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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 50 |
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Tage der Konsequenzen
Matthias Platzeck und Lothar de Maiziére – Abweicher und gespaltener Adel
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Die Staatsfeiern sind vorbei. Der Mauerfall liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Hatten ja zum Jubiläum von Gauck bis Biermann so viele viel zu sagen. Auf denn Mauerbauer, vorwärts zu neuen Grenzen. Ich hatte auch etwas zu sagen. Vor mehr als 25 Jahren, exakt vor 53 Jahren. Und das begann so:
»DER TAG DER KONSEQUENZEN – August 1961
In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 siegte Chruschtschow bei Bonn. Ohne die Politik von Hitler, Ulbricht und Adenauer wäre das nicht möglich gewesen. Auf dem Schlachtfeld blieb die zerstückelte deutsche Nation. Siebzehn Millionen Deutsche wurden in Gefangenschaft geführt, fünfundfünfzig Millionen Deutsche ließen durch ihre Sprecher ihre Empörung erklären und begaben sich an den gedeckten Frühstückstisch … So bleibt nur noch eins: Bonn möge versuchen, durch Verhandlungen mit Moskau in Mitteldeutschland liberalere Zustände zu erreichen.«
Damit begannen zwanzig Wut-Seiten, die ich direkt in den Mauerbau-Tagen notierte, nachzulesen in Wider die deutschen Tabus, Paul List Verlag, München 1962 und wer möchte, darf in der damaligen Aufforderung, Bonn möge mit Moskau verhandeln, einen frühen Anstoß zur neuen Ostpolitik erkennen, wie sie später von Willy Brandt und Egon Bahr begonnen wurde. Die heutigen Aktionen Richtung Russland ähneln dagegen der uralten Ost kriegspolitik. Da wagt ein SPD-Mann einige wenige nicht vernunftfeindliche Worte zu äußern und schon spuckt die FAZ wie ein übellauniges Lama: »Viel Unmut über Platzecks Krim- Äußerung – Makaber – Ein gefährlicher Irrtum – Platzeck redet dem Appeasement das Wort … « FAZ 20.11.2014.
Es geht um die Krim, Putin, Russland und man will »keine militärischen Lösung«, doch Putin soll klein beigeben und am besten verschwinden. Wie das realisieren, wenn nicht militärisch? Napoleon scheiterte in Russland, Wilhelm Zwo, Adolf Hitler. Wer wird der nächste kampfeslustige West-Heros sein? Die Russen zogen sich schon von der Elbe zurück. Warum nicht bis Wladiwostok? Obama schwächelt und ernennt Merkel zur stärksten Frau. Sie glaubt es, telefoniert und konferiert intern mit Putin und bedroht ihn öffentlich so geschichtsvergessen, dass Steinmeier zum Kreml, cum grano salis Canossa, aufbricht und die Scherben zu kitten versucht. Keine Kriegslösung bittschön, das deichseln wir mit wirtschaftlichem Druck. Da grätscht ausgerechnet die FAZ am 21.11. dazwischen: »Wirtschaftssanktionen gegen Russland liegen nicht im Interesse Europas«, so unser SPD-Platzeck sowie der CDU-Lothar-de-Maizière, nicht zu verwechseln mit dem Thomas gleichen Nachnamens als stählerner Innenminister. Der deutsche Adel bis ins Familiäre gespalten? Ich riet diesen fraglichen Figuren schon 1961, mit Moskau zu verhandeln. Sie spielen immer wieder Russisches Roulette. Dagegen schreibe ich weiter meine unordentliche Autobiographie vom Anfang bis ins nahe Ende.
Entwicklungen
Als ich sieben Jahre alt geworden war,
sprach einer im Radio zum deutschen Volk.
Das ist unser Führer, hörte ich sagen
und lernte, ich sei mit angesprochen.
In der Schule sagte ich jawohl. In der
Hitlerjugend sagte ich jawohl. Als
Soldat sagte ich zwei Jahre lang jawohl.
Bis ich nein sagte und meiner Wege ging.
Seither reagiere ich misstrauisch,
spricht jemand im Namen des deutschen
Volkes. Fürsorglich sage ich nein.
Besorgt, dass es ein Volk von Ja-Sagern werde.
In meinem Alter lerne ich erkennen,
das Volk sagt weder ja noch nein.
Seine Obrigkeiten sind es, die dem
Volk sagen, dass es ja zu sagen habe.
Dies ist mein Volk nicht.
Seine Intellektuellen sind meine nicht.
An ihren Irrtümern nehme ich nicht teil.
Ich sage nein und gehe den 3. Weg.
(aus Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht, Hamburg 1989)
Enzensberger hielt 1968 die Bundesrepublik für »nicht dem Kommunismus konfrontiert, sondern der Revolution«, was dem Spiegel eine Sonderbroschur mit Umfrage wert war. 2014 bringt Suhrkamp frühe Hans-Magnus-E-Reiseberichte heraus, inklusive Staatsbesuch bei Chruschtschow. Kein Wort zur Politik, gar Revolution. Wie gern hätte ich mit Nikita C. mal über seine Anti-Stalin-Rede geschwätzt und gegen die neue Eiszeit. Deutsche Dichter – daheim Großmaul – draußen stimmlos. Gegenbeispiele: Günter Wallraff, Erich Fried, Robert Neumann … und wir naiv-glaubenden DDR-Oppositionellen, nach Bautzen oder Richtung BRD ausgebremst. Existenz-Differenzen zwischen Kommunisten im Widerstand und/oder als Staatsbeamte. Statt aufrechter Gang Substanzverlust per Karriere. Grass, der Minister Karl Schiller lauthals aufforderte, seine Nazivergangenheit einzugestehen und selber die dicke SS-Lippe unterm Schnauzbart abtarnte, bis ihm der Literaturnobelpreis herauseiterte. Warum erwähne ich die Namen der ausgekochten BRD-Klassiker? Stehen doch alle Weichspüler detailliert liebevoll wie sich's gehört im langen Auto-Biographie-Text verzeichnet. Lese etwas über die Heinrich-Böll-Stiftung. Haben die Grünen sich an Bord geholt. Schlingern links von rechts und rechts von links. Eine superchristliche Obergrüne giftet gegen Putin. Böll ließ die Ostfront hinter sich. Alles vergessen oder nie gewusst. Die Partei des Stifters auf dem Holzweg vom Wesen zum Unwesen. Die Linkspartei aber auf Gegenkurs vom Unwesen zum Wesen. Hält der Glücksfall an? Das walte Hegel. »Die Niederlage der Revolution von 1848 vollendete den Zusammenbruch des Hegelschen Systems …« Georg Lukács in Die Zerstörung der Vernunft.
Von da an ging's bürgerlich bergab: 1914, 1918, 1933, 1945, 1989, 2014 und die ewigen Rechtskrieger rüsten fleißig auf. Die letzte Chance der Linken: Das Volk mag bisher nicht mitmachen. Das Volk, wer ist das? Ich bin hier das Volk, indem ich mein Leben beschreibe. Die Desertion August 1944 aus der Wehrmacht war meine zweite Geburt. Die Desertion aus Stalins Leipzig 1957 wurde die dritte Geburt. So die Existenzmodifikationen der pazifistischen Revolte, die begonnen hat. Gäbe es noch Politiker und Philosophen von Format, fänden sie darin ihr universales, also globales Ziel. Die adäquate Philosophie jedoch verendete mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts. Politische Machthaber, Monarchen und Militärs setzten den Schlusspunkt 1914. Was darauf folgt, sind so logische wie irrwitzige Konsequenzen. Die Literatur, nach dem 1. Weltkrieg noch wirksam, verkam nach Weltkrieg 2 zum passiven Buchmarkt, bis auch der sich aufs bloße Hören, Bilderkonsumieren und Analphabetentum zu reduzieren begann. Wir können mit der individuellen Anarchie autobiographischer Schreibweisen pazifistische Revolten nicht entfachen, aber als Möglichkeit dokumentieren. Wenn heute nur für eine Minderheit, so später vielleicht für die ersten neuartigen Erd-Pioniere, die nach der von ihren Vorläufern selbstverschuldeten Vernichtung den Ascherest von fernen Sternen her aufsuchen. Für diese künftigen lesekundigen Neu-Beginner variieren wir auch den schönen alten Titel, weil Sachsen, obwohl Freistaat, als Trümmerhalde dazu nicht ausreichen dürfte. Also kann man es auch nennen:
Ingrid und Gerhard Zwerenz
Die Blochianer
Notizen von der pazifistischen Revolte
Hier sollte ursprünglich stehen Die Blochianer kommen … So wie die pazifistische Revolte kommen wird. Oder das Ende. Aus einsichtigen Gründen greife ich zurück auf frühe individuelle Erfahrungen, wie sie im Nachruf 46 verzeichnet sind:
»Als Fünfjähriger ging ich an der Hand meiner Großmutter durch den Ort. Mit dem Finger wies sie auf einzelne Häuser, die Namen von Gefallenen nennend, da hatte eine Frau ihren Mann, dort ihren Sohn verloren. Warum standen die Männer nicht wieder auf, wenn sie gefallen waren fragte ich und erfuhr gefallen bedeutete, im Krieg getötet worden zu sein. Diese Frauen und Mütter wussten mehr als wir wissen durften. Ich nahm mir vor, nie zu den Gefallenen zu gehören. Und wenn, stünde ich wieder auf.«
Wenn ich ruhig und gelassen nachdenke, weiß ich, mein kindlicher, trotziger Vorsatz, nicht bei den Gefallenen zu enden, bildet den Kern dieser Autobiographie, doch den sechs Sätzen folgen zwei weitere:
»Heute, mit fast 90 Jahren wünsche ich mir eine Zaubermedizin, die nach dem Abgang jede denkbare Wiederkehr auf diesen Erdball verhindert. Es muss doch irgendwo unter Milliarden von Himmelskörpern noch etwas Vernünftiges geben.«
Das ist richtig und falsch gewünscht. Als Wiederkehr auf den ewig kriegsgeilen Erdplaneten abzulehnen. Falls es aber noch vernünftige Zukunften geben sollte, und dazu brauchte es statt der Götter der Menschen, ist der Toten Rückkehr denkbar. Setzen wir also, diese Freiheit nehme ich mir gerade als Atheist, auf die vierte Geburt.
Die Zitate aus Nachruf 46, Seite 5 enden mit Worten von Walter Benjamin. Demnach hat »die Menschheit mit ihrer Selbstentfremdung jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.« (Walter Benjamin Illuminationen, Suhrkamp 1961) Inzwischen misslang zum Glück die faschistische Ästhetisierung, allerdings auch die Politisierung der Kunst. Und nicht allein der Kunst. Die Politik selbst tendiert zum universell-faschistoiden Chaos. Die Tage der Konsequenzen reihen sich nicht endlos, ebensowenig endlos ist die Zeit.
Die Frankfurter 42. Römerberggespräche am 13. Dezember 2014 laufen unter dem bemerkenswert knieweichen Titel:
Doch wieder Krieg?
Globale Bedrohungen und das Dilemma des Friedens
Mal abwarten, welcher Friedensengel oder Kriegsbengel dazu etwas beizutragen hat. Die USA liefern Kiew schwere Waffen. Putin finanziert die Marine-Le-Penisten. Merkel bedroht Putin. Ein Gespenst geht durch Europa. Der Gauck ist los, läuft mir mit seinem Bundesverdienstkreuz geschmückt hinterher. Ich hänge es ihm übers rechte Ohr und erkläre: Hier stehe ich und bin als Deserteur immer noch derselbe. Hau endlich ab, Militärpfarrer!
Die Glaubenden
Ich trage keinem etwas nach
Ich beschuldige keinen
Ich entschuldige keinen
Ich habe einfach Schwein gehabt
Ich sage zu Kain: Du wirst keinen Abel finden
Ich sage zu Abel: Dir blieb viel erspart
Ich sage zu mir: Welch ein Glück
Dir gelang weder Kain noch Abel zu sein
Du bist begünstigt vom Geschick
Opportunisten sehe ich zu Opfern sich vermummen
Täter gehen als Unschuldslämmer
Ihr habt geglaubt sage ich
Vor euch glaubten welche
Nach euch folgen Gläubige
Keiner muss dran glauben
Als Tilly Magdeburg stürmte ließ er die
Stadt plündern die Frauen und Kinder
Vergewaltigen alle Einwohner schlachten
Denn er war ein großer Glaubender
Vor dem Herrn. Tilly ist unsterblich
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