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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wider­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 18

Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie



Bevor der angesagte Untergang der Presse im Netz stattfindet, spiegelt sich die Welt­geschichte noch in treff­sicheren Schlag­zeilen: »Der Osten wird im Hoch­wasser abgehängt … Das Böse ist banal … Ich erobere, also bin ich … Sind Ossis anders drauf … Kissingers unrühm­liche Rolle in Vietnam … Sparzwang: Sachsen schließt Ins­titut … De Maizière für Verhandlungen mit Taliban … Der Chor der Leidenden … Auge in Auge mit den Geistern … In Hass und Liebe zum Kom­munis­mus … Hitlers Feld­marshall als Gefan­gener Stalins … Die Kom­munis­ten fielen über­propor­tional im Kampf … Lies doch, das ist das Glück … Seid Sand im Getriebe … Das Berliner Schloss, dementiert von Kafka, kommentiert von Walter Ulbricht … Anna Netrebko singt auf dem Roten Platz vor der Kremlmauer … Ist Sadomasochismus die Lösung? … Karneval als Kampfzone … Das unwider­steh­lich Böse … Der Gedanke ist Mord … Die Hölle ist ein Kreis­ver­kehr… Zu viel Geld ist eine Droge … Rheto­rik als poli­tische Kunst: Zum Tode von Walter Jens …
  Jeder einzelne Wort-Schatten ist glossen­taug­lich und verträte die kollektive Misere des 21. Jahr­hunderts als pars pro toto. Ich ziehe das tragische Moment vor: Walter Jens in Paral­lele zu Friedrich Hölderlin. Beide haben ver­geblich gelebt. Es bleibt nur ein Turm am Neckar als Ansichtssache.

 

Walter Jens:

Das Verhalten der Akademie erscheine ihm „befremdlich und provinziell“.

(Börsenblatt 21.03.1989)
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Eine gewisse anzügliche Ironie ist der gegen­wärtigen Zeit­geschichte nicht abzu­sprechen, wenn im Land der als solcher geprie­senen mächtigs­ten Frau dieser Welt ganze Lände­reien so heftig ab­saufen als wollte ihr Christen­gott sie samt Glaubens- und Wahl­gemeinde vor der drohenden univer­salen Sintflut warnen. Wer zimmert die Arche Noah, wenn alle Dämme brechen? Wie lange thronen die Banker in ihren Hoch­haus­burgen noch über den Fluten, bis auch ihnen hoch oben das Wasser über den Köpfen zusammen­schlägt?
  Soviel zur Bibelstunde, und nun zur Sache: Geo­politisch gesehen sitzen wir, vom Drohnen­gott Obama u. a. zur Füh­rungs­macht aufge­fordert, unschlüssig diens­tbereit in Euro­pas feuchter Mitte herum, mit der Last des 17. Juni 1953 auf den Schultern und der kommenden Wahl-Qual des 22. September vor der Nase. Wer wird wen wählen im Reich Popo ohne Alter­native? Hessens Schorsch Büchner schlägt Zwerg Nase vor. Der bläst sich auf und nennt sich Schmidt-Schnauze, Schröder-Agenda und Stein­brück-Bein­freiheit. Aus der Hölle dringt Noskes Gelächter. Die Herren Genos­sen haben Schwierig­keiten mit den zwei Grund­mustern: a) das bio­logische Muster sieht den Menschen völkisch eingeteilt in Bulle und Herde, Füh­rung und Gefolgschaft, also Masse, ergo Wähler­schaft. b) anders das kulturelle Grund­muster, das an­fangs mit Jesus Christus und später mit, Gott behüte, Karl Marx antrat: Frei­heit, Gleichheit, Pustekuchen. Vom Globalkrieg zum Bürgerkrieg. Nietzsche auf Porsche im Welt­kreis­verkehr. Was bleibt sind Marx/Engels und die Dif­ferenz zwischen vor­wärts­trei­benden Pro­duktiv­kräften und hemmenden Produk­tions­ver­hält­nis­sen, woraus fataler Klas­sen­kampf resul­tiert. Wem das zu akademisch er­scheint, dem hilft Büch­ner weiter: »Das Verhält­nis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revo­lutio­näre Element in der Welt …« So 1835 im Brief an Gutzkow. Adressiert an alter­nativlos heimat­lose Spitzköpfe.

Zum 17. Juni 1953 vom 17. Juni 2013 aus rückwärts betrachtet. Worum ging es? Worum geht es? Arbeiter- oder Volks­aufstand? Volk und Arbeiter schweigen. Die Parteien führen stell­vertretend wie stell­zertretend das große Wort, dahinter ist nichts als heiße Luft, um alte Ideo­logien zum Wahlkampf aufzublasen. Ohne Arbeiter wäre die Masse nicht auf­gestanden. Sie hätte vor 1945 auf­stehen müssen. Besser noch 1933. Kein Volks­aufstand 1953, ein Ar­beiter­aufstand auf beiden Seiten? Mir war ein wenig zumute wie neun Jahre zuvor zwischen Wehrmacht und Roter Armee. Ein wenig. Ein ganz klein wenig. Nicht aufgeben. Den 3. Weg suchen. Im Jahr 2003, als der 17.Juni 1953 ein Halb­jahr­hundert zurücklag, notierte ich für eine Veran­staltung in Leipzig: In Medien und Politköpfen blühen die Mythen. Es ist fast wie damals. Drei Tage lang blieb die Partei auf der Wahr­heits­spur. Dann war für sie das Ganze nur noch ein faschis­tischer Putsch und für den Westen ein gefundenes Fressen im Kalten Krieg. Wir 56er Oppo­sitio­nellen forderten drei Jahre später Reformen im Sinne Chruscht­schows. Harichs Ver­haftung am 29.11. 1956 und Blochs zwangs­weise Emeri­tierung Ende des Jahres setzten den Schluss­punkt. 33 Jahre danach gab die DDR den Geist auf, was mich nicht über­raschte. Es war aber ein Trauer­fall. Land, Men­schen und Staat wurden unter Wert geschlagen und hätten ein besseres Schick­sal verdient. Meine Hoffnung, die PDS werde ab 1989 unsere 56er Opposition fortführen, blieb uner­füllt. Der unver­arbei­tete Konflikt vom 17. Juni 1953 reicht bis ins 21. Jahr­hundert hinein. Der erste Satz meines Zeit-Romans Die Liebe der toten Männer lautet: »Tage, die um den Erdball gingen wie schlimme Zei­tungen …« Als letzter Satz steht da: » … um ihr linkes Hand­gelenk schnell­te der rote Streifen wie eine Kette.« Es ist nicht nur die Spur von Hand­schellen gemeint, wenn ich mich recht erin­nere. Rot ist die Farbe der Sonne.

Inzwischen sind zehn weitere Jahre vergangen. Die Medien feierten den 60. Jahrestag in gewohn­ter Manier ab. Ich neige dazu, weder vom Arbeiter- noch vom Volksaufstand noch vom faschistischen Putsch zu sprechen. Die verbalen All­gemein­heiten sind nichts als Parteiplakate. Die Dekon­struktion erbringt bisher unbekannte, wo nicht geheime Hinter­gründe, die im Kapitel »War Berija nur ein schlimmer Finger?« in unserem Buch Sklavensprache und Revolte tangiert wurden. Jetzt gibt's von Siegfried Prokop viel Neues und Brisantes unter dem Titel Der 17. Juni 1953. Inter­nationale Aspekte und Fragen der historischen Wertung . Lauter Gründe, den 17. Juni als natio­nalen Feiertag end­gültig abzu­schaffen. Kritische Selbst-Erfor­schung benötigt keinen Gedenktag. Der Text von Prof. Prokop ist in den Mitteilungen der Kommunis­tischen Plattform der Partei DIE LINKE enthalten. Akzeptieren die Genossen die Korrek­turen? Unsere früheren Konflikte bedenkend ist unser­einem zumute als geriete auch dort ein 3. Weg nach und nach ins Blickfeld.
  Der verbale Kampf um die Deutung als Be-deutung bleibt als Differenz zwischen Wort und Begriff erhalten. Den einen ist Kom­munis­mus die Hegel-Feuerbach-Marx-Philo­sophie, den anderen Gulag. Was aber, wenn die Philo­sophie nur der schöne Schein ist, Gulag jedoch das böse Sein? Oder etwa umgekehrt? Die deutsche Links­wut ist als Wut auf die Linke seit 1848 so aktuell, dass sie als linke Wut zurück­kehrt. Sogar die DDR servierte ihre Linken ab. War das sozialis­tischer Schein oder reales Sein? Im Augenblick geht Grass halb­links als guter Geist Willy Brandts um. Wahlkampf ist. Die brave SPD weiß nicht, wie ihr geschieht. Steinbrück erprobt seine Kopfbreite. Willy, der ehemalige Sapper-SAP = Sozia­lis­tische Arbeiter­partei – ist immer gut, Günter als früherer Waffen-SS-Soldat aber? Was hätte der wort­gewaltige Verschweige-Epiker als auto­bio­graphi­scher Existenz-Fanatiker aus sich heraus­trommeln können statt des Zwerges, der die Charak­terlosig­kei­ten des Zeit­geistes durch barocke Satz­monumente abtarnt. Die werten Kriegs­kame­raden fühlten sich ermutigt, den eigenen schönen Schein zu wahren. Die Helden von vor 1945 traten wie Grass bald als Helden nach 1945 ins Schein­werfer­licht. Führer befiehlt nicht mehr, ab jetzt sind sie führend zur Stelle.

»Verrat an der Substanz – Bibel als Reise­begleitung: Hegels Phäno­menologie«, so edel erhoben betitelt Lorenz Jäger seinen Artikel am 26.6.2013 in der FAZ, deren Ressort Geistes­wissen­schaf­ten ihre Geister liebt wie die Politik ihre Un­geister: »In­fame Ab­rech­nung mit Elisabeth Noelle-Neumann – Jörg Becker setzt Worte des NS-Kauder­welsch einfach mit na­tional­sozialis­tischen Verbrechen gleich« – so großmütig Michael Wolffsohn gegenüber der Meinungs­for­scherin am 24.6.2013 im selben Blatt. Die geherzte Pythia vom Boden­see würde ihn gleich­wohl streng zu­rück­weisen, wie sie einst in Berlin Goebbels und später in Frank­furt/Main den sie bedrä­ngenden Adorno zu­rück­wies, stets von ihrem Schutz­engel begleitet, was sie selbst gern himmels­gläu­big berichtete. Der von Wolffsohn gerüf­felte Professor Jörg Becker ist Ver­fas­ser des Buches Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konser­vatismus Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013. Prof. Wolffsohn erklärte vor Jahren schon mal alle Links­intel­lektuel­len zu Anti­semiten.
  Soviel viel zu den Schutz­engeln. Nun zu den Erz­engeln und weiter mit Lorenz Jägers couragierter An­gleichung der Phäno­meno­logie von Bibel und Hegel bzw. Glaube und Werk. Der Glaube allein macht eben nicht selig, es muss das Werk als gute Tat hinzu­kommen. Jäger ist bei aller Ironie super­reli­giös gebildet und oben ein wenig zügel­los ab­schweifend, Typ intel­lektuel­ler Aben­teurer, wo nicht gar einsam reflek­tie­render Parti­san, am Ende mit stringenter Schluss­fol­gerung. Wort und Werk der Christen­heit sind seit zwei­tausend Jahren so heilig wie strittig. Wort und Werk der Marxis­ten hingegen noch keine zwei­hundert Jahre. Und mate­ria­listisch unheilig dazu. Es geht Jäger wie uns um die 11. Feuerbach-These von Marx, die postu­liert, unsere Welt zu ver­ändern. Nun denn. Das jüngste christliche Werk nach der Atom­bombe ist die massive Mord-Drohnen-Praxis durch Obama, den Frie­dens­nobel­preis­träger Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Am Ende schaffen seine Gläu­bigen alles wieder ab. Der Himmel als Feuer­hölle. Was bleibt ist das sado­maso­chisti­sche Stöhnen der Zombies, die in einer neuen Welt als Kinder­spiel­zeug dienen. Lorenz Jäger hin­gegen begann seinen Bibel-Hegel-Exkurs in der FAZ vom 26.6.2013 mit den Worten: »Von Ernst Bloch stammt das hübsche Bonmot: ›Ich kenne nur Karl May und Hegel; alles was es sonst gibt, ist aus beiden eine un­rein­liche Mischung.‹« Was Jäger daraus filtert, ist der Aufmerk­samkeit wert. Was wir dazu bemerk­ten, ist u.a. im Nach­wort 19 des poetenladens »Affen­tanz um die 11. Feuerbach-These« sowie in Sklaven­sprache und Revolte, Seite 155 nach­zulesen.
  Der Horizont ist insofern subjektiv, als er von der Höhe und vom Alter des Betrachters bestimmt wird. Als ich acht Jahre zählte, saß eine der frühen Arbeits­kolle­ginnen meiner Mutter bei uns daheim. Ihr Mann war verhaftet worden. »Gerhard, die machen uns unsere Männe kaputt«, höre ich sie klagen. Das liegt achtzig Jahre zurück. Siebzig Jahre ist es her, dass ich als Soldat den ersten Kriegs­kameraden neben mir fallen sah. Vor neunund­sechzig Jahren karrten wir frühmorgens die über Nacht verstorbenen Kriegsge­fangenen aus dem Lager. Die Massen­gräber der von den Nazis ermor­deten Juden zwischen Bobruisk und Minsk erhielten deutschen Landser-Nachschub.
  Das dritte Auge als Gedächtnis. Der 1933 inhaftierte Ernst Thälmann sagte: Stalin wird Hitler das Genick brechen. Der Führer ließ Thälmann in Buchen­wald ermorden. Stalin besiegte Hitler. Die Kriegs­ver­lierer rächten sich dafür mit der Extre­mismus-Theorie, wonach rot gleich braun sei. Dafür wurden sie als unbe­lastet eingestuft und starteten frohgemut ihre zweite Kriegs­karriere. Von Stalin bleibt aller­dings die Stalin-Orgel, auf die Putin sich immer mal wieder beruft, was ihm die deutsche Elite nie verzeihen kann. Das sind so Fragen des Horizonts. Alte Augen sehen weiter, indem sie nach innen blicken. Ich blättere im Hausarchiv in ver­schie­denen Zei­tungen. Nichts ist vergangen. Zeit steht als ewige Wiederholung von Kriegen und Bürgerkriegen still. Auf Abrüstung folgt Aufrüstung. Sermon-Marathon west­licher Werte­gesell­schaf­ten im stupiden Abwehr­kampf.
  Die strate­gische rote Frontlinie führt, soweit überschaubar, vom Urchristen zu Rousseau und Marx. Im 20. Jahrhundert folgt der Absturz zu Hitler und Stalin. Da­zwi­schen die »unreinl­ichen Mischungen«, wie Lorenz Jäger den listenreichen Karl-Marx- und Karl-May-Phäno­menologen Erst Bloch zitiert. Hitlers Reich zu besiegen be­durfte es der Roten Armee, die bald keine mehr sein konnte. Der Rest sind unheim­liche unrein­liche Mischungen in Ost und West. »Als Ball vortrat, fuhr ihm ein rasender Schmerz ums linke Hand­gelenk, als schnitte ihm ein Messer ins Fleisch und sein Schrei glich jenem Schrie von vorhin, als sie ihn geholt hatten; ein wilder unmenschlicher Schrei, wie man ihn nur an manchen Abenden in der Nähe von Schlacht­höfen hört. Ball streckte seine gefessel­ten Hände vor, dass sie weit aus den Ärmeln heraus­ragten und starrte auf sein linkes Hand­gelenk. Dort wand sich ein roter schwellender Streifen wie eine Schlange durch die Haut. Neben Ball aber standen Erkel und einer der fremden Offiziere. Ihre Lippen waren weiß geworden und um ihr linkes Handgelenk schnellte der rote Streifen wie eine Kette.« Mit diesen Sätzen endet der Roman Die Liebe der toten Männer. Das Buch ist eine unreinliche Mischung von Fakten und Mythen im Zeitalter der Täter und Opfer, die es einander wechsel­seitig sind.

Platon sitzt in seiner Höhle und betrachtet versonnen die tanzenden Schatten, die sein loderndes Feuer an die Wand wirft. Der Philo­soph hat soeben Die Liebe der toten Männer gelesen. Dieser Zwerenz behauptet, unsere Nach­kommen stig­mati­siere ein roter Streifen ums linke Handgelenk, sagt Platon und ergänzt: Ich sehe nur schwarz und weiß. Per Telefon ruft er Aristo­teles an. Der grübelt gerade über seiner Poetik und raunzt: Gib Farbe dazu! – da fällt es Platon wie Schuppen von den Augen. Das sind so Notizen vom Ende der fünfziger Jahre, als ich, von der Pleiße an den Rhein gekommen, Die Liebe der toten Männer als Mixtur von Fakten und Mythen schrieb. Die Aggres­sionen der Politik bleiben seither bei allen Verän­derungen gleich. Der rote Streifen stigmatisiert. Das Links­trauma führt zu asymme­trischen Demo­kratien. »Von Leibniz zum ten­denziellen Fall der Profit­rate« ist der Titel vom Nachruf 10 im poetenladen mit der Warnung: »Das Zeitalter der schönen Selbst­morde hat begonnen. Dem Marxis­mus ohne Revolution folgt die Erde ohne Menschen.« Offenbar vernahm das jemand in der FAZ, Redaktion Forschung und Lehre – am 3.7.2013 ist im Blatt der Artikel eines inte­gren Mannes mit dem Namen Heinz D. Kurz zu finden, der international erfahren, informiert und objektiv, also ohne Wahl­kampf­krampf, statt­dessen Bescheid wissend und gebend seinen Marx-Befund darlegt: »Das KAPITAL ist historisch-kritisch ediert: Zeit für einen Grundkurs zum Fall der Profit­rate«. Darin dieses hervor­gehobene Zitat des an der Grazer Universität tätigen, 1946 in Pfaffen­hofen/Ilm gebo­renen deutsch-öster­reichi­schen Wirt­schafts­wissen­schaft­lers Kurz: «Das Gesetz vom Fall der Profit­rate be­schreibt, weshalb der Kapitalismus scheitern muss, irgend­wann.« Laut Marx also, nach dem letzten MEGA-Stand beim authen­tischen Wort genommen, ist das Scheitern nur noch eine temporäre Frage.


Die Liebe der toten Männer zur asymmetrischen Demo­kratie
Meine ersten Bücher in der BRD wies ich noch der DDR-Literatur zu – als Akt von Abrechnung und mehr noch von Befreiung. Was die Szene inklusive geheimer Dienste auf­rührte. Schönen Dank für das Gift von beiden Seiten. Die Liebe der toten Männer ist der Reflex des 17. Juni 1953 als radikaler Aufstand der Worte, also Kriegs- und Friedens­erklä­rung zugleich. Ärgernisse, ebenfalls noch bei Kiepenheuer und Witsch in Köln er­schienen, erlaubte den Blick zurück und auf die Formationen mög­licher Zukunft. Beide Bücher von 1959 und 1961 wurden 1971 im Fischer Verlag Frank­furt/Main mit Kopf und Bauch fort­gesetzt und 1974 mit Der Wider­spruch abge­schlossen. Über die Spanne von 1961 bis 1971 wird noch zu reden sein.
  Das Ende der klassischen Tragödie der Kom­munis­ten fand und findet als Para­noia in Marxens Geburts­land Deutsch­land statt. Politi­sches Finale 1989/90 – danach ein ver­eintes Zurück auf gestern und vor­gestern und die daraus folgende Tren­nung von Philo­sophie und Poli­tik. Die wenigen ver­blie­benen Kom­munisten und majo­ritären Anti­kommunis­ten spielen jede Seite für sich Wallen­steins Lager. Wer verrät wen. Wer schafft wen ab. Inzwischen wechselt der Glaubens­krieg die Farbe und beginnt die gesamte Welt zu trennen wie vordem Deutsch­land, das sich seit 1848 seinen roten Marx nicht verzeihen will und den impe­rialen Antigeist mobi­lisiert. Der Sieg der Bonner Republik desta­bili­siert die ver­einig­te Berliner Republik zur asymme­trischen Demokratie – woran bereits die DDR verendete. Sollten ihr andere Länder nachfolgen wollen, wäre die Postdemokratie perfekt.
  Walter Jens, mit dem dieser 18. Nachruf beginnt, soll dazu das letzte Wort haben, das ich mit Dank und nicht ohne Rüh­rung zitiere, nimmt es mich doch in die Pflicht: »Jetzt kommt Zwerenz, stellt Fragen, stellt in Frage, der Unbe­queme, und be­weist, dass alles auch ganz anders sein könnte. Ärger­nis­er­regend, immer zwi­schen den Fronten. Schläge austeilend: Schrift­stel­ler wie er sind in einem Au­gen­blick wie dem jetzigen wichtiger denn je.« Die letzten Jahre ver­brachte Walter Jens in geis­tiger Umnach­tung, die als Folge eines ver­ges­senen Details seiner Ver­gangen­heit gedeutet wird. Da müssten aber viele die intel­lek­tuelle Insol­venz fürchten.
Gerhard Zwerenz    08.07.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon