Philip Levine
(Detroit 1928 – New York 2015)
M. Degas lehrt Kunstwissenschaft an der
Durfee Intermediate School – Detroit 1942
Er zeichnete eine Linie an die Tafel,
kühn geschwungen von rechts nach links
schräg unten und trat einen Schritt zurück
und wie immer sah er niemand besonderes an
als er fragte „Was habe ich getan?“
Von hinten aus dem Saal schrie
Freddie, „Sie haben ein Stück Kreide
zerbrochen.“ M. Degas lächelte nicht.
„Was habe ich getan?“ wiederholte er.
Die intellektuellsten Studenten
blickten nach unten um ihr Pult zu studieren
mit Ausnahme von Gertrude Bimmler, die aufzeigte,
bevor sie sagte. „M. Degas,
Sie haben die Hypotenuse
eines gleichschenkligen Dreiecks konstruiert.“
Degas schaute nachdenklich.
Jeder wusste, dass Gertrude sicher
recht hatte. „Durchaus möglich“,
präzisierte Louis Warshowsky,
„dass Sie begonnen haben, das Dach
einer Scheune darzustellen.“ Ich erinnere mich,
daß es genau 20 Minuten nach elf war,
und ich dachte, im schlimmsten Fall
würde es noch vierzig Minuten so
weitergehen. Wir hatten Anfang April,
der Schnee war fast geschmolzen auf
den Spielplätzen, Ulmen und Ahornbäume
säumten die rissigen Spazierwege, zitterten
im neuen Wind, und ich glaubte bereits,
bevor ich es wusste, dass ich gleich zum
Süßwarenladen stolzieren würde, ein
Milky Way holen. M. Degas
schürzte die Lippen, und der Saal
schwieg, bis die lange Hand
der Uhr auf einundzwanzig rutschte
gleichsam verschworen mit Gertrude,
die selbstbewusst hinzufügte: „Sie haben begonnen
Finsternis von der Finsternis zu trennen.“
Ich blickte hilfesuchend zurück, aber jetzt
bockten die Bäume und bebten, und ich
wusste, dies konnte noch ewig so weitergehen.
Aus: Poemhunter. Deutsch von Hans Thill.