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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 43 |
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Wahltag zwischen Orwell und Bloch
»Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Magot Käßmann, hat sich für eine Abschaffung der Bundeswehr ausgesprochen ...« (FAZ 11.8.2014)
Welche Partei wagt das?
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Die offene Frage ist, wie eine neue sozialistische Gesellschaft beschaffen sein müsste. Sofern sie nicht als Alternative zugunsten der Turbo- Barbarei überhaupt ausscheidet, kann sie nur in einer bisher unbekannten und unerprobten Form von Freiheit und Ordnung bestehen. Wir aber sind umgeben von forschen Maulhelden, die erneut mit der Birne gegen die Wand laufen wollen. Der Rest sind ganze Rotten jammernder Zwerge mit Entschuldigungsdiarrhöe. Der Knackpunkt ist die Entscheidung in der Kriegsfrage. Führen die Oberen ihre Krieger zwangsläufig in immer neue imperiale Schlachten, kann nur eine weltweite effektive Kriegsverweigerung die totale Diktatur verhindern. Damit wäre der Anschluss an Blochs Formel aus dem 1. Weltkrieg gegeben, die »Kampf, nicht Krieg« heißt. Zur selben Zeit, im Jahr 1917, fragte Bloch: »Schadet oder hilft Deutschland eine Niederlage seiner Militärs?«
Indem Bloch für die Niederlage votierte, gelangte er zum Ausgangspunkt seiner Revolutionshoffnung. Freilich: »Nicht nur von außen, auch von innen muss die Katastrophe kommen; der Sprung zur Erneuerung muss mit der glücklichen Niederlage der Militärs anheben ... soll Sittliches in der Erneuerung sein.« (Schuldfrage und mögliche Regeneration). Dazu brauchte es: »Armut, Buße, Einkehr, Abbau, fruchtbaren Selbsthass, ein alle Unfreiheit und mitgemachte Verhärtung lösendes, wegspülendes Reue-Erlebnis ... «, damit es »zu einer Reformatio Germaniae in capite et membris komme.« Das mag heute etwas romantisch klingen, und um zu verhindern, dass diese Sätze zu den üblichen Verdächtigungen führen, sei dem Bloch von 1917 der von Tübingen aus den sechziger Jahren angefügt: »Zum US-Krieg in Vietnam. – Die Nazis wurden wegen ähnlicher Verbrechen, wie sie die Amerikaner gegen das vietnamesische Volk seit Jahren begehen, von einem Nürnberger Gericht unter dem Vorsitz eines amerikanischen Richters zu den strengsten Strafen verurteilt. Wann endlich merkt die Welt diese Parallele, urteilt und handelt danach?« (Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz)
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Ernst Bloch: Politische Messungen ...
Blochs Projekt von 1970 ist 2014 wieder aktuell: Pestzeit oder Vormärz? |
Das heißt den Nagel auf den Kopf treffen und ist die Praxis der These »Kampf, nicht Krieg«. Historisch gesehen befinden wir uns immer wieder in der Situation von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahr 1914 – wir haben nichts als die eigene Widerständigkeit, angereichert mit den Erfahrungen aus anderthalb Jahrhunderten, die analysiert, reflektiert und revolutionär erweitert werden müssen, falls wir uns trauen und uns noch genug Zeit zur Verfügung bleibt. Zur Zeit sieht es nicht so aus.
Wer riskierte heute, die Niederlage des eigenen Landes zu fordern? Alle wollen siegen. Alle verlieren, selbst wenn sie siegen. Jeder Sieg ist eine Niederlage, die den nächsten Krieg vorbereitet.
Manchmal überlege ich einen ganzen Tag lang, ob ich wählen gehen soll, und hab ich mich entschieden und auf die Socken gemacht, ist das Wahllokal eben geschlossen worden. Gut Ding will Weile haben, Leute, mancher geht nicht wählen, mancher kommt zu früh und mancher zu spät, und mancher wählt die falsche Partei.
Aber aber aber was ist die richtige Partei, wenn alle alle alle nur dasselbe sagen und sich darüber in die Haare geraten. Ich sitze vor der Glotze und glotze und rotze und kotze und motze. Ich sehe den Jürgens Udo, mal tritt er auf als HEINTJE, und alle alle Mammis sind entzückt. Denn immer, immer wieder geht die Sonne auf, und immer wieder bringt der Tag für uns ein neues kleines braunes Licht. WARUM NUR, WARUM NUR MUSS ALLES SO SEIN.
Dies schrieb ich 1980 fürs Brennglas, Heft 1, herausgegeben in Frankfurt/Main von Juergen Seuss und Herbert Heckmann. Am kommenden Wochenende ist Wahltag für den Freistaat Sachsen. Als Sachse, im eingemeindeten Ausland wohnend, brauche ich nicht zu wählen. Und nicht zu vergessen.
Leipzig 1
So meine Erinnerung an das Sachsen hinter mir und die Bonner Republik vor mir. Aus der Ratlosigkeit heraus halfen kleine Satiren.
Des Petrus Klage
Hier sitze ich brav seit ungefähr 2000 Jahren. Waren Sie schon mal Beamter? Nein? Dann verstehen Sie mich nicht. Oder doch? Da kennen Sie meine Sorgen. Zum Beispiel die Beine. Immer unterm Tisch. Wozu braucht ein Beamter Beine. Aus den Augen mit den Beinen. Seit 2000 Jahren! Der Kreislauf rebelliert, die Venen schwellen an, Blutstau in den Unterschenkeln. Das ist wie heute bei euch auf der Autobahn. Alles steht still. Früher hatte ich noch Bewegung. Viel Bewegung. Das frischt auf. Jetzt läuft der Betrieb hier über Handy und PC und bei mir läuft gar nichts mehr. Ich könnt' mir die Beine glatt abhacken. Wenigstens die Zehen. Was nützen einem Beamten Zehen? Wenn es früher klopfte, eilte ich flott und fit zur Tür: Wer da? Dann gab's einen Diskurs. Ein armer Teufel wollte ins Himmelreich eingelassen werden – oder ein reicher Teufel. Im letzten Jahrhundert fanden sich immer mehr reiche Teufel an, da fiel es leicht, die zur Hölle zu schicken. Ab mit euch! donnerte ich, und dann war nur Rauch und Feuer und Geschrei. Waren das noch Zeiten. Heute spielt sich alles elektronisch ab. Ich sag ein Codewort, drücke Tasten, auf dem Bildschirm blicke ich den Kerlen in die Seele – alles im Sitzen – einfach schauderhaft bequem. Aus der Hölle twittern sie eine Beschwerde nach der andern wegen Übervölkerung. Und bei uns im Himmel wird es einsam. Jesus liest, sich zu unterhalten, eifrig Karl Marx. Gottvater ist beeindruckt und schlägt Merkel per Handy vor, fürs erste schon mal das Manifest als Nachwort der Bibel anzufügen. Weiß das Merkel, weiß es auch Obama. Was aber, wenn der traumatisierte NATO-NOBEL-Friedenspreisträger uns den Krieg erklärt? Mutiert diese Erde zur totalen Hölle, fällt mein himmlischer Arbeitsplatz weg. Wer zahlt dann meine Rente?
Von der kleinen zur größeren Satire und weiter zur Politik ist es nur ein Katzensprung. Momentan geistert der jugendliche Altstar Roland Koch durch die Medien. Ein Jahrzehnt oder Jahrhundert lang stolzer hessischer Ministerpräsident mit Ausflucht zum Welt-Baukonzern Bilfinger und aus der Traum vom Höhenflug. Der gescheite Gescheiterte wolle jedoch nicht in die Politik zurück, heißt es begütigend. Angela kann beruhigt sein. Der Konkurrent bleibt außen vor.
Bemerkenswert ist ein Leserbrief (FAZ 6.8.2014) von Prof. Dr. Walter Dietz zur beabsichtigten Wiederauflage von Hitlers Mein Kampf. Der evangelische Theologe schlägt vor, »das Buch unverändert mit einem kontrapunktischen Vorwort des Bundespräsidenten zu veröffentlichen (heikel, aber lohnend) Wer könnte das besser als Gauck?« Wir erlauben uns die Nachfrage: Wieso ist Glaubensbruder Dietz so sicher, dass der vormalige Pastor in einem Vorwort den Führer »kontrapunktiert?« In Kindheit und Jugend des Joachim G. fungierte Mein Kampf als Bibel im Haus – die Mutter ab 1932 in der NSDAP, der Vater ab 1934, wofür der Sohn nichts kann. Dennoch: aus dem Bellevue vernahm man bisher nur tränenreiche Klagen wegen seines durch die SU inhaftierten Erzeugers, ein Wort der Distanzierung von den Nazi-Eltern blieb bis heute aus. Als Buprä mag Gauck das rechte Deutschland exemplarisch vertreten. Ein Vorwort fürs Hitler-Konvolut wäre wohl tatsächlich heikel. Doch Gauck mit all seinen strategischen Verlautbarungen steht nicht allein. Bereits am 7.8.2014 spendet Pfarrer Matthias Rothenberg aus Schöneck in der FAZ Zuspruch: »Militärische Absicherung notwendig« denn »ich als evangelischer Pfarrer könnte niemals Pazifist sein … Solange Jahwe seinen Tag nicht heraufgeführt hat, sehnen wir Christen uns nach Frieden und haben nicht nur Feindbilder, sondern wirkliche Feinde. Ohne militärische Absicherung sind alle gutgemeinten Anstöße nicht umsetzbar.« So die christliche Kriegspartei im schrillen medialen Trommelfeuer. Bloch fragte schon 1917, wir zitierten ihn nicht absichtslos: Schadet oder hilft Deutschland eine Niederlage seiner Militärs? Dies sein Votum für die Niederlage mit revolutionären Folgen. Was aber nützen Revolutionen, wenn sie das Gegenteil ihrer Ziele erreichen?
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Soll Gauck Hitlers Mein Kampf bevorworten, wie ein Professor im FAZ-Leserbrief anregt? |
Wir stehen unschlüssig zwischen Orwell und Bloch. Orwells utopischer Roman 1984 nimmt das 21.Jahrhundert vorweg. Der Mensch als Gefangener seiner selbst. Arthur Koestler nannte Orwell »das einzige Genie unter den revolutionär angehauchten Literaten.« Das ist Anerkennung und Skepsis. 1950 starb Orwell in London. Im Jahr zuvor kam Bloch aus dem amerikanischen Exil nach Leipzig. Sein Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung erschien dort 1954–59 und sollte die Alternative zu 1984 sein. Warum misslang es? Orwells Revolutions-Umkehrung als Sprach-Umkehrung lautet: Krieg bedeutet Frieden – Freiheit ist Sklaverei – Unwissenheit Stärke: Als Urquell für den Dreisatz wird der »Rausch der Macht« benannt. Jeder einzelne Satz beweist zugleich den Rausch der Sprache. Das Raubtier tötet aus Hunger. Der Mensch aus Sprach- und Bildlust.
In Folge 89 empfahlen wir dringend das eminente Antikriegsbuch Etappe Gent von Heinrich Wandt. Dieser Schlag in die Kriegsfratzen schien vergessen zu sein. Jetzt lesen wir, im Berliner Dietz Verlag erscheint eine Neuauflage. Der Bericht aus der Etappe im 1. Weltkrieg – vorne krepieren die Soldaten, hinten schlemmen die Übermenschen – nimmt heutige Standards vorweg. Im elektronischen Drohnenkrieg wird der Himmel zur Hölle. Von dort oben, wo früher Gott wohnen sollte, verteilen nun die Maschinenmachthaber aus der sicheren Etappe nach Gusto den Tod.
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Heinrich Wandt: Etappe Gent
Zur Wiederentdeckung eines wichtigen Antikriegsbuches und Bestsellers. Der vielverfolgte und vielgeschmähte Autor starb in bitterer Armut – so die Rache der Gesellschaft
Unten: Cover der Neuausgabe
im Karl Dietz Verlag
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Inzwischen ist die angekündigte Etappe Gent im Karl Dietz Verlag erschienen, in erweiterter Form, herausgegeben von Jörn Schütrumpf und mit Hilfe einiger Fachleute für unterdrückte und vergessen gemachte Kulturen. Die neue Edition bietet eine Auswahl aus Etappe Gent und den zweiten Teil Erotik und Spionage in Etappe Gent, wie der Verlag informiert. So ist ein anderes als das ursprüngliche Buch entstanden, voll von neuen Entdeckungen und Informationen, sowohl in aller Fraglichkeit zeitgemäßer als für mich im Vergleich zur Originalausgabe fremder. 1933 las ich das Buch als Schuljunge, kurz bevor wir unsere Gablenzer Bodenkammer-Bücher wegen der verbotswütigen Nazis verstecken mussten. Der Band mit rund 175 Seiten war 1926 im Agis-Verlag Wien-Berlin erschienen als Zweites Hunderttausend – Erweiterte Ausgabe. Das Vorwort von Heinrich Wandt schließt mit den Worten: »Nieder mit dem Militarismus aller Länder! Schafft der Völkerversöhnung freie Bahn! sei unsere gemeinsame Losung.« Wer wagt heute noch so entschieden international-revolutionär zu formulieren. Auf Seite 362 der Neu-Edition wird unter P.P.S. vermerkt:
»Der Weltkriegs-II-Deserteur Gerhard Zwerenz hat jüngst auf der kleinen, aber feinen Website poetenladen auf Heinrich Wandt hingewiesen. Zwerenz, angewidert von Ernst Jünger, dem Stahlgewitter-Anbeter, nennt Wandt den ›Gegen-Jünger‹ – was zweifellos überzogen ist. Folgen darf man aber Zwerenz' Empfehlung: Etappe Gent lesen. – Jörn Schütrumpf Berlin, 19. Juni 2014«
Ich bin mit diesen Zeilen so radikal einverstanden wie über einen Satz verwundert. Ernst Jünger ist die aufgeblasen arrogante literarische Leitfigur in allen heißen und kalten Kriegszeiten, Pour-le-meritter, Grabenkämpfer mit theatralischen Triumphen über den Schuss in die Birne des Feindes, Schul-Lektüre-Lieferant, Stil-und-Stuss-Artist mit dem Drang, seine Schlachtgemälde lebenslang immer wirkungsvoller zu verschärfen. Sein doppelt gelöcherter Stahlhelm wird im Museum stolz vorgeführt, er selbst von jeweiligen Politgöttern ehrenbesucht. Selbst DDR-Dichter rückten an.
Dagegen steht Heinrich Wandt als absolute Gegen-Gestalt. Es ehrt den Karl Dietz Verlag, dieses wunderbare Überlebenswerk endlich der Vergessenheit zu entreißen. Und auf der Cover-Rückseite wird glasklar formuliert, worum es in der klassischen Sprache der Tatsachen geht. Dafür gab es im Leipzig der Weimarer Republik einen unheimlichen Geheimprozess gegen Wandt. Vom Reichsgericht links der Pleiße zu Blochs Institut für Philosophie rechts der Pleiße ist es ein Katzensprung. In den fünfziger Jahren durfte der Professor hier wirken, bis die Obergenossen ihn aussperrten. Sein Projekt radikaler Kriegsgegnerschaft wird bis heute wie aller Pazifismus als Naivität und Narretei abgetan. Von Heinrich Wandt über Ernst Bloch bis Margot Käßmann gibt es aber gute Gründe für einen Aufrechten Gang zur kommenden Sachsenwahl. Wer Parteien wählt, die Krieg nicht kompromissbereit ausschließen, wird ihn bekommen. Die FAZ am 18. August 2014 auf Seite 1: »Ukraine bittet EU und NATO um militärische Hilfe.« So die Logik der Waffennarren. Wir ahnen, wie Hitler in der Hölle vor Neid erbleicht – er musste die benachbarten Länder erst besiegen, um gegen die Russen loszuschlagen. Indem Obama Angela Merkel zur stärksten Frau der Welt ernennt, ändert sich die geostrategische Lage. Heute sollen EU und NATO der stärksten Frau folgend die US-weltherrschaftlichen Aufgaben im Osten erledigen. George Orwell: Krieg bedeutet Frieden. Es sei denn, Margot Käßmann verleiht den Protestanten und Genossen die Courage, die liebe Bundeswehr abzuschaffen. Das bevorstehende Lutherjahr bietet Gelegenheit zur Wahl zwischen Luther und Thomas Münzer. Auch das ist nachzulesen bei Ernst Bloch, vormals Leipzig. Nun wählt mal schön.
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