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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 21 |
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Der Mord an der Philosophie geht weiter
Der Club der toten Dichter (1989) ist ein bekannter ambitionierter Hollywood-Spielfilm des australischen Regisseurs Peter Weir, der Schule machte. Der Club der toten Philosophen ist eine tabuisierte peinliche Tatsache. Der Club der toten Soldaten endlich ist die Summe aller Kriegerfriedhöfe unter dem Mond. Am Tag unter der Sonne bereiten unsere Rüstungsmultis im Aktionärsinteresse den Nachschub an Skeletten vor. In Eppstein im Hochtaunus gestalten die Burgfestspieler ihren Zug getreu nach dem Vorbild des Festzugs von 1913. Das ist glatte einhundert Jahre her. Man erblickt kampferprobte Männer im Silberglanz ihrer Ritterrüstungen. Heute sehen Krieger etwas modischer aus. Nur innerlich blieben sie dieselbe Horde von Aggressoren, die sich als heldenhafte Verteidiger ausgeben, weil sie die Verteidigung gegen sich selbst scheuen wie die SPD 1914 ihren bis dahin beschworenen Widerstand gegen den Krieg.
Wir haben wiedermal die Wahl. Vier Prozent der Wahlberechtigten, heißt es, wissen noch gar nichts von ihrem bevorstehenden Glück. Offenbar sind das erblindete Taubstumme oder wahre Gotteskinder, denen der Herr eingibt, Malaisen strikt zu ignorieren. Global betrachtet weiß allerdings noch der letzte Zelot, die Merkel- Wahl ist abzuwarten, danach geht die Sonne auf oder die Welt unter. Ich selbst favorisiere die Linkspartei schon wegen ihres Pluralismus. Freund Gysi garantiert die Möglichkeiten linkshändiger Mitte, die mehr als ein Dutzend zentrifugaler Flügel zusammenhält. Lafontaine, der grandiose Wirbelwind von der Saar, den die Sozis nicht aushielten und der den Linken den Schlaf aus den Augen trieb, erlitt den Krebs der Männer. Das Leiden ist überstehbar, hinterlässt aber wie der Herzinfarkt swingende Melancholien. Solange die anhalten, füllt Sahra souverän die Lücke, in der von Brüssel her noch Genosse Bisky mitspielte, bis er viel zu früh verstarb, während die übrigen 1989er erkrankten, vergingen oder schwächelnd ermatten. Wer will schon dauernd die unterste Kaste spielen, nachdem die unterste Klasse den Kampf verweigert. Ist die Lage etwa hoffnungslos? Für die Hoffnungslosen schon. Wer ist wer?
In den Landtagen von Thüringen und Sachsen fanden sich 1923 SPD-KPD-Mehrheiten, was zu Regierungen beider Arbeiterparteien führte. Reichspräsident Ebert schickte die Reichswehr hin. Der Grundkonflikt hält bis heute an. Heinz Niemann nennt ihn im nd vom 10./11. August d.J. beim richtigen Namen. Es geht um »Angst und Mut der Sozialdemokraten«. Sein Artikel endet exakt mit dem Verweis auf Eberts Marschbefehl nach Sachsen und Thüringen. Das ist die Zäsur, über die zwischen links und links ganz cool zu reden wäre. Wer hat Angst, wer Mut? Unter dem Artikel steht ein zweiter über August Bebel, einst Arbeiterführer mit mehr Mut als Angst. In derselben Ausgabe offenbart der unermüdliche Martin Koch seinen Lesern die fatale Erkenntnis: »Adam und Eva lebten getrennt«. Wenn das der hochheilige Luther wüsste. Schorlemmer übernehmen Sie!
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Das nd definiert die SPD
Erhofft man sich mehr
Mut von der Partei?
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Wir waren so frei, zwar nicht der Trennung von Adam und Eva, aber der von SPD und KPD im www.poetenladen.de die ganze Folge 30 zu widmen. Titel: »Der Sachsenschlag und die Folgen«. Aktuelle Hinzufügung mit Blick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen am 22. September. Der Lohn der Angst wird unsere lieben Sozis einholen, das walte Bebel. Und weiter war im nd zu lesen: »Vor dem Epochenbruch – Der Kapitalismus, die Linken und die Zeit-Diebe« von Manfred Sohn, dem Landesvorsitzenden der Linkspartei in Niedersachsen. Die Linke kommt spät, doch sie kommt. Nur ein Sohn-Satz ist mir zu kurzschlüssig, wonach seit der Hiroshima-Atombombe »… ein großer Krieg als Mittel gegen die große Krise ausscheide.« Das ist mir zu optimistisch gedacht.
Sohns Stoßseufzer am Ende, da die brave Linkspartei aus dem Landtag flog: »Die Sackgasse ist da. Möge die Linke sich den Stürmen, die jetzt kommen, als würdig erweisen.« Ein frommer Wunsch unter ziellosen Pilgern in der Wüste? Sohn spricht vom Epochenbruch. Wie viele Epochenbrüche zählen wir seit 1914? Und wer kann sicher sein, dass nach dem in Jetztzeit eskalierenden Bruch noch eine Epoche entsteht und nicht das zeit- und namenlose Chaos?
Im Alter wird das Schreiben zum Rettungsversuch des bis dahin Ungeschriebenen. Was gesagt werden muss, drängt hervor, da lebt es sich im Swing zwischen Platon und Lidl, Rewe und Merkel, Talkshow und Bloch, Lafontaine und Grass. Wahltag ist, Wahrheiten stehen nicht zur Wahl, sondern Machtfragen. Die Wahrheitslücken wecken das Bedürfnis nach Philosophie. Allein der Spiegel entdeckt innerhalb kürzester Zeit einen Philosophen nach dem andern, z.B. in Nr.27/2013: »Markus Gabriel ist der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands. In seinem neuen Buch erklärt er, warum es die Welt nicht gibt …« Das ist flott formuliert, nur nicht taufrisch und schon gar kein »neuer philosophischer Realismus«, immerhin: »Das Ergebnis ist eine ebenso spannende wie abgründige Exploration des Geistes.« So tritt zum abgründigen SPD-Gabriel der abgründige Philosophie-Gabriel in einer Welt, die es gar nicht gibt. Es sei denn wir verstehen sie als running gag.
In Regalen und Schränken und neuerdings auch online finden sich diverse alte und neue Geschichten der Philosophie, doch keine ihrer Feinde. Philosophie ist Aufklärung, das Metier ihrer Verfolger aber ist der Schrecken, der die Mächtigen ergreift und den sie verbreiten, wenn irgendwo tatsächlich in innerer Freiheit und Unabhängigkeit gedacht wird, philosophiert eben, reflektiert, analysiert, dekonstruiert. Unser Titel »Der Mord an der Philosophie geht weiter« stellt einen vielverschwiegenen Sachverhalt vor. Philosophie ist zum flotten Modeartikel geworden. Die alten Moden aber sind aufgebraucht. Worte wie Staatsphilosophie oder Religionsphilosophie sind Irrlichter, die es allerdings in verheerend großer Anzahl gibt. Schon das Wort erschleicht sich eine unwahre Begrifflichkeit. Philosophie ist das, was Staat, Religion, Krieg und die daraus folgenden ewigen Barbareien überlistet und sabotiert. Damit gelangen wir über die Vorsokratiker zu Platon wie Alain Badiou ihn sieht und Hollywood ihn potzblitz verfilmen will. Nach unzähligen ägyptischen Herrschern bis zu Kleopatra mit Cäsar und Antonius als römischen Bettgenossen ist eben mal die Philosophie an der Reihe, laut Badiou sogar mit Marx und Liebe. Mithin Philosophie und Praxis. Eros statt Klassenkampf?
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Alfred Eickworth
Sapper, Kommunist,
Deserteur bis in den Tod
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Im jugendlichen Alter, in dem Grass in der Waffen-SS diente, war Willy Brandt ein SAPer, sprich Sapper, die Sozialistische Arbeiterpartei stand zwischen SPD und KPD sowie zugleich in Nähe zu beiden. Sozialdemokraten, denen ihre Partei nicht mehr genügte, gingen oft zur SAP und weiter zur KPD. In Sklavensprache und Revolte, Kapitel »Das verschwundene Denkmal« erinnere ich an das Schicksal des Gablenzer Deserteurs Alfred Eickworth, den dieser Weg bis in den Tod führte. Die erste westsächsische Widerstandsgruppe von 1933/34 bestand nahezu vollständig aus SAP-KPD-Genossen. Dass Oskar Lafontaine mit seiner Abkehr von der SPD als Wanderer zur Linken mit diesem Schritt tatsächlich in die Nähe Willy Brandts rückte, ist Grass nicht vermittelbar. Nicht die Frundsbergerei lässt einen unerschütterlich selbstgewissen Günter den Dorfrichter Adam parodieren, sondern seine Feigheit, die ihn dazu trieb, vom SPD-Minister Karl Schiller das Eingeständnis der NSDAP-Mitgliedschaft zu verlangen, selbst jedoch seine SS-Eskapaden noch Jahrzehnte hindurch zu verschweigen. Charakter stellt man sich anders vor.
Der Autor und Verleger Joachim Jahns ging dem Phänomen der Selbstverweigerung und Fremdanklage in dem gewagten Doppelkopf-Titel Erwin Strittmatter und die SS – Günter Grass und die Waffen-SS sowohl kriminalistisch wie psychologisch nach. (Dingsda-Verlag 2011) Wir befassten uns mit dem Buch im poetenladen Nachwort 75/76. Der bestürzende Befund bedürfte weiterer Analysen. Strittmatter findet indes seine Leser auch als honoriges Mitglied im Club der toten Dichter wie Grass Zustimmung für seine substanzlos schmierigen Politferkeleien. Schade drum.
Die USA waren es, die auf die Neutronenbombe setzten – sie vernichtete nur Menschen und schonte Sachen – Egon Bahr nannte das »Perversion des menschlichen Geistes«, Helmut Schmidt aber beklagte lauthals einen »Dolchstoß«, als Präsident Jimmy Carter den Bau der Neutronenbombe absagte. Schmidt hatte für seinen Doppelbeschluss contra Moskau fest mit der Drohung durch eben diese Waffe gerechnet. Einmal Ostfront – immer Ostfront, das walte Stalingrad. Die Fakten waren nicht ganz unbekannt, wurden jedoch als Staatsgeheimnis gehandelt, bis 2013 die Bonner Protokolle erschienen. Die FAZ berichtete pünktlich und exakt darüber. Das Werk erschien im Droste Verlag Düsseldorf, 1772 Seiten, 208, 00 Euro. Nicht gerade die Volkslektüre zum Volkspreis. Das Volk will sowieso nicht mehr wissen, wie dumpf der Ex-Kanzler damals in den Protestzeiten agierte. Schmidt raucht weiter, den Carter-Dolch im Rücken, glücklich voller Nikotin mit sich im reinen der Unendlichkeit deutscher Unschuld entgegen. Angela Merkel aber schleuderte ihre hausgemachte Neutronenbombe mitten unter die CDU-Granden. Die erste Reihe der Herren verschwand. Die Partei, einst von Adenauer bis Kohl stahlhelmbewehrt, evangelisierte sich im Griff der Pastorentochter aus der weiland DDR. Atomkraft weg, Wehrpflicht weg, SPD bald weg. Dregger verstorben, Koch zur Wirtschaft geflüchtet. Angela die Große kommt aus dem Preußenland? Doch Preußenland ist abgebrannt.
Im Fernsehen drängeln sich in diesen Wochen eine Unzahl Berichte über 1989/90 und die Folgen des DDR-Untergangs. Fakten mischen sich mit Lug und Trug. Statt Triumphitis wäre besser nachdenkliche Bescheidenheit geboten. Denn die Endphase des Ostens ist übers Vierteljahrhundert hinweg mehr als uns lieb sein kann mit dem heutigen Krisenzustand verknüpft. Der Sozialismus verging in der eigenen Ratlosigkeit, der Kapitalismus folgt ihm offenbar nach, doch die bevorstehenden Bundestagswahlen treffen auf ein Volk im Ruhezustand. Man ist nervös und besorgt, weiß aber nicht recht warum, obwohl die Welt einem Aggregatzustand wie vor 1914 und 1939 zutreibt als wärs gewollt. Zum Beispiel der asymmetrische Krieg – der in längst überwunden geglaubte barbarische Haltungen zurückführt. Der Schwächere in einer Konfliktsituation bricht die Regeln, die dem Stärkeren nützen. Also reagiert der Stärkere seinerseits mit Regelbruch. Ob symmetrische oder asymmetrische Schlachten, sie garantieren den Krieg als ewig eskalierende Institution. Die Verhinderung des Krieges muss von außen starten. Die Krieger sind dazu schon mental unfähig. Das geht alle an. Die Marxisten glaubten an ihre Revolution, obwohl sie zur Konterrevolution entartete. Die aber ist nur der eingefrorene Zustand bürgerlicher Kapitalherrschaft, deren Eliten heute so ratlos sind wie gestern die östlichen Eliten.
Meinem Selbstverständnis nach bin ich Humorist. Die ersten frühen Texte begriff ich als verwundertes Gelächter, mit dem den Unerträglichkeiten dieser Welt zu begegnen sei. Als meine frühen Bücherschätze nicht mehr erwähnt werden durften und wir die gefährlichsten Exemplare im Wald vergruben, wurde ich für die Schulfreunde ein Karl-May-Leser, der sie durch eifriges Erzählen an dieser Lektüre teilhaben ließ. Ich übte, dem Zwang zu begegnen, mein frühes Doppel-Leben ein. Die Welt der mächtigen Erwachsenen will betrogen sein? Bitte schön! Meine ersten Texte waren Humoresken, die bald zur Glosse, Satire, Polemik tendierten, je nachdem, welches Raubtier es abzuwehren galt. Das hat Folgen.
Blochs kluger Rat, Schach statt Mühle zu spielen, wurde 1955/56 von der Partei als feindseliger Reformismus empfunden. Ins Empirische und Strategische übersetzt wäre Shakespeares Mahnung »Wirtschaft, Horatio!« in den Bereich von Ökonomie und Philosophie zu erweitern gewesen. Wie nennt man das? Zweite Revolution oder Reformation der Köpfe und Herzen. Soviel zu damals wie heute. Ulbricht traute sich nicht. Die Schlüsselnamen Fritz Behrens und Ernst Bloch wurden verteufelt und werden heute noch gescheut. Woher rührt diese Scheu? Darüber nachzudenken stößt auf einen Unwillen, der jeweils daran hindert, Schach statt Mühle zu spielen. Die ideologischen Mühlespieler wollen sich keinen Kopf machen. In solchen Details ähnelt die DDR-Krise Ende der fünfziger Jahre der heutigen Krise. Und das soll Merkel richten, während Grass, der SPD zu gefallen, Oskar Lafontaine zum Schuldigen hochdichtet, d.h. ins Politische übersetzt niedermacht.
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Hans Magnus Enzensberger
Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern
Suhrkamp 2013
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Gerhard Zwerenz
Die Antworten des Herrn Z. oder
Vorsicht, nur für Intellektuelle
Dingsda Verlag 1997
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Der Lyriker und Essayist H. M. E. hat ein neues Buch geschrieben. Die FAZ meldet: Hans Magnus Enzensberger: »Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern«. Enze also und sein Herr Zett. Das erinnert mich ans Jahr 1997, da erschien mein Band Die Antworten des Herrn Z. oder Vorsicht, nur für Intellektuelle – mit einer Dokumentation, Freunde und Feinde über Zwerenz, Dingsda – Verlag. In der Tat dachte 1997 weder Zwerenz noch Herr Z. an Enzensberger und seinen Herrn Zett im Jahr 2013.
Wenn Enzensberger 2013 seinen Herrn Zett meinem Herrn Z. hinterdreinschickt, erweist der Alphabet-Endbuchstabe Z seine zeitliche Endlosigkeit. Im Buchtitel benutzt wird der Ausdruck Herr Zett, während der Rezensent Friedmar Apel in der FAZ mehrmals Enzensbergers Kunstfigur Herr Z. nennt. Apel, geboren 1948 in Osterode, ist Vergleichender Literaturwissenschaftler an der Uni Bielefeld, die beiden Editionen von H.M.E. und GZ hat er offensichtlich nicht verglichen. Dazu besteht auch keine Pflicht, doch der Analphabetismus unter Akademikern, Lektoren und Journalisten grassiert, Titelschutz ist völlig außer Betracht, Plagiatoren häufen sich nicht nur bei Doktorarbeiten.
Hier eine Vorbemerkung, die GZ seinem Dingsda-Band mit auf den Weg gab:
Das Thema linker Einigkeit oder Feindschaft ist brennend aktuell geblieben. Harich sah es so, was ihm zehn Jahre Haft einbrachte. Enzensberger sah es anfangs ebenso. Wir äußerten uns dazu im www.poetenladen.de, Folge 22, wo es um den Spiegel, General Hammerstein und die Revolution ging, die der Dichter H.M.E. einstmals flott forderte, sodass der Spiegel daraus eine knallrotleuchtende Revolutionsbroschüre bastelte, in der Autoren von Carl Amery bis Gerhard Zwerenz um ihre Meinung zu Enzensbergers pathospraller Revolutions-Idee befragt wurden. Meine sieben Notate endeten und enden in dem Verweis: »Ja, es war Rosa Luxemburg, die einst auf dem Gründungsparteitag der KPD ausgerufen hatte: Ihr macht es euch leicht, Genossen, mit eurem Radikalismus …«
Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde der deutsche Gruß mit dem erigierten rechten Arm auch in der Wehrmacht zur Pflichtübung. Ich hielt das noch fünf Wochen lang aus und brüllte laut Heil Scheiße, als ich endlich entkommen war. Beim Anblick unserer vielgerühmten Fußballnationalmannschaftler, wenn sie heute, vor dem Anpfiff erstarrend, die deutsche Nationalhymne singen oder nicht singen, weil sie textkenntnislos, unmusikalisch oder nicht enthusiasmiert nationalhymnisch genug sind, denkt es in mir, nun folgt das Horst-Wessel-Lied, wie es weiland eure gehorsamen Väter und Mütter hielten, denen in der Bundesrepublik, anders als in der DDR, auch nach 1945 keine bessere deutsche Hymne in den Sinn kam. Da hilft eine Prise Enzensberger. Deutschland, Deutschland unter anderem, so sein 1968er Suhrkamp-Buchtitel, aus dem wir gern zitieren, siehe poetenladen, Folge 22. Enzensberger über Büchners Hessischen Landboten und den Schmäh, den Büchners Kritiker dagegen absondern: »Es zeigt auch ,wie wenig man in Deutschland vom politischen Widerstand und seinen Bedingungen versteht …« Da tritt, mitten im Wahlkrampf, dieser intellektuellen Wundstarre, der alerte Jakob Augstein auf den Plan und setzt bei Hanser sein ganz eigenes Widerstandsbuch unterm Titel Sabotage ab. Aber ja doch, so mutig sabotierend sind Enzensberger, Rudolf Augstein, Martin Walser u.a. Revolutionserzeuger auch schon mal gewesen. Und was ist das Resultat? Der gesamtdeutsche heilige Merkelismus und ringsum eine Welt voller Krisen und Kriege, die Merkel mit Geld, das ihr nicht gehört, retten soll, zur Strafe dafür, dass deutsche Waffen es in zwei totalen Kriegen nicht schafften, die Welt am deutschen Wesen genesen zu lassen. Aber es blieb doch die deutsche Kultur? Bevor deren erklärtes Zentrum, der Frankfurter Suhrkamp Verlag, nach Neo-Berlin exilierte, warfen Vater Unseld und Sohn einander Blochs Wort von der Liebe zum Gelingen so heftig an den Kopf, dass des Hausphilosophen guter Satz zur Liebe zum Misslingen geriet. Frage: Was wurde aus der Welt des Aufbruchs nach 1945, was aus Adorno, Horkheimer, Benjamin, Bloch, Brecht? So stehen fünf Köpfe für die besseren Möglichkeiten der vielen Gutwilligen, deren Mühen unterminiert wurden. Es begann hochgemut mit der Rückkehr von Philosophie und Literatur aus dem Exil ins besiegte Land. Was ist daraus geworden? Sabotage ist daraus geworden. Der Mord an der Philosophie geht weiter. Allein der Club der toten Dichter hat Zukunft.
Im Nachruf 22 erwähnten wir die Zeitschrift Sinn und Form sowie Blochs Sohn Jan Robert und Friedrich Dieckmann. Debattiert hatten die beiden Freunde über den aufrechten Gang inklusive Verbeugung. Am Montag, dem 26.8. d.J. meldet das nd punktgenau den 65, Geburtstag von Sinn und Form unter der Schlagzeile: »Im Meer des Zeitgeistes«. Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt hatte nach dem Ende der DDR zeitgeistig flott Ernst Jünger auf den Schild gehoben. Wir blättern in unseren Notizen von damals und finden das Ereignis deutschtümlich erweitert vermerkt:
Das alte Lied
Ernst Jünger geht um. Siebenundneunzigjährig.
Walter Jens mag ihn nicht. Besonders nicht in
Sinn und Form. Heiner Müller mag ihn. Besonders in
Sinn und Form. Stoppt die Zensur. Die alte und neue.
Ernst Jünger geht um. Harich mag ihn nicht.
Müller mag Jünger, weil Harich Jünger und
Müller nicht mag. Müller 1988 zu Besuch in
Wilfingen bei Jünger: »Danach über
Wolfgang Harich (gesprochen) einen gemeinsamen Feind.«
Ernst Jünger geht um. Hochhuth liebt ihn.
Beschreibt bewundernd seine 12 Kriegswunden.
Andersch mochte Jünger. Widerstrebend. Der
Held zweier Weltkriege und der Deserteur.
Ernst Jünger geht um. Büchnerpreisträger.
Goethepreisträger. Warum nicht den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels?
Den Georg-Lukács-Preis? DDR-Nationalpreis postum?
Nobelpreis.
Jünger geht um. Stephan Hermlin hat
»ihn nie verachten können.« Im Gegenteil:
»Ich habe das Gefühl, obwohl mir das eine greuliche
Vorstellung ist, dass ich mit Jünger manches
gemeinsam habe.« Ernst Jünger geht um.
Walter Jens mag ihn nicht. Heiner Müller
mag ihn. Rolf Hochhuth mag ihn. Stephan
Hermlin mag ihn. Tucholsky mochte ihn nicht.
Was sagt wohl der arme Bertolt Brecht dazu?
Wie wir sehen überlebte Jünger selbst unter linken Intellektuellen als vielbewunderter Kriegsheld. Man schmiede ihn aus Kruppstahl zehn Meter hoch und postiere den Mann als Denkmal deutscher Einheit vor dem Bundestag. Der Hinterkopf unterm zerschossenen Stahlhelm bleibe frei, um dort die Masken unserer wechselnden Kriegsverteidigungsminister zu präsentieren.
Inschrift in güldenen Buchstaben unten am Denkmal: DEN GEDÄCHTNISLOSEN.
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