. Dezember 2018 mit 82 Jahren in Frankfurt am Main.