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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 15 |
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Meine Rache ist ein dankbares Lachen
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Ich verteidige das Wunderland meiner Kindheit – meinen Großvater Franz Widl, 1927 geehrt für 25 Jahre Gewerkschaft. Ich verteidige das vergangene Land der klassischen Arbeiterbewegung
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Die Verteidigung Sachsens gilt dem Wunderland meiner Kindheit zwischen Pleiße und Gablenzer Teichen, wo ich aufwuchs in der Obhut einer Frau, wie es sie nur im Paradies geben kann, so hieß das Tal mit Bachlauf, an dem entlang der Mann der Frau morgens zur Arbeit ging, mein Großvater – ein Kesselschmied und Holzschnitzer aus Böhmen – mit ihm lebten wir zu dritt im tiefsten Frieden, während ringsum im Breitwandformat alte Kriegsknechte zu jungen Übermenschen mutierten. Deutschland erwache, hieß das.
Dieses Sachsen, das ich verteidige, ist kein schwarzbrauner Bürokratensumpf mit Naziblüten, worüber die Medien heute berichten. Rot gleich braun – warnt da mitten in Chemnitz ein wohlbestallter Professor, was eine NSU-Gang im nahen Umfeld siedeln ließ. Safety first, unschuldige Pistoleros rasteten im Garten Eden, von wo es sich siegesgewiss in aller Ruhe zu Raub- und Mordzügen aufbrechen ließ. Der tiefe Staat schafft sich seine Strukturen. Wann wird dem Chemnitzer Karl- Marx-Kopf über Nacht ein roter Zielpunkt auf die Stirn gemalt?
Aus Ingrids Leipziger Notizen: »Am 9. Dezember 1955 war Bloch in Leipzig mit seinen Vorlesungen in einem besonderen Universum angelangt – bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Gleich der Einführungssatz wurde dem genialen Mann gerecht: ›Seine Gedanken sind ungeheure Apercus, man soll nicht mühselig ein System herstellen, wo keines ist.‹ Dieses Nicht-System faszinierte unseren Philosophen und er zitierte gern und viel: ›Es sind nicht zwei Dinge in der Welt gleich.‹ Ein Aspekt wurde gebührend gewürdigt – die kleinen Wahrnehmungen. Über die Petites perceptiones und ihre Beziehungen zum Unbewussten bei Sigmund Freud schrieb ich meine Jahresarbeit, das Thema verschaffte mir eine Sonder-Erlaubnis zum Freud-Studium. Man durfte die auf dem Rücken mit einem roten Punkt versehenen Bücher nicht mit nach Hause nehmen, die Lesegenehmigung bezog sich nur auf die Lektüre innerhalb des Lesesaals in der Deutschen Bücherei.«
Soweit Ingrids notierte Nachricht aus einer Welt der Zielpunkte. Dagegen steht unsere Leipziger Schule der Philosophie, die von den einen bekämpft, von anderen geleugnet – verleugnet – wird. Wir haben zu lange widerstanden, um zu vergessen.
Ingrids Erinnerungen an die Vorlesungen von Bloch, der in Leipzig listig den Leibnitz-Satz zitierte Es sind nicht zwei Dinge in der Welt gleich, betonen Unvergessenes und vermitteln Details jener frühen Differenzphilosophie, die westwärts später mit dem Namen Derrida verbunden wurde, was Nietzsche und Heidegger einschließt, während doch die ältere rote Linie Marx – Nietzsche – Lukács – Bloch so unbeachtet bleibt, wie die Nihilisten wollen.
Von Aristoteles-Platon bis Marx-Bloch lebt die Philosophie von ihrer substantiellen Nichtverwirklichung. Als Lehrstoff von Generation zu Generation weitergereicht bietet sie Gelegenheit zur akademischen Karriere vom Nichts zum Garnichts. Bis jemand die Wahrheitsfrage stellt, Praxis genannt und die Philosophie verliert ihren autonomen Status und wird Partei, als gäbe es davon nicht schon genug. Anders bei den Kriegsdenkern. Clausewitz brachte Aufklärung ins Schlachthaus, doch die Schlächter profitierten davon. Nietzsches Zarathustra gebar den Stahlhelm Ernst Jüngers und mit Heidegger einen Philosophen, der seinen NSDAP-Mitgliedsbeitrag devot bis zum Kriegsende 1945 entrichtete. Das ist die realisierbare Praxis im Reich des Übermenschen. Nietzsches Schwester Elisabeth schenkte Hitler den Gehstock des Bruders, und der Führer fuhr beglückt von Weimar nach Bayreuth, der angebeteten Wagnerei damit zu imponieren. Das ist die nationale Liebe. Sollten wir uns auf Nietzsches beliebte Edelvision des Übermenschen einlassen? Auf die Naziversion samt heutigen Nachgeburten? Der Übermensch ist ein Untermensch, der mit der Karriere sich selbst als Maßstab setzt, um seine trübe Kleinbürgermoral zur Herrenmoral zu eskalieren. Soviel zur Philosophie, die auf Teufel komm raus Kasse macht. Da sind wir mitten in der Jetztzeit angelangt. Das Tier ist eben ganz und gar pragmatisch. Fressen und gefressen werden.
Nachdem Joseph Fischer das Außenministerium die umstrittene braune Vergangenheit aufarbeiten ließ, wie das genannt wird, treten ungezählte Ministerien, Ämter, Orchester und Sportvereine mit teuren Historikerteams auf den Plan. Alle nahmen an, von edlen Widerständlern abzustammen, jetzt zeigt sich, die Nazizeit fand 1945 nichts weniger als ein Ende. Rein personell gesehen. Adolf selber, von ungezählten Büchern und Filmen am Leben gehalten, gründet eine ganz individuelle Historikerkommission, sein Leben zu erforschen. Wir schlagen ihm Sebastian Haffner vor, er nahm sich Joachim C. Fest für diesen Job. Hitlers stern-Tagebücher und dass sie gefälscht sind, was ändert es am guten Willen zur Aufarbeitung? Viel treffender könnte sich der Führer selbst nicht fälschen.
Der Pragmatismus des Tieres: Es richtet sich ein. Gelingt es, wird überlebt. Misslingt es, verschwindet die Art. Möglicherweise sind wir jetzt dran. Die Menschwerdung – Darwin – fügt zum pragmatischen Verhalten allerhand Überbau hinzu: Religion, Kultur, Kunst. Der Mensch erlangt Freiheiten, auch zur Vervielfachung der Gewalt, das braucht Verhaltensregeln, Trost, Phantasien, Intelligenzen. Laut Marx ist Religion als Opium des Volkes auch Seufzer der bedrängten Kreatur. Davon leben heute die werten Medien. Der Mensch lebte anfangs wie das Tier in seiner kleinen flora-und-fauna-fresserischen Umwelt. Bis er sich Götter erfand und mit ihnen als Übertier zu konkurrieren begann.
Beim Blick auf den Chemnitzer Marx-Kopf fallen mir elementare Chemnitzer Marx-Köpfe ein: Stefan Heym, Leo Bauer, Walter Janka … Jedes Antlitz eine Poesie des Augenblicks, jeder Kopf ein Memento des 20. Jahrhunderts: Walter Jankas Reisen im Widerstand um die halbe Welt über Spanien bis Mexico und am Ende von Ostberlin nach Bautzen, wo ihn Jahrzehnte zuvor die Nazis schon einmal eingekerkert hatten. Leo Bauers KP-Karriere bis zum exkommunistischen Willy-Brandt-Berater mit dem vorangegangenen moskowitischem Todesurteil im Gepäck. Stefan Heym, der1994 als Alterspräsident den Bundestag mit einer Rede eröffnet, in der zur »großen Koalition der Vernunft« aufgefordert wird. Dankbaren Beifall gab's nur von der linken Seite des Hauses und schamlosen Undank von rechts. Auf diese Heymsuchung blickend fürchten christliche Parteikanoniere nur jenen Marx, der von Chemnitz bis Bonn und Berlin Ausschau hält: Immerzu von neuem Marx in Gestalt der Heym, Janka, Bauer… hört denn das nie mehr auf? Und sie hofften, dieses Sachsen endlich besiegt zu haben. Fragt sich, sind wir hier in einem Roman, einem Gedicht, Bühnenstück oder gar in der ungeschönten Wirklichkeit von heute – und was ist überhaupt heute, ist es gestern oder übermorgen oder das blanke Nichts ohne Zeit und Raum und nur mit dir und mir im freien Fall?
Im Sachsenland bilden Heym-Bauer-Janka im Schutz und Schirm des Chemnitzer Marx-Kopfes einen Dreierbund harmonisierender Polaritäten. Ein besonderes Trio jüdischer Linksintellektueller, jeder findet auf der Flucht mit ihren Folgen seinen ganz individuellen 3. Weg. Ihr Herkunftsland fügt sie zusammen wie die Revolution. Die Verfolgungen führten an gegensätzliche Fronten, ohne dass sie aufeinander feindlich reagierten. Die Dreiheit bezeugt eine politische Kultur, die heute vergessen gemacht wird von der bürgerlichen Phalanx wie auch von eigenen Leuten, wenn sie sich selbst vergessen, sei es aus Angst, Feigheit, Opportunismus, bestenfalls unabwendbaren äußeren Nöten. Hier nun verteidige ich ein bedrohtes Land zwischen Karl Marx, Karl May und Ernst Bloch. Das ist unsere Familie, kein Grund, sie auch nur im geringsten zu verleugnen. Notfalls bilden wir eine Wagenburg, Ausfälle und Gegenstöße inklusive.
Eine vormalige Folter- und Killerschule unter US-amerikanischer Leitung in Panama, wo auch Pinochet konditioniert wurde, ist inzwischen unter spanischer Direktion zur luxuriösen Hotelanlage umgewandelt worden, meldet die FAZ am 16. Mai d.J. und empfiehlt die exquisite Herberge standesgemäß. In Folge 91, Titel »Im Hotel Folterschule«, schrieben wir darüber im poetenladen, allerdings geschah das auch schon lange vordem, als die bürgerliche Presse noch vornehm die Klappe hielt, um die verbündeten Killer weder zu stören noch zu verärgern. Die missionarische Verbreitung der westlichen Wertegemeinschaft verlangt wenigstens temporäre Verschwiegenheit. Grass verschwieg seine Fundsbergerei auch bis nach dem Nobelpreis. Dezenz zahlt sich aus, wird sie laut genug von Parteipropaganda begleitet. Das gibt es rechts wie links: Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied – so unser Spitzenklassiker Goethe zu Leipzig in Auerbachs Keller.
Vor einem Dreivierteljahrhundert, ich war fünf Jahre, sah man an Fluss-, Bach- und Teich-Ufern auf Pfählen befestigte Podeste. Frauen knieten dort, seiften und schrubbten Bettbezüge, Unterzeug, Tischtücher, später gab es Waschhäuser, wo Frauen sich zur »großen Wäsche« anmeldeten, bis der Siegeszug von Maschinen die Mühen erübrigte. Ich sehe in den Knienden das Gegenbild betender Frauen. Sich aufzurichten war ein Wunschbild. Mit meiner Großmutter ging ich durch den Ort. Sie wies auf einzelne Häuser, die Namen von »Gefallenen« nennend, da hatte eine Frau ihren Mann, dort ihren Sohn verloren. Warum standen die Männer nicht wieder auf, wenn sie gefallen waren, fragte ich und erfuhr, »gefallen« bedeutete, im Krieg getötet worden zu sein. Diese Frauen und Mütter wussten mehr als wir wissen durften. Ich nahm mir vor, nie zu den Gefallenen zu gehören. Und wenn, stünde ich wieder auf.
Der Artikel von Charlotte Schmitz, freie Journalistin in Frankfurt/ Main, erschien am 5.5.1998. Weshalb ich Markus Wolf im Club Voltaire trotz früherer Gegensätze beisprang, wird in der Zeitung exakt wiedergegeben. Es droht die Globalisierung des Kapitals als neuem Totalitarismus. Bis zum plötzlichen Tod Wolfs ergaben sich mehrere Treffen und offene Gespräche. Ausgangspunkt war mein Roman Die Quadriga des Mischa Wolf, Fischer Verlag Frankfurt/M 1975. Darin nahm ich die Polit-Krimi-Usancen erst sauernst, dann als Gag: Macht euch nichts vor, ihr schrägen Typen von den unsichtbaren Fronten. Wir hatten uns verstanden. Übrigens wusste Wolf über mich fast so viel wie ich über ihn, weil ich mit einigen seiner früheren Agenten guten Kontakt hielt, z.B. mit Foto-Porst. So finden wir in Ironie und Distanz des Gelächters einen 3. Weg der Selbstüberwindung ohne Selbstaufgabe.
Am 14. Mai 201, dem Dienstag vor Pfingsten, aber vom Feldberg herab neblig, nass und kalt, erwärmt das FAZ-Feuilleton unser Herz mit der Devise:
Ist doch freundlich von der FAZ, per großer Überschrift den 3. Weg für Europa zu signalisieren. Edgar Morin, hier oben in der Kopie nur kurz vorgestellt, wir empfehlen angelegentlich den gesamten Artikel, Morin also ist ein in Deutschland kaum wahrgenommener französischer Autor mit fast so vielen Büchern wie ich im Lauf von Jahrzehnten. Zusammen mit Stéphane Hessel – Empört Euch – schrieb er Wege zur Hoffnung und vertritt in Wort und Person für Frankreich den 3. Weg wie wir seit 1956 für die wechselnden Deutschländer. Nachzulesen im poetenladen, Folge 94/95 »Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative«. Darin der Verweis aufs Diskurs-Heft 18 der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2005. Im Heft enthalten ist Bloch, Behrens und der Chinesische Drache, extra herausgehoben auf Seite 16 Europas Dritter Weg, was unsere Linke überfordert, die im Parteilehrjahr nur Feindschaft gegen Abweichler lernte. Lieber bleiben sie marginalisiert auf alten ausgelatschten Holzwegen zurück. Oder hilft die FAZ-Lektüre vom 14. Mai 2013 weiter, auch wenn's nicht von der Pariser Submoderne oder geradewegs von Heidegger herrührt? Machen wir ein fröhliches Spiel daraus, flüstert mein Pseudonym mir ins Ohr. Jetzt erscheint plötzlich Marx auf der Weltenbühne und hält die erste seiner berühmten ontologischen Ansprachen aufs Altersheim Deutschland: Ehe Euch der Krebs auffrisst, tut schnell noch was für diese schöne Welt. Bald wird's zu spät sein, durchs Leichentuch dringt keine scharfe Tat. Und Eure Koffer bleiben hier. Den Kopf gesenkt, die Hände tief im Safe, die Ganglien wohlverschnürt, das Kirchensiegel überm Herzen. Den Arsch voll Hämorrhoiden, das ist, mein ich, kein Leben, das sich sehen lässt. Eh' Euch der Krebs wegleckt, tut schnell noch was für diese Welt und alle, die den großen Jammer vor sich haben. Ein Schuft, wer sich beiseite stiehlt. Im Sarg, da ist kein frohes Wohnen. Man sollte hier die Luft mit viel Genuss und keinmal ohne Folgen schlucken. Nehmt Zyankali doch, wenn Ihrs nicht schafft beizeiten abzutreten. Geködert&verschrödert undsoweiter …
Marx teilt per E-mail aus dem Himmel mit, er werde elf Reden an die deutsche Einheitsfront halten. Wir werden sie wie die erste protokollieren. Heute zum Schluss unsere Herzensfreude über die Zeitschrift Ossietzky vom 18. Mai 2013 – ein Geniestreich auf Weltbühnen-Höhe in Form und Enthüllung, immer vom Besten Otto Köhler, am Ende Jochanan Trilse-Finkelsteins Berliner Theaterspaziergänge mit den Genossen Goethe, Dante, Molière, dann Peter Arlt über Willi Sittes Leben mit Lust und Liebe, sowie Heinz Kerstens Reise von Wiesbaden ostwärts, d.h. Ex oriente lux. Jochanan aber hat das letzte Wort wegen des auferstehenden Marx, denn:
Vorige Woche feierte die SPD in Leipzig ihren ungenauen 150. Geburtstag ganz ohne Marx, doch pompös mit Sigmar Gabriel, der gerade Immanuel Kant entdeckt hat, mit Helmut Schmidt, der überlebenslang durch den Doppelbeschluss gezeichnet ist, und mit Gerhard Schröder, dessen Hauptwerk Hartz 4 vom unter den Gästen weilenden Francois Hollande ins Französische übersetzt werden soll. Paris, nun freue dich! Wie die Leipziger Volkszeitung meldet, färbt die Pleiße sich vor Schreck rostbraun. Es liege aber nur an einem Übermaß von Eisen und Sulfat, heißt es begütigend,
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