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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 33 |
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Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
In unserem Hausarchiv befindet sich eine feste Kartonmappe mit Leinenbindung, in der Kurt Tucholsky Teile seiner Korrespondenz aufbewahrte. Wie sehr es ihn belastete, die zahlreichen an ihn gerichteten Schreiben zu öffnen und zu beantworten, bezeugt der auf der Innenseite in Tucholskys Handschrift vermerkte Satz seines Freundes Walter Hasenclever:
Die Klage des so erfolgreichen wie umstrittenen Autors ist erstens eine Wunschvorstellung – Reichtum entbindet nicht von der Aufgabe, Post zu beantworten und zweitens, das wiegt schwerer, ist da eine Reaktion auf Missverständnisse und Bösartigkeiten in einer Reihe von Zuschriften enthalten. Tucholsky entwich von Berlin nach Paris, später in den hohen Norden. Ab 1933 ist Schweden zwar Fremdheimat, Deutschland jedoch Feindheimat. Was der Satiriker bis zum Suizid im Exil durchlitt ging mir so nahe, dass ich ihm jahrelang nachforschte. GuteWitwen weinen nicht ist ein Totengespräch. Dem Untertitel Exil. Lieben. Tod. fehlt noch die Vokabel Herzblut. Ich bin voll getroffen. Das Dritte Reich war für mich Fremdheimat. Nach der Desertion Feindheimat. Der Versuch, die DDR als Heimat zu erschreiben, misslang. Es wurde Feindheimat daraus. Was aber wurde aus der Bonner Republik, was wird aus der Berliner Republik? Jean Amérys Wort von der Feindheimat verkehrt Blochs Heimat- Utopie ins fatale Gegenteil. Die Geschichte der Linken findet in Feindheimaten statt. Keiner bleibt unbetroffen. Am 21. Januar 2014 beherrschte Walter Janka die Seite 1 im nd-Feuilleton. Karlen Vesper berichtet von der Berliner Konferenz zu Jankas 100. Geburtstag. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung gratuliert. Doch die Artikelüberschrift lautet: »Die Feindschaft zweier Dissidenten«. Der Konflikt zwischen Janka und Harich spiegelt das Verhaltensmuster einer Linken, die keine feindlose Heimat finden kann. Das beginnt bereits im alltäglichen Detail. Heimat kann zerfallen in optische Fremdheiten:
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Jean Améry
»Wieviel Heimat
braucht der Mensch?«
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»Die toten Augen meiner Stadt. Ampelverkehr aus Richtung Krankenhaus. Renovierte Häuser jenseits des Großen Teichs. Es stimmt hoffnungsvoll. Rechts das Capitol, abendlicher Treff meiner Jugendzeit. Ein Lächeln zum Eingang hin - Erinnerung! Dann die Teichstraße – ein Schock! Rechts das Haus Nr. 18, eine Ruine. Schwarzgrau die Putzreste, schwarzverdreckt die Fenster, einst fröhlich belebt. Schulfreundinnen hatten hier gewohnt, hier und gegenüber, wo heute die Lücke klafft. Verstecken hatten wir gespielt. Warum bloß war ich meist zu spät am Anschlag? Das gepflegte Eckhaus, ein beeindruckender gelber Ziegelbau, war bevorzugtes Versteck. Es hatte zwei Ausgänge, einen zur Teichstraße und einen zur Hillgasse, – das musste erst entdeckt werden! Und vorsichtig wurde dieses Wissen genutzt, stets nur als kurzzeitige Zwischenstation. Nur nicht erwischen lassen! Nur keinen Schmutz hineinbringen ins bestechend saubere Treppenhaus.
Was ist geblieben vom einst auffallend schönen Bürgerhaus? Leer auch diese Fenster! Dunkel, fast schwarz, wie tot blicken sie die Straße hinauf und über die Straße hinweg zur unansehnlichen Freifläche. Ich sehe in die toten Augen meiner Stadt. Nun bergan Richtung Roßplan. Rechts erfreulich, links erschütternd.
Weiter auf der Schmöllnschen Straße. Wie sich die Bilder ähneln! Das einst so attraktive Haus der Drogerie Ritter: leer, zerfallen, kaum wiederzuerkennen! Das Areal zwischen Teichvorstadt und Schmöllnscher Straße beherbergte einstmals Gasthaus an Gasthaus. Das Sterben der gastlichen Häuser begann in DDR-Zeiten. Und heute? Mehr als 20 Jahre danach? Von Gastlichkeit keine Spur! Meine Gäste führe ich besser zu den touristischen Attraktionen unserer alten Residenzstadt, die inzwischen mutiert zur Altenresidenz-Stadt Ungläubig laufe ich die Straße entlang. Ein schmerzhafter Anblick! Hin und wieder einige bewohnte Häuser. Dazwischen blicken sie aus leblosen Fassaden hinunter, die toten Augen meiner Stadt.«
Soweit eine Altenburger Skizze, angefertigt von Waltraud Seidel, ehemals Absolventin der Karl-Marx-Universität, jetzt in der Nähe des thüringischen Ortes lebend, wo die Pleiße pausiert, bevor sie Leipzig betritt. Die Beschreibung der zerfallenden Spielkarten-Stadt inmitten von Kohls blühenden Landschaften stimmt mich ein wenig melancholisch. Ach was, ich bin explosiv aufgeladen. Die Pleiße, mein Kindheits-Mississippi – ich suche nach in Folge 23, nächster Erinnerungsschub, im Altenburger Theater hatte Hans Pfeiffers Stück Nachtlogis 1955 Premiere, ich besprach die Aufführung in der ostberliner Weltbühne. Aus unseren kleinen Revolten der 50er Jahre werden Totengespräche, Pfeiffer verstarb 1998. Wieder einer mehr als zeitlose Begleitung im Widerstand gegen Gedächtnis-Liquidateure. Als junger Sanitätssoldat der Wehrmacht musste Pfeiffer, zum Strafexerzieren verdonnert, ein amputiertes Bein auf vorgestreckten Armen im Laufschritt marsch-marsch durchs Gelände tragen. Das bleibt unvergessen. Zuletzt rächte Hans sich mit Die Höhle von Babie Doly, 1957 in der Neuen Deutschen Literatur erschienen, dann nie wieder in der DDR, erst danach 2004 im Leipziger Militzke-Verlag. Am Ende des Romans auf Seite 108 ist ein reflexionsbedürftiger Brief Ernst Blochs an Pfeiffer enthalten. Wir gehen Im Nachwort 66 »Links im Land der Obersturmbannführer« darauf ein.
Das Leben in Feindheimaten fordert ständige Entscheidungen. Dieser Nachruf 33 beginnt mit Tucholsky. Gestern, am 11.2.2014 spendete die FAZ einen Artikel, dessen Überschrift auch von Tucholsky stammen könnte:
Der Satiriker warnte einst: Reisende, meidet Bayern! Nach Intention und Duktus passte heutzutage die analoge Formulierung: Kinder, meidet Geistliche! Als Atheist könnte ich den Satz goutieren und halte ihn doch für falsch verallgemeinernd. Allerdings tendieren Gesellschaft samt Kommunikationsindustrie zur totalen, kollektiven Realsatire nach dem Muster der Bild-Zeitung: Laut E-mail von Petrus schleppen immer mehr Verstorbene schlechte Nachrichten über üble irdische Zustände in den Himmel ein. Aus der Hölle werden Infos versendet – die Gewerkschaft der Teufel beantrage, ihren Arbeitsplatz auf die Erde zu verlegen, mit der man, was Produktivität an Schauder und Schrecken betreffe, nicht mehr zu konkurrieren vermöge. Das ist weder Aberwitz noch Irrwitz, eher die satanische Weisheit ausgewiesener Gesellschaftsanalytiker, die unsere gegenwärtige 4. industrielle Revolution des homo oeconomicus aus der Nähe erleben.
Unsere braven Gottgläubigen beten indessen über fromm gefalteten Händen, beichten ihre Sünden und leben fort wie bisher. Die Internetgläubigen ersetzen Gott im Himmel durch Hard- und Software auf Erden, Konstruktionen, die alles wissen, allen alles mitteilen und alle von allen beaufsichtigen lassen. Mag sein, ein partiell müder oder seniler Gott ließ sich betrügen, die neue immer perfekter funktionierende Technik erlaubt das nicht. Selbst Sascha Lobo, lange Zeit Hoher Priester des globalen Netzes, erklärt es plötzlich für tot und bedient es weiterhin wie die Christen ihren Gott. Man kann aber auch einen Blick in Derridas Differenz-Philosophie werfen, um zu begreifen, die Sprache unterscheidet den Menschen zwar vom Tier, befähigt ihn aber auch zum tellurischen Massaker als Endspiel. Den Schlussapplaus liefern die tollen Maschinen, von Gottes Ebenbildern erschaffen und geheiligt.
Schuld bist du
Anklagend weist der Zeigfinger
auf den Pazifisten: Wie willst
du, Unmensch, den Aggressor
abwehren mit bloßer Friedfertigkeit?
Wenn Krieg ist, trägt der
Pazifist Schuld daran. Wenn
kein Krieg ist, macht er sich
lächerlich mit seinen Warnungen.
Wir rüsten auf für den Frieden,
wird ihm bedeutet, wir produzieren
mit Panzern und Soldaten Sicherheit.
So exportieren sie Waffen&Sicherheit.
Bis die Waffen losgehen, die
Soldaten angreifen&verteidigen.
Anklagend weist der Zeigefinger
auf den Pazifisten: Schuld bist du.
So produzieren sie Sicherheit bis
zur höchsten Unsicherheit. Den Frieden mit
Krieg herstellend. Den Pazifisten
widerlegend in Ewigkeit. Amen.
Unser Freund aus dem Saarland, der Bloch-Sympathisant Michael Mansion, ein philosophisch und soziologisch wohlinformierter Reflekteur mailte zum jüngsten Nachruf:
Soviel zur aktuellen Politik. Und soviel zur Philosophie: Das Buch Warum es die Welt nicht gibt von Markus Gabriel wird von FAZ bis Spiegel fleißig bestsellernd besprochen als wäre die nichtende Philosophie pure Neuigkeit. Im Nachruf 21 »Der Mord an der Philosophie geht weiter« verweisen wir bereits auf den fixen Gabriel, den Reinhard Jellen in der jungen Welt glasklar bagatellisierend als »radikalen Solipsisten des Subjektiven« definiert. Das ist gut erkannt und gesagt. Es sei denn, Gabriel versteht sich als Prophet. Leicht amüsiert schauen wir vom Wegesrand her zu und wissen: Ohne uns, die Linke im weitesten Sinne, gibt es die Welt nicht mehr lange. Man denke sich nur die minimale Rest-Opposition von Linkspartei und Grünen aus dem Berliner Bundestag weg und die Große Koalition füllt das Parlament als Einheitspartei.
Wie unsere zuletzt erschienenen Nachrufe zeigen, wird die Frage Sein oder Nichtsein seit dem Fenstersturz des Leipziger Ehrenbürgers Erich Loest immer von neuem aufgeworfen. Es grassiert ein Raunen in der Stadt – angeblich lebte Loest nach seinem Sprung aus dem Klinikfenster noch und wurde erst zwei Stunden später entdeckt. Wer darüber Genaueres weiß, sollte es uns mitteilen, falls die Öffentlichkeit es nicht wissen soll oder will.
Die neue Phase der Begegnungen von Loest und mir begann nach dem Untergang der DDR. Kurz vor seinem Freitod im September 2013 beschwor Erich noch unsere alte Freundschaft, indem er sie an den gemeinsamen Feind Paul Fröhlich koppelte. Das konnte ich nachvollziehen, ohne Erichs Schlussfolgerungen zu teilen, die ihn in ihrer Verhärtung und Rigorosität bis in sein selbstgewähltes Ende vereinsamen ließen.
Diese 3000 Seiten der Verteidigung Sachsens in Leipzigs poetenladen enthalten eine Verteidigung meiner glücklichen Kindheit, die1933 endete als Tausende von Büchern auf Scheiterhaufen geworfen wurden. Da begann der achtjährige Junge Karl May zu lesen und lernte die Indianer zu lieben. Die Verteidigung der Roten wurde seine Profession, von der ihn weder der monströse Moskauer Stalin noch der kleine Leipziger Adept Fröhlich abzubringen vermochten. Sagen wir es so: Feinde lassen sich vergessen, Freunde bestärken uns im Herzen. Es ist deine Entscheidung. Entweder oder. Entweder läufst du, wie Nietzsche sagt, ewig im Kreise herum oder der Mensch ist, wie Bloch postuliert, noch im Werden, sein aufrechter Gang ein exemplarisches Experiment, das auch scheitern kann. Soviel zur philosophischen Morallehre, und soviel zur Praxis: Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben, sprach einst der deutsche Führer in die Runde seiner gehorsamen Sklaven. Es ist der Kern aller Kriegsmoral – Entweder du tötest den zugewiesenen Feind oder du wirst selbst als Feind getötet. Der Rest heißt Angst. Sie ist das Öl der Kriegsmaschine.
Feindheimaten
Als der Krieg aus war dachte ich er sei aus.
Am Tag darauf begannen sie mit ihren Manövern.
Generale holten sie aus dem Kühlschrank.
Stiefel aus dem Beinhaus. Die Fahne aus dem Versteck.
Von den alten Worten strichen sie jedes zweite durch.
Dann jedes dritte, vierte, fünfte. Endlich
Wurde der gesamte Wortschatz wieder eingezogen.
Die Söhne der Krieger proben den aufrechten Gang.
In den modernisierten Wirtshäusern berichteten die
Drückeberger von ihren siegreich verlorenen Schlachten.
Heldenfriedhöfe wurden illuminiert. Ein Bundeskanzler
Lieh seinen Händedruck und die nachgeborene Einfalt.
Kriegsauszeichnungen zogen an im Kurs. Wer zweimal
Verlor, schwört auf den dritten Sieg. Der Tiger
Hieß nun Leopard. Die Messerschmidt Starfighter.
Die Artillerie bestand aus munteren Atomkanonen.
Der eine Oberleutnant wurde Bundeskanzler. Der
Andere Ministerpräsident. Ein Hauptmann hielt
Im Bundestag feierlich die Heldengedenktag-Rede. Vom
Himmel herunter nahm ihr Oberbefehlshaber die
Parade ab. Er trug Zivil. Und ein Loch im Kopf.
Das Zeitalter der schönen Selbstmorde hat begonnen.
Ein Pastor, als Präsident verkleidet,
Predigt scheinheilig den nächsten Krieg.
Als letzten Gruß an den im Februar 2014 verstorbenen Werner Mittenzwei ein Heimat-Zitat aus seinem epochalen Katastrophen- und Hoffnungsbuch:
»Bloch distanzierte sich von Harich, Janka und Lukács, vom menschlichen Sozialismus und äußerte sich zustimmend zum bewaffneten Eingreifen der Sowjets in Ungarn. Sein Schüler, der Schriftsteller Gerhard Zwerenz, der Blochs Werk bewunderte, hielt das für eine ›beschämende Selbstverleugnung‹. Es war das Urteil eines Intellektuellen, der sich frei von jahrzehntelangen Bindungen fühlte, der nicht den Druck der Bruderschaft empfand, mochte sie auch eine falsche sein. Bloch kannte sich in der Geschichte aus, er wußte um das Phänomen an Kirchen aller Art mit ihren Verpflichtungen und ihren Folgen. Man darf sicher sein, dass er sich seiner Tragik bewußt war. Für ihn bedeutete der Sozialismus, um einen Satz von ihm zu variieren, die Heimtat, in der keiner war.«
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