Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
W. S. Merwin
(New York 1927 – Maui/Hawaii 2019)
Nach den Alphabeten
Ich versuche die Sprache der Insekten zu entziffern
es sind die künftigen Zungen
ihr Vokabular beschreibt Gebäude als Nahrung
sie können lernen vom dunklen Wasser und den Venen der Bäume
sie können was sie nicht wissen und
was man weiss auf Entfernungen übertragen
und was niemand weiss
sie haben die Fähigkeit mit den Beinen Musik zu machen
sie können wieder und wieder erzählen und dabei in einen todesartigen Schlaf verfallen
sie können mit den Flügeln singen
als Sprecher sind sie ihre eigene Bedeutung in einer Grammatik ohne Horizont
sie sind absolut beredt
sie sind nie wichtig sie sind alles.
Übersetzt von Hans Thill. Aus: The Rain in the Trees. Knopf, New York 1988.
»Als überzeugter, wenn auch nicht gerade simpel gestrickter Antihermetiker sieht Merwin Werk so sehr als Verständigungsanstrengung, dass es ihn ins Übersetzen ziehen musste ...« Dietmar Dath
William Stanley Merwin wurde 1927 in New York City geboren und studierte Literatur und Romanistik an der Princeton University. Nach dem Studium bereiste er mehrere Länder Europas und arbeitete als Übersetzer. 1952 publizierte er sein Debüt als Dichter. Nach 1960 begann er mit lyrischen Formen zu experimentieren und veröffentliche in den Folgejahren zahlreiche Gedichtbände, für die er unter anderem zweimal mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde (für The Carrier of Ladders im Jahr 197 sowie für The Shadow of Sirius im Jahr 2009). Die letzten Jahre verbrachter er auf Hawaii (Maui), wo er am 15. März 2019 starb.