Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Richard Anders
(Ortelsburg/Polen 1928 – Berlin 2012)
Schnecke
Du drehst den Kopf zurück, bis die Halsmuskeln schmerzen, und erkennst auf deinem Rücken das phantastische, an Moscheen und Zwiebeltürme erinnernde Gehäuse, das dir wie ein Maßanzug paßt. Es ist linksgewunden, also kostbar, ein Objekt für Sammler. Diese Entdeckung macht dir Angst, vom Fuß Gottes oder eines seiner Ebenbilder zertreten zu werden. Ach, wäre dir der Rückblick doch erpart geblieben! Dann hättest du dich weiter für IHN oder seinesgleichen gehalten. Angstfrei kriechend, ein Hieronymus ohne Gehäuse, hättest du in deinem Kopf auf großem Fuß gelebt.
Aus: Verscherzte Trümpfe. Berlin Galrev 1993
»In schier endlosen Folgen entwickelt Anders rhythmisch wiederkehrende Bilder, die sich, versucht man ein Ende zu greifen, wie der Faden eines Gewebes zurückziehen, bis keine einzige Schlinge mehr vom Ganzen übrigbleibt und nur noch ein Anfang in der Hand liegt.« Cornelia Jentzsch
Richard Anders wurde 1927 in Ortelsburg/Szczytno geboren und war nach seinem Studium unter anderem als Deutschlehrer und Archivlektor tätig. Als Autor beschäftigte er sich mit dem französischen Surrealismus, vor allem mit André Breton, den er in Paris traf. Er verfasste Lyrik, Essays, Erzählungen und Romane und wurde mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis und dem F.-C.-Weiskopf-Preis der Akademie der Künste ausgezeichnet. Am 24. Juni 2012 starb Richard Anders mit 84 Jahren in Berlin.
05.07.2012