poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 8

Der Übermenschen letzter Wille



Erinnerungen an ein Leipziger Seminar. Die Definitionen, was Philo­sophie sei, soll­ten gezählt werden. Beim vollen zweiten Dut­zend hörte man auf. Ein Ironiker schlug am Ende Weisheits­lehre vor, was ver­le­genes Gelächter auslöste, denn davon war man ja ausge­gangen. Wer keinen ins akade­mische Kauder­welsch rei­chen­den Mara­thon­lauf beab­sich­tigt, ist mit Weis­heits­lehre gut beraten. Was aber, fragt ein Skep­tiker, ist Weisheit, wenn sie nicht das Wesent­liche an­zielt? Die her­unter­gekom­mene Poli­tik, deren wir tagtäglich teil­haftig werden, folgt Nietzsches Zara­thus­tra:»Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Über­mensch lebe dies unser letz­ter Wille!« Die Herren der Welt des 20. und 21. Jahr­hun­derts er­nennen sich, ihre toten Götter be­schwö­rend, zu Über­menschen. Die Ber­liner Republik ist schon weiter. Ihre Götter werden verjagt, es herrscht eine Über­men­schin, vordem FDJ, her­nach CDU mit SPD-Spuren. Ist Ange­la also, wie alle Welt, inklusive Obama behaup­tet, die mäch­tigste Frau der Welt, die femi­nine Vari­an­te von Nietzsches Über­men­schen, die ihre alten (CDU-)Götter, wo nicht tötet, so doch ins Wirtschafts­leben abschiebt, wo die eins­tigen CDU/CSU/SPD-Gott­heiten als Gold­schür­fer reüs­sie­ren können, solange sie politisch fein die Klap­pe halten. Dazu fällt mir doch unab­weisbar ein schöner Marx-Satz ein. »Wir unsere Hirten an der Spitze, befanden uns nur einmal in Gesellschaft der Frei­heit, am Tage ihrer Be­er­digung.« (Quelle: Die heilige Familie) Welch passendes Stich­wort.

 

Karl Marx, Friedrich Engels
Die heilige Familie
oder Kritik der kritischen Kritik



In der Antike bildeten die Götter eine un­heilige Familie aus Kriegern, Säufern, Lüg­nern, Tot­schlägern, Schändern von Frauen und Kindern, also dachte Nietzsche sich als Folge von Gottes Tod eine neue heilige Familie gött­licher Über­menschen aus. Wer unser Zeitalter durch das mediale Prisma be­obachtet, der begreift Nietzsches Sehn­sucht nach Rück­kehr ins alte Barba­rentum der blonden Bestien. Merkel aller­dings erinnert weniger an die Antike als an Brunhilde auf dem Wege nach Richard Wagners Bay­reuth. Soviel zur Er­neue­rung der hei­ligen Familie, deren Heilig­keit dem Kampf ums Kapital entstammt. Wer es schon besitzt, der will mehr davon. Marx dekon­struierte es wie einst ein gewisser Herr Jesus, der seiner An­hänger­schaft die Wahl zwischen Revolte (Kreuz) und Glaube (Kirchen­staat) ließ. Seit Marx heißt das Revolution, also Nieder­lage. Nietzsche flüchtete davor in die Ausrede von der ewigen Wieder­kehr des Gleichen. Ein träger Refor­mist mit hohen Tönen. Marx hielt mit der Diktatur des Prole­ta­riats dagegen. Trotzki konsta­tierte Sta­lins Dik­tatur ü b e r das Prole­tariat. Bloch feierte den auf­rech­ten Gang, weg vom Tier­reich – eine Philosophie, die aufs Wesent­liche geht, indem sie sich von der Skla­ven­sprache zur Revolte steigert. Falls der aufrechte Gang nicht zum auf­rechten Untergang missrät. Das Rezept, die masku­linen Über­menschen losz­ukriegen ist bekannt, seit die letzte regie­rende Über­menschin es erfolg­reich prakti­zierte, alles im christ­lichen Rahmen selbst­verständ­lich. Deutschland, dieser per­manente Herren­witz, entwickelt sich im letzten Stadium zielstrebig über die Damen­wahl zum unver­muteten Damenwitz.
  Im auf­gezwun­genen Kampf ums Dabeisein machen die im Schlaf überraschten Parteien Zirkus, eine immer hekti­scher als die andere. Die SPD versucht sich als Löwen­bändiger, schwingt graziös die Peitsche und wird ge­fressen. Als un­ver­daulich ausge­spuckt gibt sie den Futter­meister und darf den Löwen am Schwanz ziehen. Aus Dank­bar­keit füllt sie die Fress­tröge mit den klein­gehackten Schwestern und Brüdern vom linken Rand, die noch aus dem Raubtier­maul heraus nach Revolution rufen. Unser Zirkus bietet auch eine rechte Manege, wo die Luft­nummern statt­finden. Seit dem Massaker an einer Schar konser­vativer Christ­herren schwingt Angela sich unnah­bar als Herrin der Lüfte von Seil zu Seil, eine Artistin auf der Schaukel in der Zirkus­kuppel. Ringsum applau­diert das intern­ationale Publikum. Tief unten reißen die lauernden Löwen das Maul weit auf. Es sind eben Raub­tiere. Weil also unsere Welt zum Staats­panop­tikum mutiert, ist sie nur noch in der Comic-Dimension darstellbar, streng nach der Ästhetik des Aristoteles in der Einheit von Ort, Zeit und Personen, ergo die Wiederkehr National­deutsch­lands als globaler Füh­rungs­macht.
  Angel­angt beim Über­men­schen-Kabinett sehen wir es mal so: Nietzsches Werk besteht aus dem Wunder zweier ungleich­gewich­tiger Hälften. Die erste ist mehr Philologie und Psychologie als Philosophie, als welche aber die Hälfte insgesamt gilt. Der zweite Bestandteil ist das Zarathustra-Buch samt verstreuter Vor­arbeiten. Das Sprach­werk kann als Philo­sophie und als Kunstwerk – Kunst­stück – gelesen werden. Oder als Sprach-Oper im Wagnerschen Sinne, ihm zugleich kontrastiert. Wagners germa­nischen Sieg­fried-Suff-und-Sanges­helden wird ein Übermensch aus dem Zwischen­reich entgegen­gestellt. Nicht Morgen­land, nicht Abendland, doch beides zugleich, der Über­mensch macht's möglich in einem arti­fi­ziellen Meister-Idiom, das als Partitur gelten kann, da gibt der Dirigent Ton und Rhythmus an. Ist er, bist du nun für den Krieg oder dagegen? Gott ist tot? Schon nahen die Interpreten: Gott ist tot heißt Gott ist nicht tot. Das liest sich wie mit Sahne serviert, geht runter wie Wein und wirkt wie Schnaps. »So lässt der Herr seine Sklaven gewähren und ergötzt sich noch an ihrem Übermute.« Im totalen Sprach­werk hemmt keine einzige feststehende Tatsache den Lauf der Wohlklänge. Der Mensch in seines Tages Mühen ist überwunden und über allen thront der neue Gott, dieses Fritzchen Zara aus Sachsen-Thüringen: »Nur, wo das Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich's dich – Wille zur Macht.« Dagegen artikulieren sich noch rechtzeitig vorm 1. Weltkrieg die Geistes­brüder Georg Lukács und Ernst Bloch, der neuen Contra-Macht den konkreten Namen gebend: Revolution per Diktatur des Proletariats. Womit wir bei Fakten ankommen, die in der Sprache der Über­menschen dem Unter­menschentum zuge­rechnet wer­den. Es geht um Revolution-Konter­revolu­tion.

Wo immer der Sozialismus versucht wurde, scheiterte er, wird behauptet. Am 2.3.2013 steht's wieder so unum­stöß­lich auf Seite 28 der FAZ. »Der Untergang der DDR beweist, wohin linke Deckelwirtschaft führt … Armut für alle …« Auf Seite 20 der selben Ausgabe aller­dings wird groß ange­kündigt: »Daimler wird Groß­aktionär in China« – dazu im Foto­super­format: »Partner und jetzt auch Aktionär: Daimlers Vorstands­chef Dieter Zetsche einigt sich mit Xu Heyi, Chairman con BAIC«. Wollen nun beide damit die Armut für alle er­reichen oder leidet unser Frank­furter kapitales Amtsblatt an Schi­zophrenie? Als drittes bieten wir die Realitäten des schwarzen Humors an. Der reale Kern ist allerdings anders beschaffen und wir erwähnten das schon mehrfach. Rot-China widerstand dem Unter­gang von SU und DDR und ent­wickelte sich zum rot-gelben Wunderland. Vonwegen Sozia­lismus als Armut für alle. Das Land steht jedoch wie wir vor drei Gefahren: a) Krieg, b) Begrenzung der Erd-Ausbeutung, c) Auf dem zweiten langen Marsch sind Miss­hellig­keiten und Nöte zu über­winden, die das Kapital verlangt. Immerhin ist der chine­sische Sozia­lismus bisher nicht gescheitert, obwohl oder weil er einen dritten marxis­tischen Weg ein­zu­schlagen wagte. Die FAZ aber wird schon wegen linker Tendenzen abgemahnt. Im Fokus, heißt es, nehmen sich Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski und Hugo Müller-Vogg den FAZ-Mit­heraus­geber Frank Schirrmacher vor. Dessen neuester Bestseller mit dem Titel Ego sei anti­kapita­listisch und außerdem auch noch links. Wohin soll das noch führen, wenn sogar ein FAZ-Ego revo­lutionär über die Stränge schlägt?

 

Wohin soll das führen, wenn sogar ein FAZ- EGO-ist über die Stränge schlägt ...




Laut Bibel scheiterte, wir erinnern uns, der Turmbau zu Babel an der Nicht­kom­muni­kation infolge Ver­fremd­sprachl­ichung. Fehlte es an Dolmetschern und Übersetzern? Ein sagen­haftes Bild zeigt den Turm als konisch nach oben verengtem Rundbau. Den Transport der Steine zu bewerkstelligen zieht sich ein begehbarer Weg um den Turm herum hinauf. Der konischen Form halber verringern sich Radius und Umfang, bis ein Endpunkt erreicht ist, von dem aus es nicht weitergeht. Man braucht keine Mauersteine mehr. Es führt auch keine verbale Kommunikation weiter, Geometrie und Architektur sabo­tieren den Hochbau. Da gerät Nietzsche ins Spiel. Die Wiederkehr des Ewiggleichen ließ ihn erst jubeln, dann ver­zweifeln. Wenn es nicht weiter in die Höhe geht, dann tief hinunter zu den Urahnen. Gibt es keinen Fortschritt, philo­sophieren wir uns einen heldenhaften Rückschritt herbei. Man muss ihn den Sklaven nur mundgerecht zurichten. Dazu braucht es den neuen alten Herrn – den Übermenschen als Typ der frisch­gekürten Gottheit. Scheiterte der Turmbau von Babel am Anfang des Nietzscheanischen Drangs zur Höhe – stehen diverse City-Hochhäuser am Ende der Kulturgeschichte des Kapitals als Zeugen sprachlicher Disharmonie. Denn, spricht Groß­mäulchen Nietzsche: »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.« Dann besser mit Bloch: »Der greuliche Zustand unserer Hochschulen ist mit schuld daran und am Ende nur die trockene Erschei­nung der glei­chen Dumpfheit. So bleibt nur dieser Anblick person­loser Literatur, unwissender Philo­sophen … Und eine hydranten­hafte Bered­samkeit hebt an … abge­standen, abge­schrieben, ohne Gestalt und Kern, sich in endlosen Zeitschriften sammelnd und stockend.« (Durch die Wüste, anno 1919 zu Papier gebracht, als wäre vor­gestern schon heute gewesen.)

       

Wolfgang Harich – Rudolf Augstein:
Hoher Preis für eine Begegnung




Unsere gestrige Wüste hieß DDR. Nicht jedes Hochhaus sah aus wie von Stalin erfunden. Wir durch­querten die Wüste, um nicht darin zu ver­kommen. Mensch, das musst du exakt, also kon­kret marxistisch darlegen. Not­gedrungen erfand ich die Bezeich­nung Bloch-Kreis. Sie war ein Tarn-Name für die Begriffe Gruppe oder Fraktion, die beide als justiziabel galten. Von jetzt an war es der Bloch-Kreis ebenfalls. Für Ostberlin war das durch Harichs West-Verbindung mit Augstein und dem SPD-Ostbüro sogar begründ­bar gewesen, was für Leipzig kaum zutraf. Um die Leipziger Beteiligten für die Verfol­gung aufzupeppen, konstru­ierten Ulbricht und Paul Fröhlich ihren eigenen ortsgebundenen Kriminalfall, der auf nichts als Verdäch­tigun­gen beruhte. Die Verfolger handelten hier aus Partei­disziplin trotz feh­lender oder gar falscher Infor­mation, es ging um ihre Karrieren. Diese kriminelle, weil krimi­nali­sierende Lügenlinie wirkt bis heute nach. In diesem Punkt stimmen Erich Loest und ich überein. Doch nur bis zur nächsten Entscheidung. Loest verharrt im Schatten seiner Haftjahre, das macht ungerecht und lässt die damaligen Verfolger ein zweites Mal triumphieren.
  Das Ende des Bloch-Kreises bedeutete das Aus für die linke Volks­front­variante, wie es sie in den dreißiger Jahren schon mal als Stra­tegie gegen den auf­kommenden Hitler-Faschismus in Europa gegeben hatte. Jetzt stellten die um Macht­erhaltung besorgten Politbüros die Weichen so falsch, dass es zum Untergang von SU samt DDR und zur dro­henden Balkani­sierung Europas führte. Für uns stand am Anfang die kleine Säu­berungs­aktion der Partei in der DDR, die mit einem Ulbricht-Brief aus Berlin nach Leipzig begann. Blochs Philo­sophie war als Haupt­quelle der Dif­ferenzen entdeckt worden. Es ging um Sklaven­sprache und Revolte, was exakt den Spannungsbogen zwischen Politik und Philosophie entwirft. Wer sich als Denker, Theo­retiker und Praktiker ein­mischt, muss Kom­promisse schließen, was er nur in Sklaven­sprache riskieren kann. Das intel­lektuelle Dilemma begleitet die Philo­sophie­geschich­te seit jeher und bestimmt, nein verurteilt die Politik zur Abfolge von Oppor­tunitäten. Aber die Demokratie – hören wir sagen. Sie ist immer nur das, was die in ihr Mächtigen daraus machen. Friedrich der Große versuchte als junger König zugleich Philosoph zu sein und endete als kleiner Alter Fritz, der statt der Philo­sophie seine Hunde liebte.
  Die bisherige Geschichte der Klassen­kämpfe ist der Versuch von Über­menschen, ihre Unter­gebenen zum Dasein als Unter­menschen zu zwingen. Entweder du steigst auf oder du unter­wirfst dich dem Aufsteiger. Entweder du wirst Übermensch oder lässt dich zum Unter­menschen degra­dieren, der brav gehorcht in der Hoffnung, dabei auch seinen kleinen Reibach zu machen. So gehorsam endete schon die 6. Armee in Stalin­grad. Lauter tüchtige Kame­raden, die ihre Wieder­geburt erwarten. Der Herr Pastor Bundes­präsident würde sie gewiss gern feier­lich segnen. Und die frei­willige Bundes­wehr braucht Nach­wuchs, wenns erlaubt ist. Die Stalin­grader Toten-Armee aufzu­wecken wäre eine christ­liche Idee. Minis­ter de Maizière will einen offi­ziellen Bundes­wehr-Vete­ranen­verband schaffen. Zwei­hun­dert­tausend wieder­auf­erstan­dene Stalin­grader Wehr­machts­veteranen wären ein Stamm­personal. In einem früheren Hörspiel exem­plifizierte ich das mal mit Hitler allein. Text­probe:

Führer: Die reine Hölle war das, anfangs. Ich saß unten beim Teufel und oben auf der Erde wurde entnazifiziert. Heute weiß ich, die hätten mich mit ent­nazi­fiziert, aber damals wusste ich das noch nicht.
Direktor: So sind Sie glücklich um die Ent­nazi­fizierung herumgekommen -
Führer: Die unterirdischen Atombombenversuche befreiten mich aus der Hölle. Zwischen der Hölle im Erdinneren und der Erdoberfläche ist eine Verbindung hergestellt. Da kam ich heraus. Amnestiert durch die Atombombe - im Vertrauen, mein Lieber, was sind die paar Millionen Toten, die ich, beim Teufel, verantworte, gegen das, was die jetzt mit ihren Wasserstoffsuperbomben fertig kriegen.
Direktor: Sie kommen wirklich direkt aus der Hölle?
Führer: Man kann nie ganz sicher sein, ist das da unten die Hölle oder ist's das hier heroben – (hebt die Hände zum Himmel) Allmächtiger im Himmel. Was war ich für ein Waisenknabe, was für eine reine Seele war ich – und ein Übermensch dazu –

Die Frankfurter Hauszeitung, als Morgenblatt zuerst zur Stelle, wird plötzlich be­kenntnis­süchtig, vielleicht punktuell gar anti­faschis­tisch, was man doch keinesfalls sein will, weils verdächtig nach DDR klingt, heute jedoch, am 20. Februar 2013 heißt es ohne Umschweife: Hessischer Landtag arbeitet NS-Vergan­genheit auf – 92 Abge­ordnete hatten braune Vergangen­heits-Studie zu ehemaligen Nazis im Landtag vor­gestellt – Wissenschaftliche Tagung im März .. Dazu werden schöne Fotos präsen­tiert: Rudi Arndt (SPD), Alfred Dregger (CDU) und andere umtrie­bige Über­menschen der Über­gangs­zeit von Hitler zu Adenauer. Der jetzige Ankläger­fleiß und die neue Studie gehen allerdings auf einen Antrag der Fraktion der Links­partei Anfang Mai 2011 zurück, die seinerzeit dafür heftig gescholten wurde. Jetzt zieht die CDU nach und siehe da, es ist noch viel übler:


»Im Hessischen Landtag saßen nach 1945 weit mehr Abg­eordnete mit NS-Ver­gangen­heit als bis­lang bekannt …« Und dann hagelt es NSDAP, SA, SS … und obendrein: »Dregger und Koch ver­schwie­gen ihre frühere Mit­glied­schaft in der NSDAP in den Ent­nazifizierungs­unter­lagen.« Wundert sich da jemand? Über all den braunen Schmodder schrieb ich ganze Bücher und konnte einst im Hessi­schen Rund­funk mehrere Hör­spiele gegen Krieg und Nazis unter­bringen, dafür wurde der Sender als Rotfunk be­schimpft. Wir bleiben nicht ohne Mitleid. Arndt wie Dregger sind inzwi­schen vergangen, Hitler aber hat überlebt. Aller­dings gerät auch Georg August Zinn, von 1950 bis 1969 Minis­ter­präsident in Hessen, unter die bösen Kame­raden. Er war neun Monate lang in der SA und hatte es im Unter­schied zu den Be­schöni­gern und Lügen­bolden nicht ver­schwiegen.



Der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war gut beraten, als er z.B. zum Auschwitz-Prozess sowie im Fall Eichmann ausführliche und geheime Gespräche mit Zinn führte. Die Wände in Hessen wie auch im rheinländischen Bonn hatten braune Ohren, was endlich, wenn auch mit arger Verspätung, eingestanden wird. Und eine Wissenschaftliche Tagung solls im März auch noch geben. Vielleicht hören sie bei der Gelegenheit meine HR-Trilogie der Schuldlosen an. Der HR, obzwar kein Rotfunk mehr, wird's schon gestatten. Notfalls könnte ich aus Soldaten sind Mörder lesen, wo das Dregger-Kapitel mit einem Zitat von Hermann Kesten schließt: »Wer gewisse Gesetze des Dritten Reiches respektiert hat, machte sich mitschuldig.«
  Zu den Leipziger Gedichten, die 1956 in der DDR unveröffentlicht bleiben mussten, gehört der

Wahlaufruf

Es ist gekommen
die große Zeit
da wir euch regieren
wie wir wollen.
Dass ihr uns wählt
wissen wir.
Wenn trotzdem gewählt wird
so nur um zu zeigen
wie demokratisch es zugeht.
Wir sind die einzigen
Feinde des Volkes.
Also ist es unser Recht
euch zu regieren.
Abgesehen davon
dass ihr
uns gewählt habt.
Unser bestes Argument
im Wahlkampf
ist immer noch:
Wählt uns
es bleibt euch sowieso
nichts anderes übrig.
Und schließlich
haben wir wenigstens
unser Gutes davon.


Das Jahr 2013 ist wieder ein Wahljahr. Meine Zeilen von 1956 sind aktuell geblieben. Ist das Prophetie oder dekonstruktiv? 1961 veröffentlichte Kiepenheuer und Witsch in Köln mein Buch Ärgernisse – Von der Maas bis an die Memel, inzwischen sind wir vom Rhein bis an Elbe und Oder vorgerückt. Auf Seite 210 ist zu lesen:






Der Text stammt von 1961. Das ist ein halbes Jahrhundert her. Manches hat sich seither verändert, anderes nicht. Inzwi­schen wurde die gesamte DDR als Parteien­staat re­publik­flüch­tig. Gültig bleibt: Duckt euch nicht, ihr habt einiges erlebt, was anderen noch bevor­steht. Revolutionen enden in Konter­revolu­tionen. Krisen lösen ein­ander ab. Die Waffenproduktion aber bleibt weltweit krisen­fest und verweist stolz auf Stei­ge­rungs­raten. Deutschland an dritter Stelle. Wir sind wieder Front­staat. Denn Krieg ist der Über­menschen letzter Wille.

PS: Kaum ist Nachruf 8 versand­fertig, gratuliert Die Welt am kalten 20. März dem Autor Ralph Giordano zum 90. Geburts­tag. Das hebt so elementar wie glorios an: »Sie zele­brierten jahr­zehnt­lang Hochämter des Mahnens und Tadelns, und bis auf Günter Grass, Gerhard Zwerenz und den dementen Walter Jens sind inzwischen alle tot …« Der Passus endet mit dem Vorwurf, wir hätten im Gegensatz zu Giordano »die Diktatur im Osten ver­nehmlich beschwiegen …« Ob der seit nicht allzu langer Zeit im Blatt Die Welt beheima­tete Sachse Marko Martin beim Schreiben des Artikels früh ver­greist, besoffen oder sonstwie umdüstert war, weiß ich nicht, als An­alphabet ist er Meister aller Klassen. Ach, du lieber Ralph Giordano, wer solche engen Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Ob Ge­burts­tag oder nicht, was über Giordano ange­merkt werden muss, war einst nicht in der Zeitung Die Welt, sondern im poli­tischen Ma­gazin Der Spiegel zu lesen.

Gerhard Zwerenz    25.03.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon