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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung (5) |
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Wo bleibt die versprochene Reformdebatte? – 3. Nachruf
Wir sehen fünf höchst differente PEN-Brüder auf ihrem Jahres-Kongress im Mai 1976 ins Kameraauge schauend, nur ich blicke zu Boden. Was denke ich? Dass ich hier fremd bin und nach Leipzig gehöre. Bettelarm und ohne jede Verbindung langten wir vor Jahren im Westland an. Ich feuerte tatendurstig mit dem Schreibmaschinen-Gewehr, Honorare liefen ein, mit vielerlei Geschichten ließ sich gutes Geld verdienen, das mit politischen Büchern wieder verloren ging. Als mir einer der Kulturknacker, der sich HMD nannte, ich hab ihn vergessen, zu dumm kam, antwortete ich wahrheitsgemäß im Band Die Venusharfe:
Zwerenz konsequent
Da wollte ein geschichtsloses Eselchen Klamauk veranstalten. Was weiß so einer schon. Allein das Wort Bunker verschmolz mir traumatisch mit Monte Cassino und der Warschauer Höhle im August 1944. Wie davon loskommen? Statt mit dem MG zu schießen wird auf Gelächter umgeschaltet. Im Roman Der Bunker spielt Helmut Schmidt die Hauptrolle. Die 66. Folge unserer Serie gibt dazu nähere Auskunft. Meine durch und durch liebenswürdige Antwort an einen Münchner Miesepeter und feuilletonistischen Sausewind empfehle ich gerne weiter. Man kann dieses Abperlenlassen gewiss großspurig ästhetisch begründen – ich sage kurz und knapp: Es macht Spaß. Und ganz besonders, wenn es um Kopf und Bauch geht.
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Allein das Wort „Bunker“ verschmolz mir automatisch mit Monte Cassino
Der Spiegel 12.12.1983
(Zoom per Klick)
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Ratschlag an meine alten DDR-Freunde, bei der eigenen Vergangenheitskritik, die zu leisten ist, um frei zu werden, Maß zu nehmen an den Franzosen, die sich im Abstand des Halbjahrhunderts dem Erbe ihrer massenhaften Folterungen, Massaker, Morde in Algerien nähern – widerstrebend und im Widerspruch mit sich selbst. Verglichen mit der französischen Schuld im Krieg gegen die algerische Freiheitsbewegung wiegt die Schuld der DDR weniger schwer, eine Gleichsetzung mit der Nazidiktatur gar delegitimierte den Gleichsetzer, lebten wir in einer integren Berliner Republik, wo es freilich Brauch wurde, die braunen Väter und Großväter durch Verteufelung der roten Genossen zu entlasten. Selbst im Vergleich mit der Weimarer Republik käme die DDR noch gut davon, denn die Zahlen der Todesopfer von Weimar rechnete bisher deshalb kein Zeithistoriker vor, weil die negative Bilanz des vergangenen zweiten deutschen Staates sich dagegen als deutlich geringer ausnähme. Ganz davon abgesehen, dass die DDR ohne einen einzigen Schuss endete, die Weimarer Republik in ihrer Agonie hingegen zur Ausgangsbasis für das Dritte Reich und seine Eroberungs- wie Vernichtungskriege wurde. Wäre die Berliner Republik so integer wie sie vorgibt, würden diese Selbstverständlichkeiten längst fairerweise in den Schulen gelehrt.
Erich Loest war mal auf einem guten Weg. Im Spiegel vom 12.9.1994 wurde das Schicksal der Intellektuellen bedauert, die es schwer haben in diesen Zeiten: »Sie ringen schreibend die Hände.« (H.M. Enzensberger) Was also bleibt ihnen zu tun? »Sollen sie sich wie Stefan Heym oder Gerhard Zwerenz für die PDS ganz ins Getümmel werfen?« So Der Spiegel irritierend auf Seite 20. Auf Seite 21 blickt Loest dem geneigten Leser frontal in die Augen: »Loest, 68, ist Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und lebt abwechselnd in Leipzig und in Bonn.« Es geht glattweg um nichts weniger als das »Verhältnis zwischen Intellektuellen und Politikern.« Spiegel-Frage: »Viele ostdeutsche Schriftsteller fühlen sich zur PDS hingezogen. Woran liegt das? – Loest: Das sind im Herzen alles Linke, und ein bisschen Anarchie und Romantik ist auch dabei. Viele ostdeutsche Intellektuelle wurden zwar in der DDR von den Stalinisten gemaßregelt, hätten aber doch gern eine demokratische DDR gehabt. Jetzt suchen sie ihr Heil hinter der roten Fahne. Spiegel: Und was sucht Erich Loest? – Loest: Die PDS von Gregor Gysi ist für mich eine lächerliche Truppe. Ich bin ein rot-grüner Wechselbalg.«
Knappe zwei Jahrzehnte später sieht Loest mehr nach einem schwarzweißen Wechselbalg aus. Dabei hatte er damals geklagt: »Ich vermisse die große Reformdebatte.« Und ich vermisse den Kampfgenossen von einst. Die längst fällige Reformdebatte aber führen wir seit dem 20. September 2007 mit dieser noch keineswegs abgeschlossenen Serie im poetenladen. Überschrift der Folge 1: »Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?« Weshalb Leipzig? Darauf lieferte Rolf Schneider bereits am 7.7.1991 im Tagesspiegel, Berlin eine treffliche Antwort: »Dass der Sturz der Honecker-DDR von Leipzig ausging, mit Ansammlungen nicht weit entfernt von Blochs altem Hörsaal, ist mehr als bloß ein geographischer Zufall.«
Deshalb also Leipzig. Wer aber wagt die Reformdebatte vom alten Hörsaal 40 aus und bitte nicht unter dessen Niveau weiterzuführen? Der Hörsaal ist verschwunden, die Paulinerkirche wieder aufgebaut. Es fehlen kongeniale Antworten. Ernst Bloch liegt in Tübingen, wo er verstarb, begraben. In Leipzig hat er gelebt.
Dieses Geschichts- und Geschichtenbuch wurde und wird von Betroffenen geschrieben. Im August 1957 verließ ich die DDR nicht grundlos, also keineswegs freiwillig, ganz im Gegensatz zum August 1944, als ich die Wehrmacht zwar nicht grundlos, jedoch vollkommen freiwillig verließ. In beiden Fällen zahlte ich Lehrgeld genug. So erlebte ich den Untergang der Weimarer Republik, des Dritten Reiches, der DDR und der BRD. Würde die Berliner Republik ebenfalls den Bach runtergehen, sollten die Leser des nächsten Jahrhunderts zumindest erfahren, wie einige ihrer Vorfahren allen Widrigkeiten zum Trotz dagegen hielten. Wer lange genug lebt, erfährt wie die beamteten Historiker Geschichte schreiben als würde Schweizer Käse produziert. Die Löcher charakterisieren den Namen und gereichen den Historikern zur Unehre. Wir setzen unsere selbst erfahrene Geschichte gegen deren Luftblasen und Luftschlösser fort. Die Überschriften Verteidigung Sachsens sowie Sächsische Autobiographie waren ursprünglich Arbeitstitel, die sich im medialen Gebrauch zu signifikanten Kennworten verwandelten. Das gesamte Experiment enthält meine Autobiographie und Blochs Biographie, soweit sie Ingrid und mir ersichtlich wurde und alles im subjektiven Blick aufs gerade noch so überstandene Jahrhundert. Wer Puzzles liebt, kann die montierten Mosaik-Teile thematisch nach gewohnten Kriterien neu ordnen, woraus sich eine Anzahl von Bänden ergibt: Kriegsbuch, Antikriegsbuch, Pazifistenbibel, humoristischer Unterhaltungsroman, Philosophiegeschichte a) allgemein, b) speziell Bloch, Geschichtsabriss, Satire, Politpolemik. Die vom Verfasser gewählte autobiographische Form führte, vom Zeitverlauf diktiert, zur Montagetechnik. Wie das Leben so spielt, wenn es Ernst macht. Das brachte Konflikte mit sich. Das führt nach Leipzig und zum Kern der Auseinandersetzungen mit Erich Loest zurück.
