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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 29 |
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Briefwechsel zum Krieg der Poeten
In der Zeitschrift europäische ideen, in London herausgegeben von Andreas W. Mytze, äußerte ich mich über lange Zeit hin häufig und dann mitunter Jahre hindurch gar nicht. Zuletzt berührte der Herausgeber so zart wie raffiniert meine altersbedingt sanftere Rentnerseele, da sprang Erich Loest in den Tod, und Andreas wollte ausgerechnet von mir wissen weshalb. Kurzerhand mailten wir ihm den Nachruf 23 aus dem poetenladen vom 29.9.2013 mit dem Titel »Erich Loests Fenstersturz«. Der Text erschien jetzt in Heft 156 der europäischen ideen. Unser neuerweckter Briefwechsel geht damit weiter:
Lieber Andreas,
Heft 156 angekommen, gelesen, die Toten zählend, derer gedacht wird von kommenden Toten. Dichter(innen) über Dichter(-innen) schreibend ist wie wenn Affen einander lausen, nur tun Affen sich Gutes an, die Poöten(-innen) setzen einander Läuse in den Pelz. Das Heft ist der Namen voll, und voller Vergangenheiten. Gute Dramaturgie. Nur wo bleiben die im Titel versprochenen europäischen ideen? Und führt Erichs Fenstersturz zu Leipzig nur in die Vergangenheit zurück oder ins Himmelreich der pfäffischen Parteiprediger, die heute dem Kapital gehorchen wie gestern die roten Feldwebel-Fröhlichs den Politbürokraten.
Helga M. Novak abenteuert immerhin durch die Wüsten. Mit dem Prager Fenstersturz begann einst der 30jährige Krieg. Was beginnt 2013 mit Loests Fenstersturz? Oder hört nur einfach was auf. Leipzig gedachte gerade der Niederlage Napoleons vor 200 Jahren. Es scheint als zähle Loests Ende dazu. Dabei hatte ich 1956 an der Pleiße einen vollen Bloch-Ton angeschlagen. Die Mutter der Freiheit heißt Revolution nannte ich das Gedicht, das ich heute noch für revolutionär halte, also im Marxschen Sinne für europäisch. Was blieb davon in Leipzig außer feindlichen Übergenossen und dem feigen Schweigen der Basis.
Soviel als spontanes Info zum Fall fehlender europäischer ideen.
Herzliche Sonnabendvormittagsgrüße GZ
Lieber Andreas,
Siegfried Prokops zahlreiche Publikationen über Wolfgang Harich und unsere vergeblichen Kopf-Aufstände von 1956/57 sind hier wohlbekannt und geschätzt, an sie wurde in verschiedenen Büchern und im www.poetenladen.de immer wieder erinnert. Loests Fenstersturz vom September 2013 könnte ein – vielleicht – der Schlusspunkt sein. Du kannst Deine – bisher – 156 Hefte der europäischen ideen als Dokumentation offerieren. Was war wann, wo wie, von wem gegen wen und was nun? EURO – EUROPA am Ende oder Anfang? Sind die Literaten-Konflikte von gestern heute noch relevant?, wenn ja inwiefern, also womit? Auseinandersetzung und Gegnerschaft zwischen Ost – West, Kapital – Arbeit, USA – China, Christentum – Islam, Reichtum – Armut, Glaube – Aufklärung … und alles gespiegelt in tausend Facetten bis Big Data. Kam so einer wie Wolfgang Harich zu früh oder zu spät? Und wie ist das bei Marx? Vom Taunus- Feldberg auf die Main-Ebene niederblickend sind Kopulationsversuche der Schwarzen und Grünen zu beobachten. Rot und rosa sollen als oppositionelle Neidhammel zugucken. Der Flughafen steckt dazwischen. So auch in Berlin. Aufbau, Stillstand, Abbau, der letzte EU-Rhyhtmus. Tegel hilft fliegen. Erich Loest wollte fliegen wie der Schneider von Ulm. Wolfgang Harich flog von Berlin nach Hamburg und zurück nach Berlin und weiter nach Bautzen. Als Junge wollte ich im Segelflugzeug übers Erzgebirge nach Prag entkommen. Die Wehrmacht war früher da. Wer nicht fliegen kann, der geht zu Fuß. Ich schaffte es bis Moskau und zurück. In Heft 156 Deiner Weltenreihe, lieber Andreas, wird Helga Novaks alle Grenzen überschreitende, autobiographische Lebensreise von Joachim Walther als „linke Litanei“ abgetan. Sie fügt den Bauch zum Kopf, den andere schamvoll bloß mit hauseigener Langeweile zu füllen pflegen. Loest wäre mit seinen letzten Polemiken nur noch wegen „rechter Litanei“ zu rügen, selbst sein Tod passte zur Litanei der einspännigen Literaten. Was aber, wenn ein PS nicht zum Fliegen reicht.
Soviel für heute als Antwort auf Deine gestrige Anfrage wegen Prokop-Harich. Bin aber unzufrieden und kündige für morgen einen dritten Brief an.
Lieber Andreas,
der 3. Brief resümiert: 1. Deine bisherigen 156 Hefte liefern das Protokoll eines Experiments, das zur Vivisektion geriet. Schriftsteller notieren mit ihren Wortgefechten die Blutverluste ihres Staates. Oder auch: Der langsame Tod einer großen Idee. Konkret: Der Selbstmord der DDR zog den der SU nach sich. Oder auch: Von Wolfgang Harich bis Erich Loest – Anfang und Suizid einer friedlichen Revolution, die gar keine war. 2. Die DDR-Literatur protokolliert von ihren kulturellen Duellanten. 3. Der couragierte Titel europäische ideen wird letztlich von der Ideenlosigkeit des alten Kontinents überholt. Das Ende Europas vervollständigt nur den Untergang des alten Rom – Verspätete Antike. China dagegen – seit 2007, dem Start unserer online-Serie im Leipziger poetenladen enthält jede Einleitung den Schlüsselsatz: »Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophie nennt das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche …« Im Klartext: Das chinesische Wunder hätte als deutsches Wunder schon in der DDR beginnen können. Die Neuen Ökonomischen Theorien des Fritz Behrens, der von Rosa Luxemburgs Akkumulationslehre und Blochs Sprach-Philosophie ermutigt wurde, eröffneten dafür Möglichkeiten. Walter Ulbricht hätte den deutsche Deng Xiaoping geben können. Sein Stalin im Kopf war zu stark. Der Geist will, was will er? Fliegen können will er. Das wusste Marx bereits in seiner Doktorarbeit. Die roten Chinesen wagten das und gewannen. Heute, am 24. November 2013 weiß sogar ein kluger Kopf in der FAS: »Das Experiment China – Der Westen hat China noch nicht verstanden …« Die DDR vertat ihre kleine Chance aus Angst vor dem Großen Bruder schon einige Zeit zuvor. Nun denn, mein lieber Andreas, was wird jetzt mit und aus den neuen europäischen ideen? 2005 suchte ich auf einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Leipzig nach Antworten. Die programmatische Überschrift dazu lautet: »Bloch, Behrens und der chinesische Drache – Anmerkungen zum Verschwinden der Sowjetunion und zur praktizierten Reformation des Marxismus in Asien und anderswo«. Du kannst meine 3 Brieflein nutzen, wenn Du willst, ich werde im poetenladen darauf zurückkommen. Unsere 56er Revolte kann nicht mit Loests Fenstersturz 2013 in Leipzig abschließen – da war doch noch was …
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Vom SPD-Ostbüro illegal in die DDR verschickt, seither verschollen
Gerhard Zwerenz
Galgenlieder vom Heute
Gedichte
Berlin: Ostbüro der SPD, 1957
ZVAB
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Beide Bände herausgegeben und arrangiert von Jürgen Reents
Hier unterbrechen wir den Mailwechsel von heute mit dem Brief eines prominenten Desch-Lektors, den er 1957 an Robert Neumann schrieb. Das Schreiben von damals nimmt die bis in die Gegenwart reichende Zeitspanne »illusionslos«, also prophetisch vorweg:
Zum Zustand Jahreswechsel 2013/14: Seit der Suhrkamp Verlag von Frankfurt/M nach Berlin entwich, melden die Medien in ermüdender Abfolge juristische Spektakel über Besitz- und Mitbestimmungs-Querelen statt Rezensionen von relevanten Büchern zu veröffentlichen. Dafür springt der muntere Berliner Verbrecher Verlag in die Bresche – im neuen Herbstprogramm wird bereits der 5. Band von Erich Mühsams Tagebüchern angekündigt, eine couragierte editorische Großtat, den anarchischen Poeten wie das Nazi-Opfer zu ehren. Neben den inzwischen gefragten Mühsam- Büchern findet sich Kriemhilds Lache von Barbara Kalender und Jörg Schröder. Im beziehungsvoll abgewandelten Titel schwingt das Wort Rache mit. Ein Gruß im Leuchtspur-Gelb der legendären März-Bücher. Wo bleibt da der Suhrkamp Verlag – der alle Rechte an Dostojewskis Werken inklusive des Romans Der Idiot besitzt. Das ging damals wie heute gegen die herrschenden Idiotien der Zeit. Der kleine Verbrecher Verlag besitzt offenbar die seltene Courage, gegen das große Verbrechen unserer Zeit standzuhalten.
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Erinnerung
an legendäre
MÄRZ-Bücher |
In Leipzig fand kürzlich eine Konferenz über Nöspl bzw. NÖS oder sonst ein abkürzendes Gestottere statt. Gemeint ist eine Wirtschaftsreform Ulbrichts, die an ihm selbst und an Honecker scheiterte. Allerhand Köpfe reden klug zur Sache und schleichen um den heißen Parteibrei herum, worüber die junge Welt unter dem Stichwort »Steckengeblieben« berichtete, was auf die weiland DDR wie die heutige Berliner Republik zutrifft. Im Kern geht es um die Kapital-Analyse von Marx. Analog zu den Ressorts Astrologie/Astronomie – Glaube versus Aufklärung – widersetzen die Beteiligten sich der aufhellenden Vernunft, weil ihre Privilegien entfielen. Oder die siegende Revolution erklärt Marx zum Heiligen, womit die Sowjetunion ihren Untergang einleitete. Anders China, das nach Maos Tod eine zweite Revolution wagte, deren erster Leitsatz lautet: Der Kommunismus kommt erst nach dem Kapitalismus, d.h. die Genossen erfinden ein Kapital im Dienste der Revolution. Dieses Weltwunder versuchen die Chinesen zu bewerkstelligen, vom anschwellenden Klagechor westlicher Rotzlöffel begleitet, die von ihren oberklassenkämpferischen Religionskriegen nicht lassen wollen. Das ist gemeint, wenn jede unserer Folgen im poetenladen mit China anfängt. Schlussfolgerung: »Das chinesische Wunder hätte als deutsches Wunder schon in der DDR beginnen können …« Folgt der Verweis auf Fritz Behrens, Rosa Luxemburg, Ernst Bloch, deren Namen samt ihrer revolutionären Praxis und Theorien immer mehr vergessen gemacht werden. Wer es genauer wissen will bitte in Teil 1 Folge 94 anklicken: »Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative« Frohe Weihnachten bittschön.
Andreas Mytze irrt nicht, erwähnt er meine klaffenden Lücken in der Mitarbeit an seinem Kult-Lit-Projekt. Anfangs fand ich meine Welt in seinen Heften – von Trotzki bis Koestler, von Orwell bis Erich Mühsam, vom Anarcho Jung-Herbert bis zum späten Bonner Hackebeil-Wehner. Dann die Erweiterung zum Spiegelbild Ost – West mit Kultur-Fixierung auf Belletristik samt Lyrik. Wer sucht die Goldnuggets im Geröll heraus. Summa summarum: Das von London ausgesandte Gesamt-Kunstwerk steht weit über sonstigen Versammlungen von Freibeutern und Kursbüchern, offenbart Selbstreklame, Kollegenhass, Scharfsinn, Poesie, Unkenntnis, Fanatismus, Lüge, Phantasie, Lebens-Lust und – Frust in Worte und Unworte gegossen und gekotzt. Am Ende hat Europa ein kleines Deutschland weniger und ein großes zuviel, so dass Europas Ideen, soweit noch vorhanden, in arge Bedrängnis kommen. Wer Andreas Mytzes Geistes- und Geistersammlung zu Rate zieht, blickt in einen Spiegel. »Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken.« (J. C. Lichtenberg) Die Hefte der europäischen ideen ergeben inklusive Affen, Aposteln, Genies und Hofnarren eine umfängliche Bibliothek. Der Herausgeber spendet den Luxus seiner bald großmütigen, bald giftigen Fußnoten dazu, nicht zu vergessen die detektivische Spurensuche, geht es um Gerechtigkeit für Verfolgte. Ohne diese kühne Sammlung schrumpft jede Akademie, Universität, Staatsbibliothek zum Torso. Bleibt die Frage von Andreas Mytze nach dem Grund meiner zeitweisen Funkstille. In seiner jüngsten Mail heißt es:
Als Antwort hier die Zeilen von Seite 241 aus Sklavensprache und Revolte:
Soviel über meinen subjektiv-oppositionellen Zustand. Der Krieg der Poeten, der in Mytzes Zeitschrift jahrzehntelang geführt und dokumentiert wurde, ging mich mal viel und mal rein gar nichts an. War Harich also kgb wie Andreas insinuiert? Gab es in meinem Verhalten zu seinen europäischen ideen eine gysiphase als grund unserer 10jahrelangen entfremdung? Ach, du lieber Andreas an der Themse, wenn ich schwieg, schwieg ich nicht. Vielmehr hatte ich anderes zu tun als mich am Poetenkrieg zu beteiligen. Gestern, am 3. Advent, sendete der regional emsige MDR um 22 Uhr 20 die Dokumentation Erich Loest – Durch das Leben ein Riss. Wir schauten uns das illustre Schattenspiel an, das kurz vor Loests Freitod entstanden sein soll. Der Regisseur René Römer, bekannt für solide Arbeit am Drehort, lässt Loest am Ende auf dem Völkerschlacht-Denkmalklotz herumkraxeln. Die letzten Tage vor seinem Freitod. Wie frei ist der Fenstersturz eines Leipziger Ehrenbürgers – die Frage stellt sich nicht. Am Schluss der Dokumentation gleicht Loest so wenig dem uns bekannten Erich, dass wir an Fiktion zu glauben beginnen. Mir scheint, der Gott, an den Loest nicht glaubte, erwies dem MDR einen Gefallen und schickte den neu eingetroffenen Engel Erich für finale Filmaufnahmen nach Leipzig zurück. Früher hatte es dafür im Jammertal auf Erden keine Zeit gegeben. So leben die Toten als Schatten auf Urlaub weiter unter uns. Gestern war der 4. Advent, morgen wird Heiligabend sein. Der nächste Karfreitag ist auch nicht mehr fern.
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