Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Tadeusz Rózewicz
(Radomsko 1921 – Breslau 2014)
Wer ist ein Dichter
Ein dichter ist wer gedichte schreibt
und wer keine gedichte schreibt
ein dichter ist wer fesseln zerreißt
und wer sich fesseln anlegt
ein dichter ist wer glaubt
und wer nicht glauben kann
ein dichter ist wer log
und wer belogen wurde
wer fiel
und sich erhebt
ein dichter ist wer fortgeht
und wer nicht fortgehen kann
Nichts in Prosperos Mantel, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1962. Aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius.
»Rózewicz' Bedeutung für die polnische Nachkriegslyrik bleibt unbestritten. Er hat aus den Trümmern Reste moralischer Werte hinübergerettet ins Wort – damit dem Buchstaben wieder Würde verliehen. Er hat aus der Sprach-Wirrnis den einfachsten unbequemsten Weg gewiesen: den Weg des Gewissens. Er hat die Tümpel entsumpft und die Fundamente gelegt, damit der Turmbau von Babel immer wieder aufs neue unternommen werde.« Karl Dedecius
Tadeusz Rózewicz wurde 1921 bei Tschenstochau (Polen) geboren. Während des zweiten Weltkriegs beteiligte er sich am Widerstand und war Redakteur der Untergrundzeitschrift Czyn zbrojny. Er studierte Kunstgeschichte in Krakau und veröffentlichte 1947 den Gedichtband Niepokój (Unruhe). Sein Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Rozewicz wurde unter anderem mit dem Samuel-Bogumil-Linde-Preis der Städte Göttingen und Thorn für Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschland und Polen ausgezeichnet. Tadeusz Rozewicz starb am 24. April 2014 mit 92 Jahren in seinem Wohnort Wroclaw.
Druckansicht 04.06.2014