Ich bin mir sicher, 1956 stand mit Chruschtschows ritualer Anti-Stalin-Rede zum 20. Parteitag der KPdSU das sowjetische Modell am Scheideweg. Im Rückblick wollen viele Genossen nichts davon wissen. Weil sie zu jung oder zu alt sind oder weil sie sich damals schon nicht trauten, dafür waren oder, weil sie dafür waren, repressiert wurden, sich dann widerwillig beugten, was sie im Nachhinein lieber vergessen. Das ist verständlich. Die Partei selbst verhielt sich 1956 gespalten und abwartend. So meine Erfahrung. Unsere Sympathie für Chruschtschow saß tief. Den Rat, die DDR zu verlassen, gab mir im Juni 1957 ein Genosse der Staatssicherheit. Wahrend einer Vernehmung ging einer auf die Toilette, der zweite flüsterte: Hau ab. Höchste Zeit… Da erkannte ich ihn, beide waren wir 1948 in Gefangenschaft für den Dienst in der Volkspolizei geworben worden, er hatte es inzwischen zum Sicherheitsoffizier, ich zum freischwebenden Oppositionellen gebracht. Ich bleibe dabei: Dieser Sozialismus war entgleist, doch noch nicht verunglückt. Es gab eine Chance. Es hieß sie wahrnehmen oder vergessen.
Was 1956 verpasst wurde, kann heute nicht nachgeholt werden. Die Gründung einer neuen Partei der Linken aber erfüllt Wünsche. Lafontaine und Gysi ergänzen einander als brillante Redner. Mehr noch, was sich da aus Ost und West bildet, bringt Leben in die erstarrte Parteienlandschaft. Was daraus werden kann? Entweder nichts oder eine linke Sozialdemokratie mit Gewerkschaftsnähe. Mehr nicht. Und nicht weniger. Als Teil deutscher Arbeiterbewegung und Nationalgeschichte ist es europäische Normalität, auch wenn die Gegner und Feinde vor Wut heißlaufen.
Ich finde diese Partei aus der Distanz unterstützenswert. Die vielfältigen Vorbehalte gegen eine linkssozialdemokratische Linke kenne ich und finde sie falsch. Diese Linke ist für Deutschland und Europa eine Ermutigung. Beides wird gebraucht. Denn der Epochenbruch von 1990 kann den von 1945 konterkarieren und in eine Situation vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Krieg wie 1914 zurückführen. Weltkrieg, Bürgerkrieg, Religionskrieg, Krieg der Kontinente als Kampf um Macht und Ressourcen. Das Verschwinden der Sowjetunion setzte eminente Kriegskräfte frei.
Das Modell der europäischen Parteiendemokratie ist verbraucht. Die intellektuellen und moralischen Kräfte einer Erneuerung, wie wir die ausstehende Reformation nennen wollen, sind nicht in Sicht, wenn auch als Möglichkeiten nicht ganz unbekannt. Tausendschaften von Milliardären und Millionären, die in ihrem phantastischen Spekulationsreichtum leben, wollen den Herrenkasten- Status nicht aufgeben. Sie existieren in ihrem elitären Kommunismus finanzieller Klassenlosigkeit. Ihr strategisches Spekulantentum macht Kriege so logisch wie einträglich, also unverzichtbar.
Ich kenne zwei Erich Loest. Der eine ist der schwermütige, lachfaltentreibende Humorist, den ich unseren in Geldnöten steckenden Krankenhäusern als Therapeuten empfehle. Lachen heilt ohne Pillen und Skalpell. Der andere Loest will es »denen« heimzahlen. Das ist der Rückfall-Erich, zu Unrecht eingesperrt und preisgegeben. Beide kenne ich gut. Ich versuche auch gegen den zweiten E.L. fair zu sein. Es fällt mir nicht leicht und hat Ursachen, die etwas weiter zurückliegen.
Als das gemeinsame SPD-SED-Papier 1987 bekannt wurde, trafen sich ehemalige DDR-Autoren in Marburg. Unsere Befürchtung, von beiden Parteien untergebügelt zu werden, war nicht so unbegründet, wie es heute scheint. Mir ist ein Foto in Erinnerung, das uns friedlich aufgereiht zeigt – Biermann, Loest, mich und all die anderen in letzter prästabilisierter Harmonie, bald würde der Vereinigungsprozess die Übereinstimmung beenden.
Das geschah schneller als erwartet. Fraglich blieb, wie ein aus BRD und DDR gemixtes Deutschland aussehen sollte. Ich wollte Annäherung und sozialistische Reformation, das stieß schnell auf Widerspruch. Nachdem ich 1994 über die Offene Liste der PDS in den Bundestag gekommen war, trafen Loest und ich uns in seiner damaligen Wohnung bei Bad Godesberg. Wir gingen gemeinsam essen, tranken Wein, spazierten, von früheren gemeinsamen politischen Abenteuern schwärmend, am Rhein entlang. Dann fuhr ich nach Bonn zurück. Es war nicht ausgesprochen worden, doch lag es klar zutage: Erich vermochte mein Engagement nicht nachzuvollziehen. Die über Jahrzehnte andauernde Verbindung riss ab. Heute lese ich voller Unbehagen, wie Loest Genossen von Harich bis Gysi beschimpft. Sein nachgeahmter Biermann-Ton klingt, so der überhaupt steigerungsfähig ist, noch schriller. »Wider die Dunkelmänner unserer Zeit« donnert er am 16. Juni 2002 gegen die »Verächter der Freiheit: Mitarbeiter der Stasi, SED-Funktionäre und Westpolitiker entsorgen die Vergangenheit.« Da ist Harich ein »Spitzel«, »Mittenzwei der Kurt Hager unserer Tage« und ein »roter Don Quixote«, ja nun, entweder das eine oder andere, beides zusammen geht nicht. Jürgen Kuczynski wird zornig auf seine stalinschen Dummheiten von 1951 festgenagelt, ganz als wäre ein gewisser Loest damals mit diversen Romanen wie Die Westmark fällt weiter nicht gleichermaßen stalinistisch erfolgreich gewesen. Da kriegen Werthebach, Diestel, Stoiber, Thierse unterschiedslos ihr Fett weg. Schorlemmer wird als »Halbdunkelmännlein« hingestellt, Gysi bleibt ausnahmsweise mal unbespuckt, das sächsische Lama hat sich trocken geschimpft, denn: »Die Politiker kommen und gehen, wir Opfer der DDR, der SED und ihres scharfen Schwertes aber bleiben.«
Hier übersieht unser Daueropfer nur die Kleinigkeit eigenen Mittuns zu Zeiten des fatal irrenden Kuczynski. Der Duktus erinnert mich an meine Polemiken in der Hitze des Kalten Krieges. Inzwischen hat sich etwas geändert. Wer jetzt noch wie vordem rechtet, der unrechtet. Wenn Loest auf seine Knastbrüder verweist, bin ich einverstanden, ein halbes Leben lang hatte ich für sie gesprochen und könnte leicht ein Buch mit all den Interventionen füllen. Seltsam nur, in die östlichen Ämter und Regierungsstellen rückten Westler und bereits in der DDR geübte und bewährte Überlebensprofis ein. Kaum ein »Knastbruder« unter ihnen. Von denen agieren einige inzwischen aus höchst verdächtiger Nähe zum Nazitum. Mein Verständnis für Opfer endet an der Barriere, die auch Erich und mich nun zu trennen scheint. Ich lese, wie ein Opfer des Stalinismus meinen guten Freund Ludwig Baumann wegen dessen Desertion aus der Wehrmacht beschimpft. Für solche Leute ist am Ende noch Hitler ein Opfer des Stalinismus. Das rührt an den Kern der Differenzen. Es schmerzt wie ein seelischer Beinbruch. Es ist nicht ausgeheilt.
Im August 1957, am Tag nach dem geheimen nächtlichen Besuch im Hause Bloch suchte ich Erich Loest in Leipzig auf. Meine Warnung nahm Erich nicht ernst. Erst werden sie Bloch holen, meinte er. Ich hatte in Berlin gerüchteweise gehört, Bloch, Loest, ich und ein Dutzend anderer Genossen sollten als nächste vor Gericht gestellt werden. Ulbricht, von seiner Moskau-Reise zurück, strich Bloch von der Liste, was Paul Fröhlich in Leipzig außerordentlich missfiel. Immerhin konnte er an den anderen sein Mütchen kühlen. Erich war auf meinen Rat, in den Westen auszuweichen, nicht eingegangen, das kostete ihn 7 Jahre Bautzen.
Nachtrag für Loest, 55 Jahre später: Erich, du hattest dich entschieden, an der Pleiße zu bleiben, wie es mein Entschluss war, in die BRD auszuweichen. Da helfen keine Reformdiskurse weiter. Da läuft ein Revolutionsdrama im letzten Akt, wo die Konterrevolution einsetzt. Was nun, wenn die Konterrevolutionäre auch nicht weiterwissen? Schluss also mit dem ewigen Pingpong-Spiel links-rechts und rechts-links und die Parteien in der Mitte tanzen als Marionetten. Vom Rückblick im Zorn zum Rückblick ohne Zorn. Das Drama unserer Generation begann 1956, als der Ungarn-Aufstand durch den sowjetischen Gegenschlag per Panzer niedergewalzt wurde und damit die Reform-Alternative im gesamten Machtbereich. Wo lag der Fehler? Die sich auf Marx berufende sowjetische ML-Ideologie suchte die Geschichte bürokratisch anzuhalten.
Ich bleibe ein unkorrigierbarer 56er. Wir waren damals nur zu wenige, die sich trauten. Alternativen fallen nicht vom Himmel. Man muss sie schaffen. Das verlangt mehr als Parteipolitik und anderes als Schimpfkanonaden. Wie wärs mit ein wenig Kreativität? Stellen wir uns vor, wir sitzen im gespenstisch vergangenen Leipziger Hörsaal 40 und erleben den Auftritt von Ernst Bloch, Martin Heidegger, Papst Benedikt, Georg Lukács, Hannah Arendt, Rosa Luxemburg. Sie sind die Hauptdarsteller eines Sechspersonen-Stücks, das Anfang 1957 mit der Entfernung Blochs von der Universität beginnt. Ein makabres Zeitstück namens Blinde Kuh.
Bisher wurde übersehen, das Ende Blochs in Leipzig bedeutet das endgültige Aus jener internationalen Volksfrontpolitik, die mit dem Pariser Kongress 1935 begann. Bloch war einer der intellektuellen Gründungsväter. Sein Buch Erbschaft dieser Zeit, 1935 in Zürich erschienen, enthält seine Volksfrontphilosophie. Er lehnte die Diktatur des Proletariats als misslungen ab, hielt die 11. Feuerbach-These für mindestens unzureichend interpretiert, favorisierte seit 1935 eine Gramscinahe kulturelle Hegemonie mit antidiktatorischen Akzenten, verwarf das Dogma vom „wissenschaftlichen Sozialismus“ und entwickelte seine eigene Existenz- und Subjektphilosophie. Alle diese Abweichungen sind im Erbschaftsbuch mindestens spurenhaft enthalten, das folgerichtig in der DDR nie erscheinen konnte. In der DDR wirkte Bloch dennoch als oppositionelles Kraftwerk. In den wilden Westprovinzen dient er höchstens als Zitatenlieferant.
Die von Loest vor Zeiten angeregte und versäumte Reformdebatte bedarf der reflektierten Wiedergeburt. Es eilt ein wenig. In diesem Jahr 2013 wird das Völkerschlachtdenkmal 100 Jahre alt. Die Völkerschlacht mit ihren ca. 100.000 Toten liegt 200 Jahre zurück. Was soll gefeiert, wessen gedacht werden? Leipzig sucht sein passgenaues Freiheitsdenkmal. Wie wärs mit einem Bloch-Kopf, analog zum Chemnitzer Marx-Nischel? Phänomenal pyramidal und stadtzentriert an der Pleiße zwischen Reichsgericht und Blochs vormaligem Philosophischen Institut am Peterssteinweg. Inschrift gefällig? Bitte sehr: Kampf, nicht Krieg - der Satz stand im 1. Weltkrieg gegen den 1. Weltkrieg. Erbschaft dieser Zeit positionierte sich gegen den heraufziehenden Hitlerismus. Ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern war Blochs Hoffnungsdevise bei seinem Beginn 1949 an der Universität Leipzig. Als das Experiment DDR in Gefahr geriet, forderte er beizeiten und nachdrücklich, Schach statt Mühle zu spielen. So das »unerfüllte, obzwar leibhaftig gewesene Wunschbild einer Liebe.« Aber auch: Dieser Spartacus der Philosophie ist die Revanche der Geschichte für den Mord an Luxemburg und Liebknecht. Der im Schweizer Exil sich mühsam über Wasser haltende Luxemburgianer und Kriegsgegner entging den Mordaktionen der Noske-Ebert-SPD und der anschließenden NSDAP. Vor Stalins Mordorgien schützte ihn das USA-Exil, den bürokratischen Zwangsmaßnahmen in der DDR konnte er durch Übersiedlung in die BRD ausweichen. Über Jahrzehnte hin ein Exempel für Hegels List der Geschichtsvernunft, die einer beizeiten erspüren und befolgen muss. Leipzig hat noch einen Meisterdenker zu entdecken.
Der Diskurs mit Loest begann im vorigen, dem 2. Nachruf mit Erichs Tagebuch-Abdruck vom 5.12.2012 in der LVZ, wo Zwerenz plötzlich wieder »Freund« genannt wird. Ein Versehen oder kleines Wunder? In der Tat ist das Loest-Kapitel in meinem Buch Der Widerspruch lapidar mit »Ein Freund« überschrieben. Das war 1974 kein Widerspruch.
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