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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
2 Nachrufe & Abrechnung |
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Zwischenbericht (2): Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
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Einen Spartacisten oder Atheisten
ersatzweise ans Kreuz nageln?
Howard Fast: Spartacus
Büchergilde Gutenberg (1978)
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Philosophie ist ein unbekanntes Wesen und zugleich der grassierende deutsche Modehit. Offiziell trägt man wieder Gott. Nur glaubt keiner mehr so richtig daran. Also erinnern sich die akademischen Rentner, die einst in Adenauers Wunderjahren einen Brotberuf ergriffen, da war doch außer Jura, Medizin, Betriebswirtschaft, Pädagogik usw. noch etwas und sie füllen als wohltemperierte, wissensdurstige, leicht verunsicherte männliche und weibliche Senioren die Auditorien und Seminare. Gleich geht ein Ruck durch die Welt. Sloterdijk bewohnt ein Bierfass. Angela kommt vorbei und fragt ihn, geh mir aus der Mitternachtssonne, bescheidet der Meisterdenker die mächtigste Frau des Erdballs. Sokrates streift durch Berlins Mitte, verwickelt die Leute ins Gespräch und weiß alles besser. Seine Xantippe hat er in Athen gelassen, sie kann ihre Bohnensuppe alleine löffeln und er nach Herzenslust streunen. Platon reist dreimal nach Sizilien, verunglückt mit der Eisenbahn, hat Pannen mit dem Mercedes, stürzt mit dem Flieger nicht ab, wird aber in Syrakus überfallen und entführt. Dafür gibt's seinen Kollegen Aristoteles in Hülle und Fülle, jeder Alt-Studiosus wird nach dem ersten Semester und glücklich bestandenem Examen zum Dr. arist.h.c. ernannt, weil die westliche Wertegemeinschaft Leistung verlangt. Man muss diesen Griechen doch zeigen, was eine Harke ist, die es statt Euros nach Athen zu schleppen gilt. Gott oder Aristoteles ist das Thema der Günther-Jauch- Runde am Sonntag. Nach einem teilnehmenden Spartakisten oder Atheisten wird noch gesucht. Wer will sich ersatzweise ans Kreuz nageln lassen?
Da spaziert dieser Herr Zarathustra daher und nietzschelt: »Habt Mut, o meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Mut vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Mut, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maultiere, Blinde, Trunkene heißen mir nicht herzhaft … Herz hat ... wer den Abgrund sieht, aber mit Stolz.« Auf denn, ihr stolzen Elite-Seelen.
Derart spiegelt das industrielle Zeitalter sich in den Köpfen vaterlos-väterlicher Übermenschen. Den stolzen Kulturkreis erschüttern derweil zwei intellektuelle Katastrophen. Erstens der langsame Tod der Frankfurter Rundschau. Zweitens die post-antike Tragödie im Hause Suhrkamp. Beides hat mit der Revolution zu tun, also mit den ostwestlichen Querelen beim weltberühmten Verlag in Frankfurt/Berlin.
Der Bloch-Komplex im Hause Unseld: Zur Jahreswende 2012/13 zeigte das Feuilleton sich vom eskalierenden Suhrkamp-Konflikt bedauernd oder schadenfroh betroffen. Wir waren so frei, in Sklavensprache und Revolte den Fall samt Vorgeschichte schon 2004 zu signalisieren:
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Siegfried Unseld zog dem Hintern des Teufels die Liebe zum Gelingen vor, obwohl beides originale Bloch-Sätze sind
Peter Zudeick und sein Bloch-Buch Der Hintern des Teufels
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Bevor die kenntnisreiche, glänzend geschriebene Bloch-Biographie Der Hintern des Teufels im Elster Verlag, Baden-Baden, erschien, hatte sich der Autor Peter Zudeick bei Suhrkamp erkundigt, ob man dort an seinem Buch interessiert sei, außerdem fragte er wegen diverser Abdruckrechte an. Eine Antwort blieb aus, Telefonate trugen nur hinhaltende, nicht durchschaubare Auskünfte ein. Schließlich brachte Elster die Biographie heraus, Siegfried Unseld las sie und reagierte auf den Titel äußerst pikiert. An Zudeick schrieb er: »Ich muß Ihnen sagen, daß ich ihn wirklich schrecklich finde und der Sache abträglich.« Ein Bloch-Zitat als Titel einer Bloch-Biographie erregte soviel Missfallen bei Blochs wichtigstem Verleger, daß daran sogar eine geplante tb-Ausgabe bei Suhrkamp scheiterte, denn der Autor weigerte sich mit Recht, den Titel zu ändern. Zudeick beschreibt in der Biographie auch die Leipziger Zeit des Philosophen, soweit damals vorhandenes Material es gestattete. Daß ab 1989 mit dem Ende der DDR noch ganz andere, geheimgehaltene Vorgänge eruierbar wurden, ließ den Hausverlag des Philosophen kalt. Bloch war längst von allen DDR-Schlacken gereinigt worden, sein lebenslanges, revolutionäres Sozialismus-Projekt war nur mehr eine exotische Arabeske in der sakrosankt-sterilen Suhrkamp-Kultur.
Folgt der Vater-Sohn-Konflikt im Hause Unseld. Es geht, worum denn sonst in der deutschen Familie, um Adolf Hitler und die Folgen. Wir verstehen Unseld junior gut, doch ein wenig nehmen wir den Vater gegen den verletzten Sohn in Schutz:
Die Edition der Werke von Brecht und Bloch bleibt ein Ruhmesblatt, so wie die Deckelung des ostberliner Aufbau-Verlages durch dessen eigene Partei eine ewige Schande ist. Noch vor ihrem Ende beging die DDR Selbstmord auf Raten. Mit Recht war der Philosoph in Leipzig stolz gewesen auf den Zustrom von Hörern, der Gelehrte, weder überkandidelt noch abgehoben – ein Mann des Volkes. Die SED reagierte darauf mit Eifersucht. In Ost wie West wurden diverse Obrigkeiten ob der Wirkung Blochs nervös. Suhrkamp bot damals Schutz, Chance und Niveau. Man lese H. M. Enzensbergers treffliche Rezension von Erbschaft dieser Zeit im Spiegel Nr. 27/1962 und vergleiche damit die späteren Ausfälle des Autors bis hin zu dem obskuren Einfall, Hitler den Ländern der Dritten Welt zuzuordnen. Anders Peter Handke. In Kopf und Bauch notierte ich 1971: Peter Handke, der in Düsseldorf sagte: ›Du reagierst zu konsequent und böse ... ‹ Drei Jahrzehnte später kann ich ihm das Kompliment zurückgeben, denn er erweist sich in Phantasie und Charakter als politisch standfest, das vitalisiert wohltuend mitten im postmodernen Panoptikum.
Allerdings taucht nun eine zweite Mama auf:
Die Mutter hatte sich vom Vater wegen dessen Affären scheiden lassen, an ihre Stelle rückt eine jüngere Schauspielerin, die verstörend attraktiv auftritt, und schon beginnt eine den Erdkreis bis in die Herzen der Darsteller erschütternde Tragödie. Wie ferngelenkt druckt dazu die stilvoll-boshaft kommentierende Tageszeitung Junge Welt am 6./7. März einen kurzen sachlichen Text über Blochs unorthodoxen, vitalen Materiebegriff, dem nicht ganz unironisch »Sex-Appeal« bescheinigt wird. Am Ende heißt es: »Der Bloch war gar nicht so blöd, wie vor allem seine Anhänger tun.« Da hat sich der Verfasser zielsicher ausgekotzt. Denn, vergessen wir nicht, immer noch steht das Bloch-Wort Ins Gelingen verliebt zur Disposition, das anlässlich eines Vatermordes auf Hitlers Müllhalde transportiert wird. So spielt das Leben im wilden Westen seine Irrungen und Wirrungen durch. Im Osten war Blochs Philosophie politisch in einem Maße ernst genommen worden, daß der Staat mit volkseigenen Kanonen auf Spatzen schoß, die sich in seinen Augen zu Geiern zu mausern schienen. Im Westen langt es gerade noch zum Kleinen Fernsehspiel einer Familienserie, angesiedelt im kulturellen Milieu, und animiert schaut die glücklich vereinte Nation zu. Das eben ist Kunst.
Der Kunst-Zustand im Hause Suhrkamp verlangt an dieser Stelle nach einem Vorschlag zur Vernunft:
Wären Unseld-Sohn und Papas junge Witwe bei Sinnen, vereinigten sie ihre phänomenalen Energien, was wir uns ganz egoistisch wünschen, weil dann dem im Verlag vernachlässigten Ernst Bloch mindestens soviel Aufmerksamkeit zuteil würde, wie sie der von der heimatlichen Main-Metropole begünstigte Lokalphilosoph Adorno reichlich erfährt. Der Verbund beider Energiepotentiale ist schon deshalb anzuraten, weil das Kollektiv nachgewachsener Talente mit dem Tod des Verlegers und Organisators selbst tödlich bedroht ist. Da rastet eine Firma von der Infantilität direkt in die Senilität. Ach ja, die Prosperitäts-Linken gehen schlechten Zeiten entgegen. Verunsichert proben sie den neobürgerlichen Rechtsschwenk. Rings um den alten Suhrkamphorst aber sammeln sich die postmodernen Feuilleton-Geier, aaswittend die krummen Schnäbel wetzend. Bestürzt fragen sich die Hinterbliebenen, wer nach Siegfrieds Tod die Büchner-Preise in Darmstadt einsammeln könne. Ein neues PR-Genie wird gesucht.
Im ersten Akt des Stückes war es ein Familiendrama mit Ernst Bloch als äußere Kunstfigur. In der Fortsetzung scheidet der Unseld-Sohn abgefunden aus und ein Barlach-Enkel ersetzt ihn angemessen streitbereit. In Sklavensprache und Revolte ist nachzulesen, was zu Suhrkamp-Unseld-Bloch anzumerken ist:
Reden wir, Genossen und Genießer, endlich Fraktur statt Sklavensprache: Für die Bonner Republik entwickelte sich der von Leipzig nach Tübingen abgegangene Denker zur hochverehrten Verlegenheit, einerseits gefeiert und gepriesen, andererseits von Golo Mann über Joachim Fest bis zu Helmut Schelsky als Revolutionär befeindet und in seiner Wirksamkeit blockiert. Die Frage bleibt, wie Denker und Kapital einander begegnen. War die DDR einer falschen Philosophie gefolgt, verzichtet die Berliner Republik auf alle Philosophie und zieht das Chaos neoliberaler und konservativer Irrealitäten vor. Bloch ist der Klassiker einer erneuerten Existenzphilosophie, der Archetyp der neuen Alten, die als neue Jugend antraten und es blieben. Der früheste politische Eingriff und Angriff Blochs war sein Protest gegen den Ersten Weltkrieg. Daraus erwuchs sein Paradigma des Aufrechten Ganges trotz partieller Sklavensprache und temporärer Niederlagen.
Es ist an der Zeit, die Philosophie und Geschichte Blochs neu zu lesen und zu denken, statt moribund im Konservatismus der Weltbürgerkriege zu verharren. Die deutsche Politklasse befindet sich intellektuell und seelisch noch immer in den Schützengräben von 1917/18 und schwebt in Ängsten vor dem Dolchstoß in den Rücken. Die Feinde folgen einander in Ewigkeit: Franzosen, Russen, Spartakisten, Kommunisten, jüdische Bolschewisten, Terroristen, Islamisten ... Ohne Bloch ist die deutsche Philosophie und Politik ein Kriegsversehrter, dem der linke Arm fehlt.
Mag der linke Arm fehlen, Blochs Worte fehlen nicht. Im Gegenteil. Der Suhrkamp-Krise zweiter Teil spielt zwischen Unselds Witwe und Barlachs Enkel. Ein deutsches Kulturheroenduell en suite. Sohn Joachim revoltierte gegen Vater Siegfried wegen a) Adolf Hitler und b) Ernst Bloch. Familiendrama mit Autorenbegleitung und Nähe zu Richard Wagners Sängerkrieg. Die Story, in Sklavensprache und Revolte hinreichend dokumentiert, hier kurzgefasst: Sohn kreidet dem Vater dessen naive HJ-Vergangenheit und Führerliebe an. Siegfried laut Joachim zum Sohn: »Jetzt spiele ich deinen Führer und enttäusche dich … so wie Hitler mein Vater war, der mich enttäuschte.« Soweit mag Freud inkludiert sein, der Sohn aber holt Ernst Bloch zu Hilfe, der als Autor zum Verlag zählt und von dem Unseld senior die drei Worte Ins Gelingen verliebt so inflationiert, dass dem Junior kotzübel wird. Vater Unseld spielte einst mit einer Burg, bestückt von Soldaten in Nazi-Uniform samt Nazi-Fahnen? Aber ja: »Das ist seine Kindheit. Mein Vater, 1924 geboren, ging durch diese ganze Nazi-Geschichte, wurde dann ins Wirtschaftswunder-Land entlassen. Er konnte nicht über sich selbst sprechen.« Stattdessen besorgte er sich Worte vom Philosophen.
Das ist nicht nur ein Urteil des Sohnes über den Vater. Nicht nur ein Urteil über den Verlag. Es zeigt die schwärende deutsche Generationswunde. Die Nobel-Preisträgerin Herta Müller über ihren Vater:»Immer wünsche ich mir, diesen Vater noch im Nachhinein daran hindern zu können, ein SS-Soldat geworden zu sein.«
Inzwischen sammelte sich eine exquisite Bibliothek von Nachkommen an, die ihre Eltern verdammen. Überdies gibt's die Zwischengeneration – als Junge in den Krieg, als junger Mann aus dem Krieg, als Erwachsener Karriere, als Greislein völlig unbetroffen. Das Sortiment Alfred Dregger, F.J. Strauß, Helmut Schmidt … Bitte aus dem Schatten Hitlers herauszutreten, der gute Krieg geht weiter und braucht euch. Sie machten vorher mit, sie machten nachher mit. Sie schreiben ihre Memoiren wie Kochrezepte. Nicht zu reden von den Generälen, die immer nur gesiegt hätten, wäre es vom Führer nicht verhindert worden. Der schob die Schuld seinen obersten Offizieren zu und verkroch sich in den Tod als wärs ein Mauseloch. Als Arbeitgeber überlebt er in ca. tausend Filmen, Büchern und Künstlern. Die Kultur der Wiedergeburt als ewige Wiederholung von Totgeburten.
Kampf, nicht Krieg lautete Blochs Verdikt gegen den1. Weltkrieg. Statt Kampf könnte Revolution stehen. Schach statt Mühle war die Forderung, mit der sich 1956 Blochs Distanz zur DDR-Regierung artikulierte. Die Liebe zum Gelingen als Floskel führte zum Vater-Sohn-Konflikt im Hause Unseld, weil der Junior die Anleihe des Seniors bei Bloch als Tarnung einordnete. Das Liebesgebot hat es in sich. Im Vorwort zum 1. Band von Das Prinzip Hoffnung findet es sich schon in der neunten Zeile als ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern und drückte die Hoffnung des aus dem US-Exil in die DDR kommenden Philosophen aus. Umlaufender Schmäh gegen Unseld senior – weiter vorangeschritten mit der Lektüre sei er sowieso nicht – schon das Scheitern sparte er aus im Zitat. Es könnte sich verspätet realisieren. Kurzfassung: Vater will Sohn nicht als Nachfolger, holt sich neue Frau ins Haus, Filius macht Ärger, wird ausbezahlt, Geldmangel erzwingt Einbezug stiller Teilhaber, Scheitern inbegriffen. Soweit das Interne als Stück eines Ganzen, das vom Sensations-Feuilleton nicht bedient wird. Die deutsche Vereinigung setzte Prozesse in Gang. Die Kultur ist eins ihrer Opfer. Das Personal schauspielert wie Regie im Endspiel an der Börse will.
Rückblende: Warum musste Joachim Unseld in seiner wütenden Abrechnung mit dem Senior ein luzides Bloch-Wort pervertieren? Mag sein, für den Suhrkamp-Verleger war der Philosoph ein Therapeutikum, ein kultureller Gegen-Hitler, nur wurde er als bloßes Mittel gegen HJ-Erinnerungen benutzt, und daran krankt der ganze Laden. Siegfried Unseld lag an der Sanierung des eigenen Seelen-Haushalts, was noch akzeptabel wäre, ginge es nicht zu Lasten eines Potentials, das aus egomanischen Affekten verschleudert wird. Gesellschafts-, Kultur- und Wirkungsgeschichte interessierten höchstens soweit der Verleger im gleichen Glanze mit erstrahlte. Wer von der Nazi-Bleisoldaten-Idyllik endlich Richtung Hermann-Hesse-Prosa ausbricht, hat bald große Rosinen im Kopf, für den revolutionären Bloch und seine Liebe zum Gelingen einer anderen Gesellschaft jedoch wenig Verständnis. Wie sollte dieser Verleger die Tragödie der Ostdeutschen auch nur erahnen, die um den Philosophen und sein Werk betrogen worden sind?
Wir, die traumatisierten Jüngeren der Nachkriegszeit, empfanden die DDR als revolutionäre Frucht der Geschichte und in den »goldenen Jahren Leipzigs« fanden wir eben hier am Ort Gelehrte wie Werner Krauss, Fritz Behrens, Walter Markov, Hans Mayer, Ernst Bloch, Lehrer also, deren Lehre und Leben uns imponierte, wovon wir zu lernen hofften. Mehr als vom Leben und den Lehren der Adenauer, Globke, Gehlen, Filbinger und jener ihnen ergebenen westlichen Professoren, die in ihrer Vergangenheit alles aufzuweisen hatten oder gar nichts, jedenfalls keine antifaschistische Widerstandshandlung.
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Seltenes historisches Dokument der Fabrikarbeiterbewegung aus dem Jahr 1930 auf das Jahr 1890 bezogen
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1919 signalisierte die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht die konterrevolutionäre deutsche Entschlossenheit zur Revanche für den verlorenen Krieg, so wie 1940 der Mord an Trotzki den Sieg Stalins über Lenin und Marx symbolisierte. Ist Trotzki die Alternative der SU zum Gegenpart Stalin gewesen? War Bloch die kulturelle Alternative der DDR zur veralteten Sowjetideologie? Hat die changierende Rest-Linke der Berliner Republik heute noch die Wahl, eine durch Bloch erneuerte marxistische Philosophie zu realisieren oder sang- und klanglos wie die fehlerhaft konstruierte DDR, wenn nicht gewaltsam wie die Weimarer Republik abzutreten? Hundert Jahre Arbeiterbewegung im Schlepptau bürgerlich-imperialer Kriegspolitik sind genug. Wenn die Linke nicht die seit 1914 organisierten Weltbürgerkriege hirn- und herzlos zu kontinentalen Schlachtfesten verlängern will, ist ihr Platz an der Spitze einer europäischen, wo nicht weltweiten Friedensfront nach dem Blochschen Motto: Kampf, nicht Krieg. Sprach ich vom Platz an der Spitze? Die SPD war schon einmal dort, bis sie 1914 mit dem Kaiser in den Krieg zog. Da ist etwas zu revidieren, gutzumachen also. Die Christen könnten sich ja anschließen, falls sie ihren wahren Meisterdenker Jesus neu zu entdecken wagen sollten.
Deutschland war nie eine Nation. Die Volksstämme blieben egozentriert untertan. Fanden raubkriegerisch auf Befehl zusammen und liefen in der Niederlage auseinander. Das Familiendrama im Hause Unseld spiegelt die deutsche Teilung als Komödie. Der kulturelle Verfallsprozess in Thomas Manns Gesellschaftsdrama Buddenbrooks findet seinen Epilog im Versuch, der Buch-Industrie mit Buch-Kunst zu begegnen. Bevor das www mit Gefolge das Buch transformierte, gab es Stunk unter Verwandten und Begleitern. Das Modell des individuellen Königs der Verlage war aufgebraucht. Die Autoren? Mobile Genialitäten wie ihre Herrschaft. Die neue Herrschaft heißt Google, Facebook und Shades of Grey – per befreiter Lust zur gefesselten Liebe und Ende des geheimen Verlangens.
Der Blick auf die Gegenwart könnte zur Melancholie verführen. Wir ersparen sie uns mit einem Blick zurück auf das kulturelle Leben in Deutschland vor 1933 – stellen wir uns vor, die Jahre 1933 bis 1945 hätte es gar nicht gegeben. Wie sähe, ach was, wie sieht unsere unzerstörte Kulturlandschaft aus? Hier ein Panorama:
Thomas Mann wohnt noch in München und geht im Englischen Garten spazieren, einen Hund, Bauschan den Achten, Neunten oder Zehnten an der Leine führend. Heinrich Mann kommt mitunter aus Paris zu Besuch, sich losreißend von den Archiven französischer Historie, aus denen er eben wieder eine Romantrilogie filterte, die Brüder rufen den nicht weitab wohnenden Lion Feuchtwanger zum Nachmittagstee zu sich, bitten schließlich den treuen Chronisten Alfred Kantorowicz dazu. Ossietzky gibt in Berlin die Weltbühne heraus, Tucholsky schreibt noch, wenn auch, nach der neunten Nasennebenhöhlen-Operation, viel seltener und melancholischer. Am Schiffbauerdamm-Theater heißt der Intendant Bertolt Brecht, erfreut sich bester Gesundheit und ungezählter Anbeterinnen, im Bett so überzeugend und einfallsreich wie auf der Bühne. Die Weigel spielt ab und zu noch eine ihrer großen Partien. Im Parkett sitzt ein kleiner weißhaariger Ungar, der unverdrossen dem Brecht-Theater ungünstige Kritiken schreibt: Georg Lukács. An der Universität lehren die Kapazitäten Bloch, Benjamin, Adorno Philosophie, der erste und der dritte können einander nicht ausstehen, während Bloch und Benjamin ganz gut harmonieren. Auf den alljährlichen Hegel-Kongressen wird der Marxismus bis zu seinen frühesten Anfängen weiterentwickelt, wogegen die vereinigten kommunistischen Parteien unter Thälmann, Ulbricht und Honecker schärfstens protestieren. In Berlin gibt es eine große Barlach-Ausstellung, der Meister ist seit Jahrzehnten auf dem Gipfel seines Ruhmes, Kokoschka sitzt in Dresden, seine Produktivität ist gebremst, von Danzig her überschwemmen kleine krude Madonnen-Statuetten das Land, hergestellt von einem sonderbaren schnauzbärtigen Bildhauer mit den Initialen G. G. Gropius-Bauten prägen das Stadtbild Berlins, Bauhaus hat den Siegeszug durch alle deutschen Provinzen angetreten. Eben wird das 78. Volksstück des greisen Ödön von Horvath in Wien uraufgeführt, immer noch mit der ätzenden Schärfe seiner Frühzeit. Der längst vergessene Hermann Hesse ist durch den Antiquar S. U. aus Frankfurt wiederentdeckt worden und erreicht Massenauflagen. Tucho schreibt eine Glosse darüber, in Witz und Wut ganz wie in seinen Anfängen, was ihm selten noch glückt. Ein gewisser Axel Cäsar Springer bringt in Husum ein Blättchen heraus, das mitunter durch muffige rechtsnationalistische Artikel von sich reden macht. Berlin schüttelt sich amüsiert. Von Wien her fällt Karl Kraus eine Menge ein über Deutsche und Osterreicher; die Hochburgen der Psychoanalyse in Berlin und Wien sind weltberühmt, halb Deutschland liegt ständig auf der Couch, was den rund um den Erdball anerkannten Physiker Einstein, Lehrstuhlinhaber in der Hauptstadt, zu ironischsten Kommentaren inspiriert, betrachtet er das tiefenpsychologische Gewese und Gewusel doch mit der Respektlosigkeit des Rationalisten und Naturwissenschaftlers.
Wernher von Braun erklärt in einem sensationellen Interview mit dem Star-Reporter von der Ullstein-Presse, Arthur Koestler, die reichsdeutsche Mondfahrt und Mondlandung in allernächster Zeit für realisierbar. Der Lübecker SPD-Reichstagsabgeordnete und Journalist Willy Brandt wird in parlamentarischen Auseinandersetzungen wegen seiner absoluten Konzilianz häufig vom eloquenten KPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner attackiert. Von Hamburg her versucht ein Mann namens Rudolf Augstein gegen die mächtige Berliner Presse ein Wochenmagazin durchzusetzen, was wegen der geballten hauptstädtischen Intelligenz und Weltläufigkeit permanent misslingt. Das Unternehmen kann Augstein auch deshalb nicht glücken, weil er nicht versteht, die wichtigsten jüdischen Linksintellektuellen bei sich schreiben zu lassen. Der heilige Krieg zwischen den beiden Marcuses Herbert zum einen und Ludwig zum anderen schlägt Wellen in den Redaktionen. Seinen Wohnsitz zwischen Wien und Berlin regelmäßig wechselnd, bereitet Robert Neumann eben den 66. Band seines Dauererfolges Mit fremden Federn vor, was ihm angesichts der lebendigen, weitgespannten, ungemein individuellen Literatur Deutschlands nicht schwerfällt. Die Belletristik, in der Hauptstadt zentriert, steht in hoher Blüte. In Köln, dem westlichen Außenposten des deutschen Reichs, legt sich der Schriftsteller Heinrich Böll stets von neuem mit seinem Kardinal an, was das katholische Rheinland immer wieder aufrührt und die übrige Republik angenehm unterhält. Walter Hasenclever, Stefan Zweig, Ernst Toller erfreuen sich guter Gesundheit; Willi Münzenberg ist der Boss der Gewerkschaftsverlage, die er, kräftig aus den Lumpen schüttelnd, zu überraschenden Aktionen hochpeitscht.
Soviel als anatomischer Querschnitt deutscher Pluralkultur ohne Hitler-Hiatus. Unter diesem Aspekt fand das verlegerische Familiendrama von Frankfurt am Main gar nicht statt. Kein Hitlerjunge spielte je mit seiner Burg voller Nazibleisoldaten. Und alle lebten frei dahin voller Liebe zum Gelingen.
Am 13. November 1997 ahnte Frank Schirrmacher in seinem FAZ-Leitartikel Suhrkamp zum Beispiel die Folgen der »Erbstreitigkeiten« voraus. Schirrmacher: »Zwar lebt die Erbtante noch, aber man kann sich schon einmal, mit Ernst Bloch zu reden, in ihrem Zimmer umschauen. Diese Musterung hat manchem den Schreck in die Glieder getrieben …«
Von solchen Zimmerschrecken gibt es arg viele. Auch beim alerten FAZ-Chef-Feuilletonisten. Hatte er 1997 noch kulturelle Prophetie betrieben, schickte er jüngst zum 27. Dezember 2012 eine ganzseitige Auf- und Abrechnung nach, weil in Springers Blatt Die Welt ein literaturkritisch tätiger Kollege und Barlachs Enkel ganz andere Zahlen als er vorlegten. So häufen sich rasante Kassenstürze. Die Szene lebt vom gegenseitigen Überhöhen und Herunterputzen. Den Schreibtischsöldner von gestern verlangt es als PC-Formulierungs-Offizier nach Gladiatoren-Ruhm. Mit Bloch zu reden heißt das: »Seit der deutsche Redakteur die Verantwortung dafür übernommen hat, das Gegenteil der Wahrheit zu schreiben, wird ihm die subjektive Lumperei durch Öffentlichkeit erleichtert und sozusagen objektiv gemacht.« Nicht ganz ohne Empathie für unsere arme postkulturelle, kulturkuriose Elite notierte ich zum Jahr des heutigen Unheils 1989:
(Die Venusharfe Knaur, München)
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