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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  2  Nachrufe & Abrechnung

Zwischenbericht (2): Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?



 


Einen Spartacisten oder Atheisten
ersatzweise ans Kreuz nageln?



Howard Fast: Spartacus
Büchergilde Gutenberg (1978)



Philosophie ist ein unbe­kanntes Wesen und zugleich der gras­sierende deutsche Modehit. Offi­ziell trägt man wieder Gott. Nur glaubt keiner mehr so richtig daran. Also erinnern sich die akade­mischen Rentner, die einst in Adenauers Wunder­jahren einen Brotberuf ergriffen, da war doch außer Jura, Medizin, Betriebs­wirt­schaft, Pädagogik usw. noch etwas und sie füllen als wohl­tempe­rierte, wissens­durstige, leicht verun­sicherte männ­liche und weibliche Senioren die Audi­torien und Seminare. Gleich geht ein Ruck durch die Welt. Sloter­dijk bewohnt ein Bierfass. Angela kommt vorbei und fragt ihn, geh mir aus der Mitter­nachts­sonne, be­scheidet der Meister­denker die mächtigste Frau des Erdballs. Sokra­tes streift durch Berlins Mitte, verwickelt die Leute ins Gespräch und weiß alles besser. Seine Xantippe hat er in Athen gelas­sen, sie kann ihre Bohnen­suppe alleine löffeln und er nach Her­zens­lust streunen. Platon reist dreimal nach Sizilien, verun­glückt mit der Eisen­bahn, hat Pannen mit dem Merce­des, stürzt mit dem Flieger nicht ab, wird aber in Syrakus über­fallen und entführt. Dafür gibt's seinen Kol­legen Aristo­teles in Hülle und Fülle, jeder Alt-Studio­sus wird nach dem ersten Semes­ter und glücklich be­stande­nem Examen zum Dr. arist.h.c. ernannt, weil die west­liche Werte­gemein­schaft Leis­tung verlangt. Man muss diesen Griechen doch zeigen, was eine Harke ist, die es statt Euros nach Athen zu schlep­pen gilt. Gott oder Aristoteles ist das Thema der Günther-Jauch-Runde am Sonntag. Nach einem teil­nehmenden Sparta­kisten oder Atheisten wird noch gesucht. Wer will sich ersatz­weise ans Kreuz nageln lassen?
  Da spaziert dieser Herr Zara­thustra daher und nietzschelt: »Habt Mut, o meine Brüder? Seid ihr herz­haft? Nicht Mut vor Zeu­gen, sondern Ein­sied­ler- und Ad­ler-Mut, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maul­tiere, Blinde, Trun­kene heißen mir nicht herz­haft … Herz hat ... wer den Ab­grund sieht, aber mit Stolz.« Auf denn, ihr stolzen Elite-Seelen.
  Derart spiegelt das indus­triel­le Zeitalter sich in den Köpfen vater­los-väter­licher Über­menschen. Den stolzen Kultur­kreis erschüt­tern derweil zwei intel­lektuel­le Kata­stro­phen. Erstens der lang­same Tod der Frank­furter Rund­schau. Zweitens die post-antike Tragö­die im Hause Suhrkamp. Beides hat mit der Revo­lution zu tun, also mit den ostwest­lichen Querelen beim welt­berühm­ten Verlag in Frankfurt/Berlin.
  Der Bloch-Komplex im Hause Unseld: Zur Jahres­wende 2012/13 zeigte das Feuilleton sich vom eska­lie­renden Suhrkamp-Konflikt bedauernd oder schaden­froh be­troffen. Wir waren so frei, in Sklavensprache und Revolte den Fall samt Vor­geschichte schon 2004 zu signalisieren:


 

Siegfried Unseld zog dem Hintern des Teufels die Liebe zum Gelingen vor, obwohl beides originale Bloch-Sätze sind

Peter Zudeick und sein Bloch-Buch Der Hintern des Teufels



 
Bevor die kenntnis­reiche, glänzend geschrie­bene Bloch-Biographie Der Hin­tern des Teufels im Elster Verlag, Baden-Baden, erschien, hatte sich der Autor Peter Zudeick bei Suhrkamp er­kundigt, ob man dort an seinem Buch interes­siert sei, außerdem fragte er wegen diverser Ab­druck­rechte an. Eine Antwort blieb aus, Tele­fonate trugen nur hin­haltende, nicht durchschau­bare Auskünfte ein. Schließlich brachte Elster die Bio­graphie heraus, Siegfried Unseld las sie und rea­gierte auf den Titel äu­ßerst pikiert. An Zudeick schrieb er: »Ich muß Ihnen sagen, daß ich ihn wirk­lich schreck­lich finde und der Sache abträglich.« Ein Bloch-Zitat als Titel einer Bloch-Bio­graphie erregte soviel Miss­fallen bei Blochs wich­tigstem Verleger, daß daran sogar eine ge­plante tb-Ausgabe bei Suhr­kamp scheiterte, denn der Autor weigerte sich mit Recht, den Titel zu ändern. Zudeick beschreibt in der Bio­gra­phie auch die Leipziger Zeit des Philo­so­phen, soweit damals vor­handenes Mate­rial es ge­stat­tete. Daß ab 1989 mit dem Ende der DDR noch ganz andere, geheim­gehaltene Vor­gänge eruier­bar wurden, ließ den Haus­verlag des Philo­sophen kalt. Bloch war längst von allen DDR-Schlacken ge­reinigt worden, sein lebenslanges, revo­lutio­näres Sozia­lis­mus-Projekt war nur mehr eine exo­tische Arabeske in der sakro­sankt-ste­rilen Suhrkamp-Kultur.

Folgt der Vater-Sohn-Konflikt im Hause Unseld. Es geht, worum denn sonst in der deutschen Familie, um Adolf Hitler und die Folgen. Wir verstehen Unseld junior gut, doch ein wenig nehmen wir den Vater gegen den ver­letzten Sohn in Schutz:
  Die Edition der Werke von Brecht und Bloch bleibt ein Ruhmes­blatt, so wie die Deckelung des ost­berliner Aufbau-Verlages durch dessen eigene Partei eine ewige Schande ist. Noch vor ihrem Ende beging die DDR Selbst­mord auf Raten. Mit Recht war der Philosoph in Leipzig stolz gewesen auf den Zustrom von Hörern, der Gelehrte, weder über­kandidelt noch abgehoben – ein Mann des Volkes. Die SED reagierte darauf mit Eifer­sucht. In Ost wie West wurden diverse Obrig­keiten ob der Wirkung Blochs nervös. Suhrkamp bot damals Schutz, Chance und Niveau. Man lese H. M. Enzens­bergers treff­liche Rezen­sion von Erbschaft dieser Zeit im Spiegel Nr. 27/1962 und vergleiche damit die späteren Ausfälle des Autors bis hin zu dem obs­kuren Einfall, Hitler den Ländern der Dritten Welt zu­zuordnen. Anders Peter Handke. In Kopf und Bauch notierte ich 1971: Peter Handke, der in Düsseldorf sagte: ›Du reagierst zu konse­quent und böse ... ‹ Drei Jahrzehnte später kann ich ihm das Kompliment zurück­geben, denn er erweist sich in Phantasie und Charakter als politisch standfest, das vitali­siert wohl­tuend mitten im post­modernen Panop­tikum.

Allerdings taucht nun eine zweite Mama auf:
  Die Mutter hatte sich vom Vater wegen dessen Affären scheiden lassen, an ihre Stelle rückt eine jüngere Schau­spielerin, die ver­störend attraktiv auftritt, und schon beginnt eine den Erdkreis bis in die Herzen der Dar­steller er­schüt­ternde Tragödie. Wie fern­ge­lenkt druckt dazu die stilvoll-boshaft kommen­tierende Tages­zeitung Junge Welt am 6./7. März einen kurzen sach­lichen Text über Blochs un­ortho­doxen, vitalen Mate­rie­be­griff, dem nicht ganz un­ironisch »Sex-Appeal« be­schei­nigt wird. Am Ende heißt es: »Der Bloch war gar nicht so blöd, wie vor allem seine Anhänger tun.« Da hat sich der Ver­fasser ziel­sicher aus­gekotzt. Denn, ver­gessen wir nicht, immer noch steht das Bloch-Wort Ins Gelingen verliebt zur Dispo­sition, das anläss­lich eines Vater­mordes auf Hitlers Müll­halde trans­portiert wird. So spielt das Leben im wilden Westen seine Ir­rungen und Wir­rungen durch. Im Osten war Blochs Philo­sophie poli­tisch in einem Maße ernst genommen worden, daß der Staat mit volks­eigenen Kanonen auf Spatzen schoß, die sich in seinen Augen zu Geiern zu mausern schienen. Im Westen langt es gerade noch zum Kleinen Fernsehspiel einer Familien­serie, ange­siedelt im kultu­rellen Milieu, und animiert schaut die glücklich vereinte Nation zu. Das eben ist Kunst.


Der Kunst-Zustand im Hause Suhrkamp verlangt an dieser Stelle nach einem Vor­schlag zur Ver­nunft:
  Wären Unseld-Sohn und Papas junge Witwe bei Sinnen, ver­einigten sie ihre phäno­menalen Ener­gien, was wir uns ganz egois­tisch wün­schen, weil dann dem im Verlag ver­nach­läs­sig­ten Ernst Bloch min­des­tens soviel Auf­merk­sam­keit zuteil würde, wie sie der von der hei­mat­lichen Main-Metropole begüns­tigte Lokal­phi­lo­soph Adorno reich­lich erfährt. Der Verbund beider Energie­poten­tiale ist schon deshalb anzuraten, weil das Kollektiv nachge­wachsener Talente mit dem Tod des Ver­legers und Organisators selbst tödlich bedroht ist. Da rastet eine Firma von der Infan­tilität direkt in die Seni­lität. Ach ja, die Prospe­ritäts-Linken gehen schlechten Zeiten entgegen. Verun­sichert proben sie den neo­bürger­lichen Rechts­schwenk. Rings um den alten Suhrkamphorst aber sammeln sich die post­modernen Feuil­leton-Geier, aas­wittend die krummen Schnäbel wetzend. Bestürzt fragen sich die Hinter­bliebenen, wer nach Siegfrieds Tod die Büchner-Preise in Darmstadt ein­sammeln könne. Ein neues PR-Genie wird gesucht.

Im ersten Akt des Stückes war es ein Familien­drama mit Ernst Bloch als äußere Kunst­figur. In der Fort­setzung scheidet der Unseld-Sohn abgefunden aus und ein Barlach-Enkel ersetzt ihn ange­messen streit­bereit. In Sklavensprache und Revolte ist nach­zulesen, was zu Suhrkamp-Unseld-Bloch anzumerken ist:
  Reden wir, Genossen und Genießer, endlich Fraktur statt Sklavensprache: Für die Bonner Repu­blik entwickelte sich der von Leipzig nach Tübingen abge­gangene Denker zur hoch­verehrten Ver­legen­heit, einer­seits gefeiert und gepriesen, ande­rer­seits von Golo Mann über Joachim Fest bis zu Helmut Schelsky als Revolutionär befeindet und in seiner Wirk­samkeit blockiert. Die Frage bleibt, wie Denker und Kapital einander begeg­nen. War die DDR einer falschen Philo­sophie gefolgt, verzichtet die Ber­liner Repu­blik auf alle Philosophie und zieht das Chaos neoliberaler und konser­vativer Irrea­litä­ten vor. Bloch ist der Klassiker einer er­neuerten Exis­tenz­philo­sophie, der Archetyp der neuen Alten, die als neue Jugend an­traten und es blieben. Der früheste poli­tische Ein­griff und Angriff Blochs war sein Pro­test gegen den Ersten Welt­krieg. Daraus erwuchs sein Para­dig­ma des Auf­rechten Ganges trotz partieller Sklaven­sprache und temporärer Nieder­lagen.
  Es ist an der Zeit, die Philosophie und Geschichte Blochs neu zu lesen und zu denken, statt moribund im Konser­vatismus der Welt­bürger­kriege zu verharren. Die deutsche Polit­klasse befindet sich intel­lektuell und seelisch noch immer in den Schützen­gräben von 1917/18 und schwebt in Ängsten vor dem Dolchstoß in den Rücken. Die Feinde folgen einander in Ewigkeit: Franzosen, Russen, Spartakisten, Kommunisten, jüdi­sche Bolsche­wisten, Terro­risten, Islamisten ... Ohne Bloch ist die deutsche Philo­sophie und Politik ein Kriegs­versehrter, dem der linke Arm fehlt.

Mag der linke Arm fehlen, Blochs Worte fehlen nicht. Im Gegenteil. Der Suhr­kamp-Krise zweiter Teil spielt zwischen Unselds Witwe und Barlachs Enkel. Ein deutsches Kul­turh­eroen­duell en suite. Sohn Joachim revol­tierte gegen Vater Sieg­fried wegen a) Adolf Hitler und b) Ernst Bloch. Familien­drama mit Autoren­beglei­tung und Nähe zu Richard Wagners Sänger­krieg. Die Story, in Sklaven­sprache und Revolte hin­reichend doku­mentiert, hier kurz­gefasst: Sohn kreidet dem Vater dessen naive HJ-Ver­gangen­heit und Führer­liebe an. Siegfried laut Joachim zum Sohn: »Jetzt spiele ich deinen Führer und ent­täusche dich … so wie Hitler mein Vater war, der mich ent­täuschte.« Soweit mag Freud inkludiert sein, der Sohn aber holt Ernst Bloch zu Hilfe, der als Autor zum Verlag zählt und von dem Unseld senior die drei Worte Ins Gelingen verliebt so infla­tioniert, dass dem Junior kotzübel wird. Vater Unseld spielte einst mit einer Burg, bestückt von Sol­daten in Nazi-Uniform samt Nazi-Fahnen? Aber ja: »Das ist seine Kindheit. Mein Vater, 1924 geboren, ging durch diese ganze Nazi-Geschichte, wurde dann ins Wirt­schafts­wunder-Land ent­lassen. Er konnte nicht über sich selbst sprechen.« Statt­dessen besorgte er sich Worte vom Philo­sophen.
  Das ist nicht nur ein Urteil des Sohnes über den Vater. Nicht nur ein Urteil über den Verlag. Es zeigt die schwärende deutsche Generationswunde. Die Nobel-Preisträgerin Herta Müller über ihren Vater:»Immer wünsche ich mir, diesen Vater noch im Nachhinein daran hindern zu können, ein SS-Soldat geworden zu sein.«



Inzwischen sammelte sich eine exquisite Bibliothek von Nachkommen an, die ihre Eltern verdammen. Überdies gibt's die Zwischengeneration – als Junge in den Krieg, als junger Mann aus dem Krieg, als Erwachsener Karriere, als Greislein völlig unbetroffen. Das Sortiment Alfred Dregger, F.J. Strauß, Helmut Schmidt … Bitte aus dem Schatten Hitlers heraus­zutreten, der gute Krieg geht weiter und braucht euch. Sie machten vorher mit, sie machten nachher mit. Sie schreiben ihre Memoiren wie Kochrezepte. Nicht zu reden von den Generälen, die immer nur gesiegt hätten, wäre es vom Führer nicht verhindert worden. Der schob die Schuld seinen obersten Offizieren zu und verkroch sich in den Tod als wärs ein Mauseloch. Als Arbeitgeber überlebt er in ca. tausend Filmen, Büchern und Künstlern. Die Kultur der Wieder­geburt als ewige Wiederholung von Totgeburten.
  Kampf, nicht Krieg lautete Blochs Verdikt gegen den1. Weltkrieg. Statt Kampf könnte Revolution stehen. Schach statt Mühle war die Forderung, mit der sich 1956 Blochs Distanz zur DDR-Regierung artikulierte. Die Liebe zum Gelingen als Floskel führte zum Vater-Sohn-Konflikt im Hause Unseld, weil der Junior die Anleihe des Seniors bei Bloch als Tarnung einordnete. Das Liebes­gebot hat es in sich. Im Vorwort zum 1. Band von Das Prinzip Hoffnung findet es sich schon in der neunten Zeile als ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern und drückte die Hoffnung des aus dem US-Exil in die DDR kom­menden Philo­sophen aus. Umlau­fender Schmäh gegen Unseld senior – weiter voran­geschrit­ten mit der Lektüre sei er sowieso nicht – schon das Schei­tern sparte er aus im Zitat. Es könnte sich verspätet reali­sieren. Kurz­fassung: Vater will Sohn nicht als Nachfolger, holt sich neue Frau ins Haus, Filius macht Ärger, wird ausbezahlt, Geldmangel erzwingt Ein­bezug stiller Teilhaber, Schei­tern inbegriffen. Soweit das Interne als Stück eines Ganzen, das vom Sensations-Feuilleton nicht bedient wird. Die deutsche Ver­eini­gung setzte Pro­zesse in Gang. Die Kultur ist eins ihrer Opfer. Das Personal schau­spie­lert wie Regie im Endspiel an der Börse will.

Rückblende: Warum musste Joachim Unseld in seiner wütenden Abrechnung mit dem Senior ein luzides Bloch-Wort perver­tieren? Mag sein, für den Suhrkamp-Verleger war der Philo­soph ein Therapeu­tikum, ein kultureller Gegen-Hitler, nur wurde er als bloßes Mittel gegen HJ-Erinnerungen benutzt, und daran krankt der ganze Laden. Siegfried Unseld lag an der Sanierung des eige­nen Seelen-Haushalts, was noch akzeptabel wäre, ginge es nicht zu Lasten eines Poten­tials, das aus egomanischen Affekten verschleudert wird. Gesell­schafts-, Kultur- und Wirkungs­geschichte inter­essier­ten höchs­tens soweit der Verleger im gleichen Glanze mit erstrahlte. Wer von der Nazi-Blei­soldaten-Idyl­lik endlich Richtung Her­mann-Hesse-Prosa ausbricht, hat bald große Rosinen im Kopf, für den revo­lutio­nären Bloch und seine Liebe zum Gelingen einer anderen Gesell­schaft jedoch wenig Verständnis. Wie sollte dieser Verleger die Tragödie der Ostdeutschen auch nur erahnen, die um den Philosophen und sein Werk betrogen worden sind?
  Wir, die traumatisierten Jüngeren der Nachkriegszeit, empfanden die DDR als revo­lutionäre Frucht der Geschichte und in den »goldenen Jahren Leipzigs« fanden wir eben hier am Ort Gelehrte wie Werner Krauss, Fritz Behrens, Walter Markov, Hans Mayer, Ernst Bloch, Lehrer also, deren Lehre und Leben uns imponierte, wovon wir zu lernen hofften. Mehr als vom Leben und den Lehren der Adenauer, Globke, Gehlen, Filbinger und jener ihnen ergebenen westlichen Profes­soren, die in ihrer Vergangenheit alles aufzu­weisen hatten oder gar nichts, jedenfalls keine anti­faschis­tische Wider­stands­handlung.

 

Seltenes historisches Dokument der Fabrikarbeiterbewegung aus dem Jahr 1930 auf das Jahr 1890 bezogen




1919 signalisierte die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht die konter­revolu­tionäre deutsche Entschlossenheit zur Revanche für den verlorenen Krieg, so wie 1940 der Mord an Trotzki den Sieg Stalins über Lenin und Marx symbolisierte. Ist Trotzki die Alter­native der SU zum Gegenpart Stalin gewesen? War Bloch die kultu­relle Alter­native der DDR zur veralteten Sowjet­ideologie? Hat die changie­rende Rest-Linke der Berliner Republik heute noch die Wahl, eine durch Bloch erneuerte marxis­tische Philo­sophie zu reali­sieren oder sang- und klanglos wie die fehlerhaft kons­truierte DDR, wenn nicht gewalt­sam wie die Weimarer Republik abzu­treten? Hun­dert Jahre Arbei­ter­bewegung im Schlepp­tau bürger­lich-imperialer Kriegs­politik sind genug. Wenn die Linke nicht die seit 1914 organisierten Welt­bürger­kriege hirn- und herzlos zu konti­nentalen Schlacht­festen verlängern will, ist ihr Platz an der Spitze einer euro­päi­schen, wo nicht welt­weiten Friedens­front nach dem Bloch­schen Motto: Kampf, nicht Krieg. Sprach ich vom Platz an der Spitze? Die SPD war schon einmal dort, bis sie 1914 mit dem Kaiser in den Krieg zog. Da ist etwas zu revi­dieren, gut­zumachen also. Die Christen könnten sich ja an­schließen, falls sie ihren wahren Meister­denker Jesus neu zu ent­decken wagen sollten.
  Deutsch­land war nie eine Nation. Die Volks­stämme blieben ego­zen­triert unter­tan. Fanden raub­kriege­risch auf Befehl zusammen und liefen in der Nieder­lage aus­einander. Das Fami­lien­drama im Hause Unseld spiegelt die deutsche Tei­lung als Komö­die. Der kultu­rel­le Verfalls­pro­zess in Thomas Manns Gesell­schafts­dra­ma Budden­brooks findet seinen Epilog im Versuch, der Buch-Indus­trie mit Buch-Kunst zu begegnen. Bevor das www mit Gefolge das Buch trans­formierte, gab es Stunk unter Ver­wandten und Begleitern. Das Modell des indi­viduel­len Königs der Verlage war auf­ge­braucht. Die Autoren? Mobile Genia­litäten wie ihre Herr­schaft. Die neue Herr­schaft heißt Google, Facebook und Shades of Grey – per befrei­ter Lust zur gefessel­ten Liebe und Ende des geheimen Ver­lan­gens.
  Der Blick auf die Gegenwart könnte zur Melan­cholie verführen. Wir ersparen sie uns mit einem Blick zurück auf das kulturelle Leben in Deutschland vor 1933 – stellen wir uns vor, die Jahre 1933 bis 1945 hätte es gar nicht gegeben. Wie sähe, ach was, wie sieht unsere unzerstörte Kultur­land­schaft aus? Hier ein Panorama:
  Thomas Mann wohnt noch in München und geht im Engli­schen Garten spa­zieren, einen Hund, Bauschan den Achten, Neunten oder Zehnten an der Leine führend. Heinrich Mann kommt mit­unter aus Paris zu Besuch, sich losreißend von den Archiven franzö­sischer Historie, aus denen er eben wieder eine Roman­trilogie filterte, die Brüder rufen den nicht weitab wohnenden Lion Feuchtwanger zum Nach­mittags­tee zu sich, bitten schließ­lich den treuen Chronis­ten Alfred Kanto­rowicz dazu. Ossietzky gibt in Berlin die Weltbühne heraus, Tucholsky schreibt noch, wenn auch, nach der neunten Nasen­neben­höhlen-Operation, viel seltener und melan­cho­lischer. Am Schiff­bauer­damm-Theater heißt der Inten­dant Bertolt Brecht, erfreut sich bester Gesund­heit und unge­zählter Anbe­terinnen, im Bett so über­zeugend und ein­falls­reich wie auf der Bühne. Die Weigel spielt ab und zu noch eine ihrer großen Partien. Im Parkett sitzt ein kleiner weißhaariger Ungar, der unver­drossen dem Brecht-Theater ungünstige Kritiken schreibt: Georg Lukács. An der Universität lehren die Kapazitäten Bloch, Benjamin, Adorno Philo­sophie, der erste und der dritte können einander nicht ausstehen, während Bloch und Benjamin ganz gut harmo­nieren. Auf den all­jähr­lichen Hegel-Kon­gressen wird der Marxis­mus bis zu seinen frühesten Anfängen weiterentwickelt, wogegen die vereinigten kom­munis­tischen Parteien unter Thälmann, Ulbricht und Honecker schärfs­tens protestieren. In Berlin gibt es eine große Barlach-Ausstellung, der Meister ist seit Jahr­zehnten auf dem Gipfel seines Ruhmes, Kokoschka sitzt in Dresden, seine Produk­tivi­tät ist gebremst, von Danzig her über­schwem­men kleine krude Madonnen-Statuet­ten das Land, hergestellt von einem sonder­baren schnauz­bärtigen Bild­hauer mit den Ini­tialen G. G. Gropius-Bauten prägen das Stadt­bild Berlins, Bau­haus hat den Sie­ges­zug durch alle deutschen Provinzen ange­treten. Eben wird das 78. Volks­stück des greisen Ödön von Horvath in Wien urauf­geführt, immer noch mit der ätzenden Schärfe seiner Frühzeit. Der längst vergessene Her­mann Hesse ist durch den Antiquar S. U. aus Frankfurt wieder­entdeckt worden und erreicht Massen­auf­lagen. Tucho schreibt eine Glosse darüber, in Witz und Wut ganz wie in seinen An­fängen, was ihm selten noch glückt. Ein gewisser Axel Cäsar Springer bringt in Husum ein Blättchen heraus, das mitunter durch muffige rechts­nationa­listische Artikel von sich reden macht. Berlin schüttelt sich amüsiert. Von Wien her fällt Karl Kraus eine Menge ein über Deutsche und Oster­reicher; die Hoch­burgen der Psychoanalyse in Berlin und Wien sind welt­berühmt, halb Deutschland liegt ständig auf der Couch, was den rund um den Erdball aner­kannten Physiker Einstein, Lehr­stuhl­inhaber in der Hauptstadt, zu ironischsten Kommen­taren inspiriert, betrachtet er das tiefen­psycho­logische Gewese und Gewusel doch mit der Respekt­losig­keit des Rationa­listen und Natur­wissen­schaft­lers.
  Wernher von Braun erklärt in einem sensationel­len Interview mit dem Star-Re­porter von der Ull­stein-Presse, Arthur Koestler, die reichs­deutsche Mond­fahrt und Mond­landung in aller­nächster Zeit für realisier­bar. Der Lübecker SPD-Reichs­tags­abge­ord­nete und Journa­list Willy Brandt wird in parla­menta­rischen Aus­einander­setzungen wegen seiner absoluten Konzilianz häufig vom elo­quenten KPD-Frak­tions­vor­sitzenden Herbert Wehner attackiert. Von Hamburg her versucht ein Mann namens Rudolf Augstein gegen die mächtige Berliner Presse ein Wochen­magazin durchzusetzen, was wegen der geballten haupt­städti­schen Intel­ligenz und Welt­läufigkeit per­manent miss­lingt. Das Unter­nehmen kann Augstein auch deshalb nicht glücken, weil er nicht versteht, die wichtigsten jüdischen Links­intel­lek­tuel­len bei sich schreiben zu lassen. Der heilige Krieg zwischen den beiden Marcuses Herbert zum einen und Ludwig zum anderen schlägt Wellen in den Redak­tionen. Seinen Wohnsitz zwischen Wien und Berlin regel­mäßig wechselnd, bereitet Robert Neumann eben den 66. Band seines Dauer­erfolges Mit fremden Federn vor, was ihm ange­sichts der lebendigen, weit­ge­spannten, unge­mein indivi­duellen Lite­ratur Deutsch­lands nicht schwerfällt. Die Belletristik, in der Hauptstadt zentriert, steht in hoher Blüte. In Köln, dem westlichen Außen­posten des deutschen Reichs, legt sich der Schrift­steller Heinrich Böll stets von neuem mit seinem Kardinal an, was das katho­lische Rhein­land immer wieder aufrührt und die übrige Republik angenehm unter­hält. Walter Hasen­clever, Stefan Zweig, Ernst Toller er­freuen sich guter Gesundheit; Willi Münzen­berg ist der Boss der Gewerk­schafts­verlage, die er, kräftig aus den Lumpen schüttelnd, zu über­raschenden Aktionen hoch­peitscht.
  Soviel als anatomischer Quers­chnitt deutscher Pluralkultur ohne Hitler-Hiatus. Unter diesem Aspekt fand das verle­gerische Familien­drama von Frank­furt am Main gar nicht statt. Kein Hitler­junge spielte je mit seiner Burg voller Nazibleisoldaten. Und alle lebten frei dahin voller Liebe zum Gelingen.
  Am 13. November 1997 ahnte Frank Schirrmacher in seinem FAZ-Leitartikel Suhr­kamp zum Beispiel die Folgen der »Erb­streitig­keiten« voraus. Schirr­macher: »Zwar lebt die Erb­tante noch, aber man kann sich schon einmal, mit Ernst Bloch zu reden, in ihrem Zimmer umschauen. Diese Musterung hat manchem den Schreck in die Glieder getrieben …«
  Von solchen Zimmerschrecken gibt es arg viele. Auch beim alerten FAZ-Chef-Feuil­letonisten. Hatte er 1997 noch kulturelle Prophetie betrieben, schickte er jüngst zum 27. Dezember 2012 eine ganz­seitige Auf- und Abrechnung nach, weil in Springers Blatt Die Welt ein lite­ratur­kritisch tätiger Kollege und Barlachs Enkel ganz andere Zahlen als er vor­legten. So häufen sich rasante Kassen­stürze. Die Szene lebt vom gegen­seitigen Über­höhen und Herunterputzen. Den Schreibtischsöldner von gestern ver­langt es als PC-Formu­lierungs-Offizier nach Gladia­toren-Ruhm. Mit Bloch zu reden heißt das: »Seit der deutsche Redakteur die Verant­wor­tung dafür über­nommen hat, das Gegenteil der Wahrheit zu schreiben, wird ihm die sub­jektive Lumperei durch Öffent­lichkeit erleich­tert und so­zusagen ob­jektiv gemacht.« Nicht ganz ohne Empathie für unsere arme post­kulturelle, kultur­kuriose Elite notierte ich zum Jahr des heutigen Unheils 1989:



(Die Venusharfe Knaur, München)
Gerhard Zwerenz    07.01.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon