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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 7

Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln



 

Auf der Suche
nach seinem im Straf­bataillon ver­schwun­denen Bruder



Fritz Wüllner
Die NS-Mili­tär­justiz und das Elend der Ge­schichts­schrei­bung
Momos 1997


»Deutschland wird immer wieder vor der Frage stehen, ob es für den Frieden Krieg führen will.« So klarsichtig wie doppelsinnig Berthold Kohler am 1. Februar 2013 im Leit­artikel der FAZ-Über­schrift: In der Wüste. Leben wir also in der Wüste? Eine frühe Schrift von Ernst Bloch trägt den Titel Durch die Wüste, das klingt freund­licher und gab eine andere Rich­tung an, wogegen Kohlers Ant­wort den ewi­gen Krieg voraus­setzt. Wann aber führte Deutsch­land jemals »für den Frieden Krieg?« Ab 1848 ging es bei jedem Krieg um die deut­sche Ein­heit. Obendrein immer deut­licher um Ressou­rcen. Hitler wollte nach Stalin­grad und in den Kauka­sus weiter zu den Ölfeldern von Baku, vom frü­hen Ziel der ukra­inischen Weiz­en­korn­kammer gar nicht zu reden. Heute ist Deutsch­land von Afgha­nistan bis Afrika bedroht. Überall lauern Wüsten. »Weil der Mensch noch immer zu oft unge­hin­dert des Menschen Wolf sein kann … « (FAZ) Merk­würdig nur, dass wir als Deutsche nie der Wolf sind, sondern nur die jeweils anderen. Schopen­hauer sprach vom Men­schen als Raub­tier. Wir als die Guten zählen nicht dazu, errangen wir doch 1989/90 wiedermal die deut­sche Einheit. Zuvor ver­tei­digten wir uns nur daheim. Seither geht's wieder in die weite Welt. Im Bünd­nis natür­lich. Das ist auch nicht neu, vielmehr Nibe­lungen­treue mit Richard-Wagner-Sound. An Ende gibt's wieder ergrei­fende Trauer­klänge.

Siegfried Prokop | 1956 - DDR am Scheideweg  

Mit Bloch durch die Wüste oder mit der FAZ in der Wüste





Ernst Bloch
Durch die Wüste
Frühe kritische Aufsätze
Suhrkamp


   Ausriss aus der FAZ (31.01.2013 online)



Waren das noch Zeiten, als der Doktorhut als wichtigste Kopfbedeckung galt. Ob Mütze, Tur­ban, Helm oder Zylinder, der Hut erreicht die höheren Weihen erst als Doktorhut, bis sich unleugbar herausstellt, er dient den Herr­schaften als Tarn­kappe, die den fal­schen Fuff­ziger perfekt verbirgt. Selbst ein leerer Kopf schafft die Kar­riere, ver­leiht ein Doktor­hut die Ehre. Der Dr. med. gehört zum Arzt wie der Toten­schein zur Leiche. Ein Dr. jur ver­schafft bei Mandan­ten Respekt. Der Dr. phil kann vieler­lei bedeuten. Falls er aber nicht Philo­logie, sondern Philo­sophie signa­lisiert, ist Vorsicht geboten. Es kann ein Lehrer sein und die wissen alles besser. Es kann ein Philo­soph sein und was das ist, weiß nur er selbst. Die Ent­zauberung der Doktor­hüte geschah früher selten. Das Internet erst führte zur akade­mischen Ent­hüllungs­indus­trie. Wer wird wohl der / die nächste sein?
  Jede Woche wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Nach Augstein junior Brüderle senior und Frau Schavan, Jung­gesellin. Anfang Februar kam Stalingrad dran, weil's gerade runde siebzig Jahre zurück­liegt. Ich hab da meine ganz eigenen Erfahrungen. Den ersten Über­lebenden von Stalingrad traf ich im Herbst 1944 im Gefan­genen­lager. Der Mann, ein Heeres­unter­offi­zier, vertrat das National­komitee Freies Deutschland, im Lager kurz Antifa genannt, mit ruhiger Sachlich­keit, wich jedoch, fragte ich wegen Stalin­grad genauer nach, in Allgemeinheiten aus, die sich nur als Zeichen bewußter Verschlossenheit deuten ließen.
  Obwohl es inzwischen Unmengen von Büchern, Berichten und Filmen über die Schlacht gibt, bleibt alles in einem seltsam diffusen Licht, garniert von den üblichen Trauerfloskeln und jenem Gedenk­weih­rauch, der die Kriegs­nieder­lagen dem Volk erträg­lich machen soll. Das schwafelt nach den verlorenen Schlachten von der Sinnlosigkeit des Krieges und taucht die Toten der eigenen Seite zugleich ins Weihwasser höherer Tragik, wie es eben bei todes­süchtigen, revolutions­unfähigen Völkern Brauch ist.
  Es gibt bis heute eine dunkle, unaufgeklärte Seite von Stalingrad. Dazu zählen die zwei mobilen KZ's, von denen nichts Genaues berichtet wird. Sollte einer meiner Leser oder eine Leserin darüber etwas wissen, bitte ich um Auf­klärung und Information. Offenbar mußten mit der Verklei­nerung des Kessels auch die Stätten, wo Kriegs­gefangene, eigene Soldaten, aber auch fest­gesetzte Zivil­personen verwahrt wurden, verlegt und zusammen­gelegt werden. Gegen Ende ver­hungerten und erfroren sie in den mobilen Haft­anstalten, die oft nur aus einem stachel­draht­begrenzten Feld bestanden haben sollen. Die sich ab­zeich­nende Nieder­lage bereitete der deut­schen Militär­justiz besondere Sorge, denn wie sollen Soldaten noch ordent­lich bestraft werden, wenn die Front zurück­weicht und sich endlich auflöst? Fritz Wüllner darüber:
  „Im Kessel befanden sich natürlich auch die zu den Truppen gehörenden Kriegsgerichte, schätzungsweise nicht unter zwanzig an der Zahl. In der Not und der Panik des Kessels hatten sie natürlich reich­lich zu tun. Den außer­halb des Kessels amtierenden Ober­kriegs­gerichts­rat erreichte ein am 21.12.42 geschrie­bener Brief des im Kessel arbeitenden KGR Dr. Kl., in dem dieser mitteilt: ›Ich habe gestern 5 Todes­urteile vor­getragen. In 2 Fällen habe ich Bestä­tigung und sofortige Voll­streckung vor­ge­schlagen, in 3 Auf­hebung ... Der Herr Ober­befehls­haber hat meinem Vor­schlag gemäß entschieden.‹ (Die NS-Militär­justiz und das Elend der Ge­schichts­schreibung; 2. Auflage 1997) Im selben Buch zitiert Wüllner aus dem un­ver­öffent­lichten Bericht Stalin­grad – bis zur letz­ten Pa­trone des Kriegs­berichter­stat­ters Heinz Schröter:

„Tausende von Männern taumelten von einer Wider­stands­linie zur anderen. Manchmal waren diese Linien viele Kilom­eter von­einander entfernt, manchmal existierten sie nur in der Phantasie der General­stabs­offi­ziere. Aber die Männer sprangen gegen die Panzer, standen hinter Pak oder Flak und schossen, so lange sie etwas zu schießen hatten.
Es gab auch andere, die ver­krochen sich in die Erde, in die Wagen­pulks, in die Keller. Sie kamen nur hervor, wenn sie deutsche Flug­zeug­motoren hörten, und wenn die Ver­pflegungs­bomben fielen. Dann stahlen sie, was sie fanden und schlugen sich die Bäuche mit Hart­würsten und Pumper­nickel voll. Maro­deure sind nach einem Armee­befehl sofort zu erschießen.
Im Bereich von vier Divisionen im Westen und Süden Stalingrads sind in acht Tagen dreihundert­vierund­sechzig Todes­urteile voll­streckt worden. Die Urteile wurden ausg­esprochen wegen Feigheit, uner­laubter Ent­fernung von der Truppe, Fahnen­flucht und Ver­pflegungs­diebstahl. Ja, auch Diebstahl.
An einem Morgen wird der Schütze Wolp aus seinem Loch geholt, verhört und abge­urteilt. Das Urteil lautet auf Tod. Es wird in einem Haus gefällt, in dem ein Tisch und drei Stühle stehen und in der Ecke ein Kanonen­ofen. An der Wand hängt das Bild Lenins.
›Warum er das Brot gestohlen habe?‹
Warum hat wohl der Schütze Wolp das Brot gestohlen?
Die Frage ist eine Formsache, und die Antwort ist eine Formsache, Schlim­meres als Hunger gibt es nicht und deshalb muß auch das Urteil eine Form­sache sein.
Das Feldkriegsgericht besteht nicht aus drei Richtern, es ist auch kein Ver­teidiger für den Schützen Wolp da. Ein ›vereinfachter Tatbericht‹ ist alles, was die ›Schuld‹ auf dem Papier festhält.
Am 16. Januar 1943 wurde der Schütze Wolp erschossen.
Dreihundert­vierund­sechzig Todes­urteile gehören mit in die Bilanz des Blutes, das in Stalingrad floß.“


Von den massenhaften Exeku­tionen deutscher Soldaten durch deutsche Soldaten schweigen die Autoren und Film- wie Fern­sehmacher. Der Satz „drei­hundert­vierundsech­zig Todesurteile gehören mit in die Bilanz des Blutes, das in Stalin­grad floss“ lohnte bisher das Nachdenken nicht. Zugedeckt von der ritua­lisierten Trauer um die Toten der „verlorenen Schlacht von Stalingrad“ spielen derlei kleine Unter­schiede keine Rolle. Der „Schütze Wolp“ wegen Brot­dieb­stahl am 16. Januar erschossen. Woher nahmen die Herren Kriegsrichter wohl die Soldaten der Erschießungs­komman­dos? Hatten die Erschießer mehr zu essen und waren vor Brot­dieb­stahl so geschützt wie die Militär­juristen? Braucht eine Armee nur wenige Tage vor ihrem ruhmlosen Ende noch wohl­genährte Juristen und Exe­kuteure, um halb­verhungerte, aus­gemergelte, kraft­lose Front­soldaten ins Jen­seits zu beför­dern? Und mit welchem Recht wird der Infant­erist, der sich hundert Meter zurück­zieht, wegen Feig­heit er­schossen, wenn der Ober­befehls­haber der Armee, der die Urteile bestätigt, sich wenig später, ohne einen Schuß abzugeben, in Ge­fan­gen­schaft begibt? Für den Kleinen eine Ladung Blei ins Herz, für den Großen das Autom­obil, das ihn, samt Gepäck, Ordonnanz und Stiefel­putzer in die Sicherheit einer geradezu luxuriös zu nennenden Ge­fangen­schaft befördert.
  Daheim aber versammeln sich die trauernden Hinter­bliebenen und gedenken „unserer Gefallenen“, und kein Luft­zug von Auf­klärung streift die Köpfe, denn der Ungeist der alten Komman­deure herrscht auf Jahrzehnte weiter im Milieu.
  Frage: Die drei­hundert­vierund­sechzig voll­streckten Todes­urteile beziehen sich auf nur vier geschrumpfte Divisionen im Verlaufe von acht Tagen. Setzen wir die reduzierte Divi­sions­stärke auf ca. 5.000 Mann an, kommen wir auf 20.000 Sol­daten. In Stalingrad einge­schlos­sen waren etwa eine Viertelmillion. Wenn also von 20.000 Mann in einer Woche 364 Mann erschos­sen worden sind, wie viele Soldaten wurden dann von ca. einer Viertel­million Soldaten in acht Wochen exe­kutiert und wie viele gehorsame Exe­kuteure brauchte man dazu? Die Rechnung ist derart exor­bitant, daß wir sie anheim­stellen.

Siegfried Prokop | 1956 - DDR am Scheideweg  

In der edition ost
verschwundenes Buch





Hier endete mein Versuch, Stalingrad zu enträtseln. Der kleine Text erschien zuletzt im Jahr 2000 als 19. Kapitel in Krieg im Glashaus oder Der Bundes­tag als Wind­mühle. Der Verlag, die rührige edition ost ver­schwand bald, tauchte erneut rührig auf, doch ohne mein Büchlein, in dem ich wohl zu vielen Ost-Genossen und West-Kame­raden zu nahe trete. Ich verüble es niemandem. Die Fakten aber bleiben. Mit dem Buch ver­schwun­dene Texte können im www.poetenladen.de ihre Wiedergeburt feiern. Die Chancen des Internet erlauben trotz aller Risiken und Gefahren die Rück­kehr ver­drängter Sätze. Wenn uns die zähe Dummheit in diesen Jahren traurig stimmt, findet sich Trost bei Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt und wie immer bei Kurt Tucholsky. Beide haben heute im emsig erneut krieg­führenden vereinten Deutschland keine Konjunk­tur. Das wird sich ändern – spätes­tens nach den nächsten auf der Agenda stehenden Nieder­lagen.
  Tucholskys Kampf gegen den Krieg, der in den drei so berühmten wie berüch­tigten Worten Soldaten sind Mörder seinen klas­sischen Ausdruck findet, persona­li­sierte damit 1931 Ernst Blochs Forderung von 1918 Kampf, nicht Krieg. Die paral­lele Haltung der beiden ließ mir keine Ruhe. Soweit es Bloch betrifft, braucht der Kenner dieser Seiten keine Erläuterung. Über Tucholsky ist in dieser Serie ebenfalls soviel zu finden, dass ich mich darauf be­schränken kann, an zwei meiner Bücher zu erinnern. Kurt Tucholsky – Biographie eines guten Deutschen sowie Gute Witwen weinen nicht – Exil. Lieben. Tod. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys.

Gerhard Zwerenz, Biographie eines guten Deutschen   Gerhard Zwerenz
Kurt Tucholsky
Biografie eines guten Deutschen
Goldmann Neuauflage 1988


Zu beiden Bänden gehört thematisch der Gerhard-Zwerenz-Film
Tucholsky im Gedächtnis – Erstsendung in der ARD 1978



  Gerhard Zwerenz
Gute Witwen weinen nicht
Kranichsteiner Literaturv. 2002


Im Nachruf 6 befassten wir uns mit Lorenz Jägers in der FAZ verkündeten Abschied von den Rechten und seinem Be­kenntnis: Adieu, Kameraden, ich bin Gut­mensch. Dabei wurde Jägers Haltung zu Ernst Nolte deutlich, dem Urheber des Histo­riker­streiks von 1986: Jägers Artikel in der FAZ vom 7.1.2013 ist über­schrieben mit: Ernst Nolte –Ver­nichtung denken – Ein philo­sophie­render Historiker im Wider­streit. Das trifft ins Zentrum. Es geht um die Feind­frage. Wer den anderen zum Feind erklärt, erklärt sich zum Feind des anderen und sich selbst auf der richtigen, der guten Seite stehend. Im Krieg wird der Soldat zum Mörder, sagt Tucholsky. Der Krieg muss vorher im Kampf – gegen den Krieg – abge­wendet werden, sagt Bloch. Das Postulat Ver­nichtung denken steht dazwischen als Ver­nichtungs­denken. Das ist die essen­tielle und existen­tielle Kernfrage.
  Die Artikel zum 70.Jahrestag der Stalingrad-Schlacht fallen heute realistischer und ehr­licher aus als in der langen Zeit zuvor. Dennoch bleiben Beschrän­kungen und frühere Front­stel­lungen bestehen. Deshalb gilt ein besonderer Dank dem ver­storbenen Fritz Wüllner – was er über Stalingrad heraus­fand, wird nirgendwo mehr wahr­genommen. Die Militär­justiz, im Gefüge der 6. Armee ver­heerend tätig bis zum letzten Unter­gangstag – diese Fakten zu erwähnen stört die gewohnte übliche Trauer­stimmung nach wie vor, 70 Jahre Stalingrad ist mehr Jubiläum als Analyse und De­konstruktion von Kriegs­geschichte.
  Seit Ende 2012 Die Stalingrad-Protokolle, heraus­gegeben von Jochen Hellbeck gemein­sam mit russischen Wissen­schaft­lern, erschienen sind, berück­sichti­gen deutsche Autoren auch die sowjeti­sche Seite. Es handelt sich um 215 Zeugen der Schlacht, die noch in Echtzeit von SU-Histo­rikern dazu interviewt wurden. Aller­dings ver­schwanden diese Erin­nerun­gen ungenutzt in Archiven, bis sie jetzt der S. Fischer Verlag publi­zierte. Die bezeugten Unge­heuer­lich­keiten machen ver­ständ­lich, wes­halb man das Material in der Sowjet­union nicht ver­öffent­lichte. Das Buch ist sowohl pro- wie anti­sowjetisch inter­pretierbar. Das lässt sich auch einer FAZ-Rezen­sion ent­nehmen, die am 9.2.2013 unter dem Titel Abgründe des stali­nschen Systems erschien. Als Haupt­beleg dient dabei das Protokoll eines »sowjetischen General­leutnants Tschuikow«, der be­kennt: »Am 14. erschoss ich den Komman­deur und den Kommissar eines Regi­ments. Kurz darauf erschoss ich zwei Brigade­komman­deure und -Kommissare …« An dieser Stelle fügt der FAZ-Rezen­sent hinzu: » … so als ob das notwendig gewesen wäre.«
  War es das in der Tat? Und wer beurteilt das mit Fug und Recht? Der Fall ist exemplarisch, geht es doch nicht um irgendeinen General­leutnant Tschuikow, sondern um den schon bei der Vertei­digung Moskaus bewähr­ten und von Stalin zur Verteidigung Stalin­grads einge­setzten späteren Marschall Tschuikow, Befehlshaber der 62. Armee. Seine zu Proto­koll gegebenen Einge­ständ­nisse eigen­händiger Exekution höherer Offiziere seiner Armee sind zwar ungewöhn­lich offenherzig, doch die in der FAZ bekundeten »Abgründe des sowjetischen Systems« treffen für die proto­kollierten Vorgänge nicht zu, die in ihrer Brutalität jeden Krieg in seiner härtesten Form und Sub­stanz exem­plifi­zieren. Die Deutschen waren auf­gebrochen zum Ver­nichtungs­feldzug. Die Verteidiger rea­gierten mit der Vernichtung des Angreifers. Der aber will das so nicht erkennen. Noch seine Söhne und Enkel weigern sich, die furcht­bare Wahrheit zu akzep­tieren. Ob die Verteidigung Stalin­grads durch die Rote Armee oder das alliierte Bombar­dement deutscher Städte – der Krieg im Mas­saker-Zeit­alter der Hoch­technik macht den Soldaten wie seinen politischen Befehls­geber zum Mörder, wie es Tucholsky 1931 formu­lier­te. Ver­nich­tung wird erst gedacht und dann vollzogen. Die Exekution eigener Leute schrumpft dabei zur Episode, die aus der Totalität des Krieges resultiert, der sie auch legitimiert. Denn der totale Krieg bedarf keiner juris­tischen Recht­fertigung. Er ist die pure Selbst­legi­timation frei­gesetzter Gewalt. Die Frage, ob Tschuikow es nötig hatte, mit eigener Hand zu exe­kutieren, ist degou­tant. Einen deut­schen Sieg in Stalin­grad hätte Stalins Mar­schall nicht überlebt. Also schlüpf­te er not­gedrungen in die Rolle eines kleinen Stalin. Sein Gegenüber Paulus brauchte nicht mit eigener Hand zu exe­kutieren. Er hatte dafür seine in der Hunger- und Eises­hölle bis zuletzt wie ge­schmiert funk­tionierend­en Kriegs­gerichte.
  Wer sich der Mühe unterzieht, findet eine adäquate Beschrei­bung darüber in Das Gesetz des Krieges von Jörg Friedrich. Die Resul­tate der Fritz-Wüllner-For­schungen sind inzwi­schen aus dem öffent­lichen Gedächt­nis gänz­lich ver­schwunden. Wenn ein sowjeti­scher General eigene Offi­ziere erschießt, belegt das die Bruta­lität des Systems. Wenn deutsche Nazi-Kriegs­rich­ter ein paar hundert oder tausend eigene Soldaten exe­ku­tieren lassen, ist das dem Ver­schweigen und Vergessen preis­gegeben.

Gesichter unterm Mond

Deserteure wir, mit grünen Gesichtern,
die Stirn ins faulige Gras gedrückt,
die Brüder mit den langen Hälsen im Wind,
alle ausgestreckt, nie mehr gebückt.

Immer abseits von den Straßen, Kolonnen,
in den Mantel der Nacht gekrochen.
Kein Skelettknochen darf klappern.
Den Aufgegriffenen ein Schuss ins Herz. Zerbrochen.

Nie mehr sich einfangen lassen, Kameraden.
Und immer abseits, entsichert, in Lauerstellung.
Nie mehr werdet ihr
von uns einen kriegen. Nie mehr siegen.

Ich kenne im Schilf die Frösche und die
Mücken am Busch. Ich habe von Gras gelebt
und den Eichen die Rinde abgefressen.
Einmal desertiert. Und nie mehr vergessen.

Die Venusharfe , Knaur, München 1985


Inzwischen wiederholte Kriegs­verteidigungs­minister de Maizière seine Tucholsky-Unkennt­nis mit dem unsäglichen Satz: »Es gibt jedenfalls kaum noch aggressive Reaktionen, etwa Sprüche wie ›Soldaten sind Mörder‹.«
  Ich salutiere vor unserem Regiment der 30.000 zum Tode verur­teilten Wehr­machts­deser­teure und füge als Dokument meine Rede aus dem Jahr 1996 bei:


Gerhard Zwerenz    11.03.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon