poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung

Wir Helden auf der immer richtigen Seite – 6. Nachruf



 

Arno Lustiger, Historiker aus Leidenschaft – viel gelobt, weniger gelesen, weil für alle schmerzlich




Im 68. Nachwort vom 23.10.2011 steht folgendes Zitat aus der FAZ vom 5.10.2011: »Vor einem guten Jahr erreichte mich ein Anruf aus München: was ich von der Möglichkeit einer neuen rechten Samm­lungs­bewe­gung hielte, nur mal so als Gedan­ken-Experiment? Mit Hans-Olaf Henkel, Peter Sloter­dijk, Thilo Sarrazin und Fried­rich Merz als mög­lichen Galions­figuren. Unab­hän­gig davon, ob diese Phan­tasie zu ver­wirk­lichen wäre – lang­fristig gibt es sicher ein Poten­tial.« So der plötz­lich renitente Lorenz Jäger am 5.10.2011 in seinem FAZ-Heimat­blatt. Die Aus­wahl der Namen, die sich da jemand in München hat einfallen lassen, spricht Bände: Industrie, Philo­sophie, SPD, CDU als Exem­plare mit weit­rei­chender Zugkraft. Sieht so die bal­dige Zu­kunft der Deut­schen aus? Auf der fol­genden Seite er­laubten wir uns, Lorenz Jäger mit Foto samt seinen Ab­schieds­worten vor­zu­stellen: »Adieu, Kame­raden, ich bin Gutmensch. Nicht mehr unter Rechten: Der Kon­ser­vatis­mus hat sich selbst ver­raten. Er ist zu einer Ideologie der Groß­indus­trie und der Kriegs­verkäufer geworden.«
  Potztausend! Das klingt nahezu aufrühre­risch. Wie arbeitet es sich nun als nicht­mehr­konser­vativer Gut­mensch? Am 8.1.2013 sendete Arte einen neuen Hinden­burg-Film und in der FAZ lie­ferte der ver­wandelte Lorenz J. ein Feld­marschall-Porträt dazu, ge­schmückt mit Weihe­worten von Stefan George, ach ja, Hin­den­burg, der schmuck­lose Greis, ach ja: »Man beginnt zu verstehen …«, ob­wohl »Hinden­burg war es, der Hitler zum Reichs­kanzler ernannte.« Warum? »Um die Einheit des Reiches zu wahren.« Wir ver­stehen, wenn der Gut­mensch Jäger über den Gut­men­schen Hinden­burg orakelt, sind zwei gute Chris­ten­menschen im guten Glauben vereint. Zur Sache: Am Tag zuvor würdigte Jäger den rührigen Ernst Nolte, der ja seinerseits FAZ-Geschichte schrieb, indem er am 6.6.1986 den Historiker­streik auslöste, was ihn zu einer Art BRD-Hinden­burg er­höhte. Be­siegte des Kaisers General­feld­mar­schall die Russen 1914 bei Tannen­berg, relati­vierte Prof. Nolte 1986 den Ver­nich­tungs­willen der Nazis, indem er ent­deckte, die Sowjets hatten be­reits per Oktober­revo­lution die Ver­nich­tung begonnen. Der GULAG geschah historisch vor Auschwitz, der Klasse­nmord liege also vor dem Ras­sen­mord. Schluss-Satz der Lau­datio für den umstrit­tenen Histo­riker Ernst. N. bei Lorenz Jäger: »Am 11. Januar … feiert Ernst Nolte seinen 90. Geburtstag.“ Was für eine Fete!
  Die Affäre ist zwar gelaufen, doch nicht bei­gelegt. Immerhin erwähnt Jäger den unlängst ver­stor­benen Arno Lustiger, der zur Sache einiges zu sagen hatte. Ich verwies darauf in einem FAZ- Leser­brief vom 14.11.2000:


Lorenz Jäger, dessen erklärter Abschied von den lieben Rechts­konser­vativen nicht bestrit­ten werden soll, könnte ja, indem er unseren Freund Arno Lustiger zitiert, sich weiter beglau­bigen, indem er dessen Erkennt­nisse FAZ-publik machte. Statt­des­sen gratu­liert er am 16. Januar 2013 dem Frank­furter Carl-Schmitt-Fan Günter Maschke zum 70. Geburtstag. Im Abstand respekt­voller Kritik selbst­ver­ständlich, dazu fürsorglich auf hohem Niveau in der Zirkus­kuppel, weil Schmitts Band Frieden oder Pazifismus eben eine »Dar­stellung der Konse­quenzen des Kriegs­ver­bots« ist. Also muss gerüstet sein, wer den Frieden will, der allerdings seit Orwell nichts anderes als der alte Krieg sein kann.
  Maschke lag mal vor Zeiten, wir erinnern uns, friedlich in unserer Münchner Badewanne. Das war ne linkere Ära. Lorenz Jäger entdeckt sie rückwirkend, bzw. nachwirkend. So ein Adieu an den ideologischen Konser­vatismus fällt eben alles andere als leicht, wenn Carlchen Schmitt und Günterchen Maschke den Marsch blasen.


Inzwischen operiert Jäger immer weltoffener – zitiert kirchenfromm aus dem Ka­tholi­schen Messbuch von 1570, doch ohne antise­miti­schen Beisatz, den das Zweite Vati­kanische Konzil verstieß, und am 18.1.2013 notiert der plurale FAZ-Christ gar den agilen Diether Dehm samt seinem kürz­lich publi­zierten Album, ob­wohl der frü­here SPD- und jetzige Linksparteipolitiker bravourös für un­bürger­liche Unruhe sorgt. Herr Jäger dia­gnos­tiziert beim Genossen Dehm linke Ohr­würmer, das ist freundlich ange­merkt, klingt nur ein wenig nach Tierarzt.

Am 23.1.2013 befasst sich Jäger in den FAZ-Geistes­wissen­schaften zum L. J. ver­knappt mit einem seiner Haupt-Themen, und das ist Gott, den er mit dem »erklärten Atheismus Freuds« kontras­tiert. Da stößt der Erz­konser­vative auf einige Unklar­heiten, denn es gibt Gott­gläubige, Kirchen­gläubige und Kapital­gläubige. Dazu noch Agnos­tiker, die sich enthalten und Athe­isten, die sich von den Reli­gionen, den Kirchen und Kriegen emanzi­pieren. Man könnte sich Gott auch als Ver­legen­heits­vo­kabel vorstellen. Genaues weiß man nicht, bedarf aber des Glaubens und erfindet sich Gott als Über-Papa. So fängt das immer an. Nicht allein Lorenz Jäger hat damit seine Schwie­rig­kei­ten. Denn erstens ging der Christen­gott fremd, zweitens opferte er seinen Sohn und drit­tens dauert die in seinem Namen sanktio­nierte Barbarei schon zu lange. Die Himmel­fahrt wird inzwischen von mörde­rischen Drohnen besorgt. Jäger wagte sich immerhin im eigenen Blatt von seinen rechten Kameraden zu verab­schieden. Den legen­dären Hinden­burg aber mag er nach wie vor. Das sind so Klassen­fragen. Als ich 1933 von der Schule heimkam und den Schul­sermon über Hinden­burg, den Helden von 1914 nach­quasselte, ver­passte mir der Groß­vater eine Backpfeife, was er sofort bedauerte - er schlug mich sonst nie. Ihm ging es ums Prinzi­pielle – was dem einen Heldentum ist, ist dem anderen Blutsäuferei.

Nach dem Rechtsblick auf die FAZ ein Links­blick auf die junge Welt vom 11.12. 2012, wo Chef­redakteur Arnold Schölzel das hinter­fotzig hinter­lassene Lebens­werk des Hans Heinz Holz heiligt, dem stich­wort­gebenden Philo­sophie­pro­fessor jener 1921 ange­haltenen Theorie, die von Marx-Lenin aus bis in den murxis­ti­schen Unter­gang führte, in­klusive zwischen­zeit­licher Siege. Schölzels empha­tischer Artikel ist eine ungewollte Grabrede. Gut geschrieben mit Hirnschmalz und Herzblut, ganz wie die 5 Holz-Weg-Bände mit ihren 2.920 Seiten zu 349 € bei der Wissen­schaft­lichen Buch­gesell­schaft, Darmstadt 2011. Wer' s zahlen kann/will. Wir empfahlen den Links­händler HHH bis 1957 – dann noch­mal halbwegs bis zum DDR-Ende. In seiner großen Zeit als Professor im damals linken Marburg hatte er einen tollen Lauf. Heute noch schwär­men diverse Links- wie Rechts­intel­lektuel­le von seinen Vor­lesungen. Ein klas­sen­spren­gender Ruf wie auf der Conträr­position Carl Schmitt. Wer zählt die Schnitt­mengen. Der Holzianer Schölzel sitzt in der Falle von 3.000 Papier­seiten. Seiner Zei­tung aber, der es an guten Autoren nicht mangelt, wo dürfen sie denn sonst noch gedruckt werden, schwinden die Leser dahin wie anderen Blättern, nur bio­logisch stärker konditioniert. Die Jugend will auf Teufel­komm­raus nicht zum Marathon­leser­lauf antreten. Pop ist Kurzweil. Die Alten sterben ruhm­bekleckert aus, die Jungen gehen ins Netz und sonst­wie fremd. Tja, liebe Ge­nossen bour­geoiser End­zeiten, ihr seid zu gut für morgen wie gestern. Das hegelte und lenini­sierte sich ewig bis hintern Mond. Was tun? Die Müll­halde ruft. Dort ruhen bereits drei­einhalb­tausend marxis­tische Gene­räle, Profes­soren, Doktoren samt Leib­wächtern, diesen ölig schwätzenden Grabrednern. Und jeder kämpft gegen jeden, so un­sterb­lich sind sie einander.
  Erstaunlicherweise beginnt die jW neuer­dings, den bislang so hoch­gelobten Holz­weg zu verlassen. In der heiligen FAZ distanziert sich der erz­konser­vative Christ Lorenz Jäger von rechten Kameraden und Wege­lagerern, und in der links­frak­tionellen jW tauchen sogar bisher ignorierte oder ganz und gar neue Ideen auf. Ist das alles nun revolu­tionärer Vorschein oder dient Leser­schwund als letzter Weckruf? Jeden­falls ist es Überraschung.



junge Welt: 22. – 26.12.2012 | Beitrag von Thomas Wagner. Fresco von Cosimo Rosselli



Das Jahr 2012 klang aus mit Thomas Wagners vier Doppel­seiten über Das Reich Gottes und der Frage:»Was hat das Himmelreich, was hat das von Christen im Mund geführte König­reich Gottes mit dem zu tun, was Sozialisten wollen?« Ausgezeichnete Frage. Die erste Antwort folgt sogleich: »Das Streben nach einer herr­schafts­freien Gesell­schaft ist, wie der marxistische Philosoph Ernst Bloch schrieb, bereits der ›Grund­klang‹ der frühesten biblischen Schriften.« Da reibt mein atheis­tischer Wider­spruchs­geist sich erstaunt die Augen – so etwas bietet die junge Welt an? Wie das alte Jahr endet beginnt das neue am 9. Januar schon wieder mit dem Philo­sophen: »S ist noch nicht P – das eben er­schienene Bloch-Wörter­buch wird be­sprochen, 744 Seiten für 149,95 € bei De Gruyter, Berlin. Wir werden Ernst B. im Himmel der Ungläu­bigen mal wiss­begierig befragen, was er von dem nach ihm be­nannten Nach­schlage­werk hält. Nicht schlecht, wird er wohl sagen, abgesehen vom unzu­mut­baren Preis, wer kann den so einfach aus der Hosen­tasche zahlen. Ich bin euch wohl zu teuer, Freunde, Feinde und Genossen. Die FAZ wusste bereits am 4.9. des Vorjahres, dass Bloch den Kälte­strom des Marxismus mit dem Wärme­strom des jüdischen Messia­nismus vereinigen wollte, was eine mystisch-materia­lis­tische Mesalliance ergebe. Na, wenn's der guten Sache auf­zuhelfen vermöchte … Am 21.1.2013 verteilt die junge Welt abermals eine Prise Bloch in Spur der Schande – Peter Michel leuchtet der Kultur­nation Deutsch­land ins ge­schminkte Van­dalen­antlitz. Die Lektüre lohnt sich. Nicht nach­voll­ziehbar bleibt, dass so eine Zeitung mit guten radi­kalen Autoren kaum über die Runden kommt, während bourgeoise Groß­kopfete vom Main jubi­lie­rend ums Goldene Kalb tanzen als drohte ihr Gott nicht mit der Todes­strafe. Diese schlau­meiernde FAZ lebt von Kapitals Gnaden, die junge Welt mehr schlecht als recht von seinen Ungnaden. Als Athe­isten sagen wir, das geht beides so nicht gut. Bloch missfiel an Freund Lukács dessen Deduk­tionismus, eine öde Kopf­wichserei, die alles Denken aus Allge­mein­heiten ableitet, um auf Linie zu bleiben, auch wenn man es ei­gent­lich anders möchte. Die Linie wird stets als die richtige Seite gedacht. Das diszi­pliniert. Da fehlt ein Mephisto, der die richtigen Seiten ein wenig ver­teufelt. Faust und Marxens Kopf gehören zu Auer­bachs Keller­theater.

Wer Glück hat, steht immer fest auf der richtigen Seite. In der Schule erfahre ich ab 1933, wir sind die Guten, Kommunisten und Juden aber die Schlechten. Ab 1945 änderte sich das. Im Osten werden die Kom­munis­ten die Guten, im Westen die Schlechten. Mit den Juden ist es mal so und mal so. Als ich in der DDR lebte, waren die Russen gut und die Amis schlecht. Dann lebte ich im Westen, jetzt waren die Russen Schurken und die Amis Engel. Seither sitze ich als Glücks­kind stets unter den Guten, nur die Schlechten wandeln sich fort­während und sind bald Nord­koreaner und bald Nord­viet­namesen, Araber, Iraker, Iraner, Afghanen, Russen sowie­so immer, endlich diese Islamisten und Ter­roristen. Dem Himmel sei Dank, wir stehen nicht und nie auf der Seite der Schlechten. Wenn du Glück hast, bist du stets bei den Guten. Das hebt die Stim­mung und du fühlst dich rund­um besser. Und so produ­zieren wir heute Panzer und U-Boote und morgen statt­dessen Kochtöpfe und Pflug­scharen und übermorgen wieder Panzer und U-Boote und so weiter – das sind durchaus keine Gewissens­fragen, solange man auf der richtigen Seite steht.
  Was aber, wenn daraus trotzdem so eine altmodische Gewissensfrage wird? Erstens muss einer eins haben. Ein Gewissen. Dazu gehört Wissen, woher aber nehmen? Aus den Schulen? Falls die dort weder Unwissen noch gefälschtes Wissen vermitteln. Von den Eltern? Das führt zu Generationskonflikten. Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen? Manchmal. Die berüchtigten 68er z.B. wollten es anders und scheiterten bald. Die Eltern als 33er scheiterten auch, doch erst nach 1945, und dann auch nur zum Teil. Wann schlägt da wem ein Gewissen? Wann macht es sich bemerkbar? Wann versammelt das Wissen sich im ICH zum wissenden Ge - wissen? Und wenn es nur bis zum Un-Gewissen reicht? Sind die 33er nicht die wahren Sieger? Ihre Niederlage von 1945 ist eine Schein­nieder­lage wie der Tod Hitlers ein Scheintod.
  Heute, am Mittwoch, dem 30. Januar 2013 prangt der Adolf gerade mal wieder ganzseitig in der FAZ mit einem süßen Foto, im Gartenstuhl liegend und seitlich herein­lugendem Schäfer­hund. Alles in Szene gesetzt für die Stammkunden zum Artikel eines hellen Hans-Dampf-Akademikers, Professor around the world, der uns verklickert, dass wir alle nichts wissen, wenn es »um das Wechselspiel zwischen Hitler und den Deutschen« geht. Hitler wollte ein Tausendjähriges Reich. Es begann 1933 und war 1945 nicht am Ende.

Deutsche Ostfront. Zusammenbruch Mittelabschnitt Sommer 1944. Von der Zita­delle in Brest (Litowsk) karren sowje­tische Soldaten uns in zwei Lastwagen zur Massen­mord­grube im Wald. Frisch ans Werk, Leichen­aus­hub, Spuren deutscher Wert­arbeit. Auf der Rück­fahrt am Nachmittag biegt der Wagen in eine Ortschaft ab. Der Fahrer ver­schwindet im Magazin, wie unser Be­wacher den Laden nennt. Eine junge Frau kommt mit zwei kleinen Kindern heraus und einem Netz voller grünrot glän­zender Äpfel in der Hand, auf die ich vom LKW herunter so gierig blicke, dass die Frau blitz­schnell ins Netz greift und mir etwas zuwirft. Ich beiße und schlucke. Der Posten brüllt. Die Polin lächelt. Gib mir den Griebsch, fordert der Mann neben mir. Ich kaue und schlucke als hinge mein Leben davon ab. Die junge Frau sah nur einen hungrigen Gefan­genen und folgte ihrem Herzen. Zur Hölle mit dem Krieg. Tage später. Unser Trupp, Rot­armisten und Deutsche, fordert eine abge­schnit­tene Restgruppe der Wehrmacht zur Übergabe auf. Zum Dank werden wir unter Feuer genommen. Im Kugelhagel zurück­ge­krochen. Auf beiden Seiten Verluste. Panzer rollen an, die letzten Wehr­machts­helden zu erledigen. Wer nicht hören will, muss bluten? Es ist nicht mein Krieg. In Leipzig, wenn von Blochs philo­sophi­scher Kate­gorie Front die Rede war, hörte ich Schüsse. Da lag der Krieg, der nicht meiner war, ein kleines Jahrzehnt zurück. Heute ist es mehr als ein halbes Jahr­hundert. In der Zeitung werde ich belehrt, dass wir nichts wissen vom Wechselspiel zwischen Hitler und den Deut­schen. Soweit es den Deutschen als Kollektiv gab, war Hitler sein Bauchredner.

Frank Schirrmachers drei Exzellenz-Buchstaben Ego, als Buchtitel in den Werbe- Himmel geschossen, erreichten noch vor Erscheinen optimale Durchschlagskraft. Wer zählt die Abdrucke, Auftritte, Schimpf- und Lobgesänge, Talkrunden …? Warum diese Hypes in Serie? Alles längst dagewesen. Luther-Bibel, 32. Kapitel: »Abgötterei mit dem gegossenen Kalbe.« Zum Tanz ums Goldene Kalb und den dreitausend Toten als Resümee wird gemeldet: »Also strafte der Herr das Volk, dass sie das Kalb hatten gemacht …« Auf so ein Ego gibt's heutzutage keine Todesstrafe mehr. Ob der Unwille eines FAZ-Feuil­letonis­ten ausreicht, steht in den Sternen, falls sich die irdischen Über­menschen nicht schon seit langem mit ihren höllenhündischen Vorgängern arrangiert haben. So weit ist es gekommen, dass man als Atheist diesen FAZ-Christen die Quellen westlicher Wertegemeinschaften verklickern muss. Aber ja, das Kapi­tal frisst die gesamte Journaille. Der Gag, den alerten Ego-Illu­strator als Mora­listen zweiter Klasse mit der bibli­schen Erst­klassig­keit zu konfron­tieren, ist nicht ganz reizlos. Warum aber bleibt Das Kapital von Karl Marx als Wort-Werk so beiseite, soll dem Kapital als Über­menschen­werk tat­sächlich der Giftzahn gezogen werden? Dabei hat die Super-Zeitung vom Main neuer­dings durchaus lichte Momente. In der FAS ver­kündete sie am 24.2.2013 quasi als Wort zum hei­ligen Sonntag: »Der Kapita­lismus ver­nichtet soziale Fähig­keiten.« Die veri­table Einsicht und fatale Aussicht entlieh man dem links­ameri­kanischen Soziologen Richard Sennett. Irgendwann wird der kluge Mann aus Übersee den Herr­schaften in Frankfurt noch mitteilen, dass ihr Kapita­lismus außer den sozialen auch die intel­lektuel­len Fähig­keiten ver­nichtet.

 

Alfred Kantorowicz:
Foto aus dem Spanischen Bürgerkrieg – Kampf gegen Franco




Über Erich Loest melden die Medien, er bekam mal wieder eine Auszeichnung, diesmal ist es der Hohen­schön­hausen-Preis, dotiert mit 5.000 €, dafür sitzt er brav neben Hubertus Knabe, zwei vormals Linke, endlich ernst­haft ergriffen auf der richtigen Seite. Aller­dings beginnt Erichs Dankes­rede mit einem fehler­haften Ein­stieg. Unter dem pro­gramma­tischen Titel Spät kommt ihr, doch ihr kommt ist zu lesen: »Als der Schrift­steller Gerhard Zwerenz 1957, gejagt vom Leip­ziger SED-Chef Paul Fröhlich, um dem Zuchthaus zu entgehen in die Bun­des­re­publik flüchtete, empfin­gen ihn Weg­gefähr­ten, die sich vom Marxis­mus gelöst hatten – die Altgläubigen nannten sie Rene­gaten – unter ihnen Wolfgang Leonhard, von dem Die Revolution entlässt ihre Kinder stammte, mit dem Worten: ›Du kommst spät, aber du kommst.‹« Das Zitat wird von Loest falsch zugeordnet. Nicht Leonhard äußerte sich so zu mir, sondern Arthur Koestler sagte diesen Satz zu Alfred Kanto­rowicz, als der ihn in London besuchte. Näheres findet man in der 56. Folge meiner Serie im poetenladen. Darin ist ein Gespräch zwischen Arthur Koestler und mir abge­druckt. Ich frage:

Mir scheint, dass es bei den ehemaligen Kommunisten eine heimliche oder auch unheimliche Hierarchie der gegen­seitigen Ver­achtung gibt. Die jeweils früher
Abge­fallenen verachten die jeweils später Abgefallenen?
Möglich.
Sie selbst äußerten sich so.
Gewiss.
Als Alfred Kantorowicz der DDR den Rücken kehrte und Sie in London aufsuchte ...
Das war schlimm. Also wirklich, das war ganz schlimm.
Ich hab' mir die Sache von Kantorowicz erzählen lassen und vorhin auch Ihre Frau danach gefragt. Jetzt hätte ich's gern noch von Ihnen gewusst.
Das war schlimm. Nein, also wirklich schlimm.
Es gab einen Heidenkrach?
Also darüber kann ich jetzt nicht sprechen.
Mit Ernst Bloch sind Sie, nach seinem Weggang aus der DDR, auch in London zusammen­getroffen?
Das war auch schlimm, wirklich ganz schlimm.
Wenn ich resü­mieren darf: wenn ein früher abge­fallener Kommunist einem später abge­fal­lenen begeg­net, ist es immer schlimm, beson­ders wenn der früher abge­fal­lene Arthur Koestler heißt.
Ich werde auch beschimpft. Sartre nennt mich einen Kalten Krieger und ameri­kanischen Agenten. Simone de Beauvoir nennt mich ähnlich, obwohl –...
Obwohl Simone de Beauvoir ihren Arthur Koestler besser kennen müsste?
Ach, diese alten Geschichten!
Rowohlt bringt die Beauvoir bei uns heraus. Stimmen die Bettszenen wenigstens?
Das sind doch alles ganz alte Geschichten …
Aber Sie waren doch zusammen, Sie und die Beauvoir?
So eine Frau muss eben alles in Roman­form schreiben. Bald ist's Sartre, bald Algren, bald Koestler. Da geht jede Liebe durch die Schreib­maschine…


Am Ende des Gesprächs, aus dem ich eine Passage zitiere und das am 21.6.1966 im Münchner Hotel Bayeri­scher Hof statt­fand, monierte Koestler die ewige deutsche Klein­kräme­rei und warnte vor dem drohenden Ende der Menschheit durch Selbst­vernichtung. Loests neu aufgekochter Anti­marxis­mus zählt zu den kultu­rellen Ver­spätungen. Auf den Klassiker der anti­stali­nschen Lite­ratur kann er sich nicht berufen. Bei aller Kampfes­lust und mit seiner Freude an der Polemik auch gegen Kollegen war Koestler kein Hinter­herhinke­fuß, sondern stets der exem­plarische, bahn­brechende Dif­ferenz­denker einer Moderne, die das Engage­ment noch zu per­so­ni­fizie­ren wagte, wenn es der Erkennt­nis entsprach.

PS: Letzten Montag stand Frank Schirrmachers Ego schon als Nr. 1 auf der Spie­gel-Best­seller-Liste. Wir sagten es voraus: Der Kapita­lismus ver­nichtet außer den sozia­len auch die intel­lektuel­len Fähig­keiten. Seit gestern ist klar, die FAZ schluckt den Rest der schon lange fal­lierenden Frank­furter Rund­schau. Karl Gerold, alter Streit- und Kampf­genosse, wie rotiert sich's im Grabe? Von 1961 bis zur deut­schen Einheit 1990 war uns die FR ein Stück­lein Ersatz­heimat. Danach wurde sie kriegs- und kalt­kriegs­dienst­lich. Der kleine Links­schwenk im FAZ-Feuil­leton – ist er vor allem Über­nahmetaktik? Die Zei­tung ist der Zeitung Wolf. Die soge­nannten demo­krati­schen Plura­listen haben ein­ander zum Fressen gern.
Gerhard Zwerenz    04.03.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon