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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 7 |
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Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
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Auf der Suche
nach seinem im Strafbataillon verschwundenen Bruder
Fritz Wüllner
Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung
Momos 1997
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»Deutschland wird immer wieder vor der Frage stehen, ob es für den Frieden Krieg führen will.« So klarsichtig wie doppelsinnig Berthold Kohler am 1. Februar 2013 im Leitartikel der FAZ-Überschrift: In der Wüste. Leben wir also in der Wüste? Eine frühe Schrift von Ernst Bloch trägt den Titel Durch die Wüste, das klingt freundlicher und gab eine andere Richtung an, wogegen Kohlers Antwort den ewigen Krieg voraussetzt. Wann aber führte Deutschland jemals »für den Frieden Krieg?« Ab 1848 ging es bei jedem Krieg um die deutsche Einheit. Obendrein immer deutlicher um Ressourcen. Hitler wollte nach Stalingrad und in den Kaukasus weiter zu den Ölfeldern von Baku, vom frühen Ziel der ukrainischen Weizenkornkammer gar nicht zu reden. Heute ist Deutschland von Afghanistan bis Afrika bedroht. Überall lauern Wüsten. »Weil der Mensch noch immer zu oft ungehindert des Menschen Wolf sein kann … « ( FAZ) Merkwürdig nur, dass wir als Deutsche nie der Wolf sind, sondern nur die jeweils anderen. Schopenhauer sprach vom Menschen als Raubtier. Wir als die Guten zählen nicht dazu, errangen wir doch 1989/90 wiedermal die deutsche Einheit. Zuvor verteidigten wir uns nur daheim. Seither geht's wieder in die weite Welt. Im Bündnis natürlich. Das ist auch nicht neu, vielmehr Nibelungentreue mit Richard-Wagner- Sound. An Ende gibt's wieder ergreifende Trauerklänge.
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Mit Bloch durch die Wüste oder mit der FAZ in der Wüste
Ernst Bloch
Durch die Wüste
Frühe kritische Aufsätze
Suhrkamp
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Ausriss aus der FAZ (31.01.2013 online)
Waren das noch Zeiten, als der Doktorhut als wichtigste Kopfbedeckung galt. Ob Mütze, Turban, Helm oder Zylinder, der Hut erreicht die höheren Weihen erst als Doktorhut, bis sich unleugbar herausstellt, er dient den Herrschaften als Tarnkappe, die den falschen Fuffziger perfekt verbirgt. Selbst ein leerer Kopf schafft die Karriere, verleiht ein Doktorhut die Ehre. Der Dr. med. gehört zum Arzt wie der Totenschein zur Leiche. Ein Dr. jur verschafft bei Mandanten Respekt. Der Dr. phil kann vielerlei bedeuten. Falls er aber nicht Philologie, sondern Philosophie signalisiert, ist Vorsicht geboten. Es kann ein Lehrer sein und die wissen alles besser. Es kann ein Philosoph sein und was das ist, weiß nur er selbst. Die Entzauberung der Doktorhüte geschah früher selten. Das Internet erst führte zur akademischen Enthüllungsindustrie. Wer wird wohl der / die nächste sein?
Jede Woche wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Nach Augstein junior Brüderle senior und Frau Schavan, Junggesellin. Anfang Februar kam Stalingrad dran, weil's gerade runde siebzig Jahre zurückliegt. Ich hab da meine ganz eigenen Erfahrungen. Den ersten Überlebenden von Stalingrad traf ich im Herbst 1944 im Gefangenenlager. Der Mann, ein Heeresunteroffizier, vertrat das Nationalkomitee Freies Deutschland, im Lager kurz Antifa genannt, mit ruhiger Sachlichkeit, wich jedoch, fragte ich wegen Stalingrad genauer nach, in Allgemeinheiten aus, die sich nur als Zeichen bewußter Verschlossenheit deuten ließen.
Obwohl es inzwischen Unmengen von Büchern, Berichten und Filmen über die Schlacht gibt, bleibt alles in einem seltsam diffusen Licht, garniert von den üblichen Trauerfloskeln und jenem Gedenkweihrauch, der die Kriegsniederlagen dem Volk erträglich machen soll. Das schwafelt nach den verlorenen Schlachten von der Sinnlosigkeit des Krieges und taucht die Toten der eigenen Seite zugleich ins Weihwasser höherer Tragik, wie es eben bei todessüchtigen, revolutionsunfähigen Völkern Brauch ist.
Es gibt bis heute eine dunkle, unaufgeklärte Seite von Stalingrad. Dazu zählen die zwei mobilen KZ's, von denen nichts Genaues berichtet wird. Sollte einer meiner Leser oder eine Leserin darüber etwas wissen, bitte ich um Aufklärung und Information. Offenbar mußten mit der Verkleinerung des Kessels auch die Stätten, wo Kriegsgefangene, eigene Soldaten, aber auch festgesetzte Zivilpersonen verwahrt wurden, verlegt und zusammengelegt werden. Gegen Ende verhungerten und erfroren sie in den mobilen Haftanstalten, die oft nur aus einem stacheldrahtbegrenzten Feld bestanden haben sollen. Die sich abzeichnende Niederlage bereitete der deutschen Militärjustiz besondere Sorge, denn wie sollen Soldaten noch ordentlich bestraft werden, wenn die Front zurückweicht und sich endlich auflöst? Fritz Wüllner darüber:
„Im Kessel befanden sich natürlich auch die zu den Truppen gehörenden Kriegsgerichte, schätzungsweise nicht unter zwanzig an der Zahl. In der Not und der Panik des Kessels hatten sie natürlich reichlich zu tun. Den außerhalb des Kessels amtierenden Oberkriegsgerichtsrat erreichte ein am 21.12.42 geschriebener Brief des im Kessel arbeitenden KGR Dr. Kl., in dem dieser mitteilt: ›Ich habe gestern 5 Todesurteile vorgetragen. In 2 Fällen habe ich Bestätigung und sofortige Vollstreckung vorgeschlagen, in 3 Aufhebung ... Der Herr Oberbefehlshaber hat meinem Vorschlag gemäß entschieden.‹ (Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung; 2. Auflage 1997) Im selben Buch zitiert Wüllner aus dem unveröffentlichten Bericht Stalingrad – bis zur letzten Patrone des Kriegsberichterstatters Heinz Schröter:
„Tausende von Männern taumelten von einer Widerstandslinie zur anderen. Manchmal waren diese Linien viele Kilometer voneinander entfernt, manchmal existierten sie nur in der Phantasie der Generalstabsoffiziere. Aber die Männer sprangen gegen die Panzer, standen hinter Pak oder Flak und schossen, so lange sie etwas zu schießen hatten.
Es gab auch andere, die verkrochen sich in die Erde, in die Wagenpulks, in die Keller. Sie kamen nur hervor, wenn sie deutsche Flugzeugmotoren hörten, und wenn die Verpflegungsbomben fielen. Dann stahlen sie, was sie fanden und schlugen sich die Bäuche mit Hartwürsten und Pumpernickel voll. Marodeure sind nach einem Armeebefehl sofort zu erschießen.
Im Bereich von vier Divisionen im Westen und Süden Stalingrads sind in acht Tagen dreihundertvierundsechzig Todesurteile vollstreckt worden. Die Urteile wurden ausgesprochen wegen Feigheit, unerlaubter Entfernung von der Truppe, Fahnenflucht und Verpflegungsdiebstahl. Ja, auch Diebstahl.
An einem Morgen wird der Schütze Wolp aus seinem Loch geholt, verhört und abgeurteilt. Das Urteil lautet auf Tod. Es wird in einem Haus gefällt, in dem ein Tisch und drei Stühle stehen und in der Ecke ein Kanonenofen. An der Wand hängt das Bild Lenins.
›Warum er das Brot gestohlen habe?‹
Warum hat wohl der Schütze Wolp das Brot gestohlen?
Die Frage ist eine Formsache, und die Antwort ist eine Formsache, Schlimmeres als Hunger gibt es nicht und deshalb muß auch das Urteil eine Formsache sein.
Das Feldkriegsgericht besteht nicht aus drei Richtern, es ist auch kein Verteidiger für den Schützen Wolp da. Ein ›vereinfachter Tatbericht‹ ist alles, was die ›Schuld‹ auf dem Papier festhält.
Am 16. Januar 1943 wurde der Schütze Wolp erschossen.
Dreihundertvierundsechzig Todesurteile gehören mit in die Bilanz des Blutes, das in Stalingrad floß.“
Von den massenhaften Exekutionen deutscher Soldaten durch deutsche Soldaten schweigen die Autoren und Film- wie Fernsehmacher. Der Satz „dreihundertvierundsechzig Todesurteile gehören mit in die Bilanz des Blutes, das in Stalingrad floss“ lohnte bisher das Nachdenken nicht. Zugedeckt von der ritualisierten Trauer um die Toten der „verlorenen Schlacht von Stalingrad“ spielen derlei kleine Unterschiede keine Rolle. Der „Schütze Wolp“ wegen Brotdiebstahl am 16. Januar erschossen. Woher nahmen die Herren Kriegsrichter wohl die Soldaten der Erschießungskommandos? Hatten die Erschießer mehr zu essen und waren vor Brotdiebstahl so geschützt wie die Militärjuristen? Braucht eine Armee nur wenige Tage vor ihrem ruhmlosen Ende noch wohlgenährte Juristen und Exekuteure, um halbverhungerte, ausgemergelte, kraftlose Frontsoldaten ins Jenseits zu befördern? Und mit welchem Recht wird der Infanterist, der sich hundert Meter zurückzieht, wegen Feigheit erschossen, wenn der Oberbefehlshaber der Armee, der die Urteile bestätigt, sich wenig später, ohne einen Schuß abzugeben, in Gefangenschaft begibt? Für den Kleinen eine Ladung Blei ins Herz, für den Großen das Automobil, das ihn, samt Gepäck, Ordonnanz und Stiefelputzer in die Sicherheit einer geradezu luxuriös zu nennenden Gefangenschaft befördert.
Daheim aber versammeln sich die trauernden Hinterbliebenen und gedenken „unserer Gefallenen“, und kein Luftzug von Aufklärung streift die Köpfe, denn der Ungeist der alten Kommandeure herrscht auf Jahrzehnte weiter im Milieu.
Frage: Die dreihundertvierundsechzig vollstreckten Todesurteile beziehen sich auf nur vier geschrumpfte Divisionen im Verlaufe von acht Tagen. Setzen wir die reduzierte Divisionsstärke auf ca. 5.000 Mann an, kommen wir auf 20.000 Soldaten. In Stalingrad eingeschlossen waren etwa eine Viertelmillion. Wenn also von 20.000 Mann in einer Woche 364 Mann erschossen worden sind, wie viele Soldaten wurden dann von ca. einer Viertelmillion Soldaten in acht Wochen exekutiert und wie viele gehorsame Exekuteure brauchte man dazu? Die Rechnung ist derart exorbitant, daß wir sie anheimstellen.
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In der edition ost
verschwundenes Buch
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Hier endete mein Versuch, Stalingrad zu enträtseln. Der kleine Text erschien zuletzt im Jahr 2000 als 19. Kapitel in Krieg im Glashaus oder Der Bundestag als Windmühle. Der Verlag, die rührige edition ost verschwand bald, tauchte erneut rührig auf, doch ohne mein Büchlein, in dem ich wohl zu vielen Ost-Genossen und West-Kameraden zu nahe trete. Ich verüble es niemandem. Die Fakten aber bleiben. Mit dem Buch verschwundene Texte können im www.poetenladen.de ihre Wiedergeburt feiern. Die Chancen des Internet erlauben trotz aller Risiken und Gefahren die Rückkehr verdrängter Sätze. Wenn uns die zähe Dummheit in diesen Jahren traurig stimmt, findet sich Trost bei Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt und wie immer bei Kurt Tucholsky. Beide haben heute im emsig erneut kriegführenden vereinten Deutschland keine Konjunktur. Das wird sich ändern – spätestens nach den nächsten auf der Agenda stehenden Niederlagen.
Tucholskys Kampf gegen den Krieg, der in den drei so berühmten wie berüchtigten Worten Soldaten sind Mörder seinen klassischen Ausdruck findet, personalisierte damit 1931 Ernst Blochs Forderung von 1918 Kampf, nicht Krieg. Die parallele Haltung der beiden ließ mir keine Ruhe. Soweit es Bloch betrifft, braucht der Kenner dieser Seiten keine Erläuterung. Über Tucholsky ist in dieser Serie ebenfalls soviel zu finden, dass ich mich darauf beschränken kann, an zwei meiner Bücher zu erinnern. Kurt Tucholsky – Biographie eines guten Deutschen sowie Gute Witwen weinen nicht – Exil. Lieben. Tod. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys.
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Gerhard Zwerenz
Kurt Tucholsky
Biografie eines guten Deutschen
Goldmann Neuauflage 1988 |
Zu beiden Bänden gehört thematisch der Gerhard-Zwerenz-Film
Tucholsky im Gedächtnis – Erstsendung in der ARD 1978
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Gerhard Zwerenz
Gute Witwen weinen nicht
Kranichsteiner Literaturv. 2002
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Im Nachruf 6 befassten wir uns mit Lorenz Jägers in der FAZ verkündeten Abschied von den Rechten und seinem Bekenntnis: Adieu, Kameraden, ich bin Gutmensch. Dabei wurde Jägers Haltung zu Ernst Nolte deutlich, dem Urheber des Historikerstreiks von 1986: Jägers Artikel in der FAZ vom 7.1.2013 ist überschrieben mit: Ernst Nolte –Vernichtung denken – Ein philosophierender Historiker im Widerstreit. Das trifft ins Zentrum. Es geht um die Feindfrage. Wer den anderen zum Feind erklärt, erklärt sich zum Feind des anderen und sich selbst auf der richtigen, der guten Seite stehend. Im Krieg wird der Soldat zum Mörder, sagt Tucholsky. Der Krieg muss vorher im Kampf – gegen den Krieg – abgewendet werden, sagt Bloch. Das Postulat Vernichtung denken steht dazwischen als Vernichtungsdenken. Das ist die essentielle und existentielle Kernfrage.
Die Artikel zum 70.Jahrestag der Stalingrad-Schlacht fallen heute realistischer und ehrlicher aus als in der langen Zeit zuvor. Dennoch bleiben Beschränkungen und frühere Frontstellungen bestehen. Deshalb gilt ein besonderer Dank dem verstorbenen Fritz Wüllner – was er über Stalingrad herausfand, wird nirgendwo mehr wahrgenommen. Die Militärjustiz, im Gefüge der 6. Armee verheerend tätig bis zum letzten Untergangstag – diese Fakten zu erwähnen stört die gewohnte übliche Trauerstimmung nach wie vor, 70 Jahre Stalingrad ist mehr Jubiläum als Analyse und Dekonstruktion von Kriegsgeschichte.
Seit Ende 2012 Die Stalingrad-Protokolle, herausgegeben von Jochen Hellbeck gemeinsam mit russischen Wissenschaftlern, erschienen sind, berücksichtigen deutsche Autoren auch die sowjetische Seite. Es handelt sich um 215 Zeugen der Schlacht, die noch in Echtzeit von SU-Historikern dazu interviewt wurden. Allerdings verschwanden diese Erinnerungen ungenutzt in Archiven, bis sie jetzt der S. Fischer Verlag publizierte. Die bezeugten Ungeheuerlichkeiten machen verständlich, weshalb man das Material in der Sowjetunion nicht veröffentlichte. Das Buch ist sowohl pro- wie antisowjetisch interpretierbar. Das lässt sich auch einer FAZ-Rezension entnehmen, die am 9.2.2013 unter dem Titel Abgründe des stalinschen Systems erschien. Als Hauptbeleg dient dabei das Protokoll eines »sowjetischen Generalleutnants Tschuikow«, der bekennt: »Am 14. erschoss ich den Kommandeur und den Kommissar eines Regiments. Kurz darauf erschoss ich zwei Brigadekommandeure und -Kommissare …« An dieser Stelle fügt der FAZ-Rezensent hinzu: » … so als ob das notwendig gewesen wäre.«
War es das in der Tat? Und wer beurteilt das mit Fug und Recht? Der Fall ist exemplarisch, geht es doch nicht um irgendeinen Generalleutnant Tschuikow, sondern um den schon bei der Verteidigung Moskaus bewährten und von Stalin zur Verteidigung Stalingrads eingesetzten späteren Marschall Tschuikow, Befehlshaber der 62. Armee. Seine zu Protokoll gegebenen Eingeständnisse eigenhändiger Exekution höherer Offiziere seiner Armee sind zwar ungewöhnlich offenherzig, doch die in der FAZ bekundeten »Abgründe des sowjetischen Systems« treffen für die protokollierten Vorgänge nicht zu, die in ihrer Brutalität jeden Krieg in seiner härtesten Form und Substanz exemplifizieren. Die Deutschen waren aufgebrochen zum Vernichtungsfeldzug. Die Verteidiger reagierten mit der Vernichtung des Angreifers. Der aber will das so nicht erkennen. Noch seine Söhne und Enkel weigern sich, die furchtbare Wahrheit zu akzeptieren. Ob die Verteidigung Stalingrads durch die Rote Armee oder das alliierte Bombardement deutscher Städte – der Krieg im Massaker-Zeitalter der Hochtechnik macht den Soldaten wie seinen politischen Befehlsgeber zum Mörder, wie es Tucholsky 1931 formulierte. Vernichtung wird erst gedacht und dann vollzogen. Die Exekution eigener Leute schrumpft dabei zur Episode, die aus der Totalität des Krieges resultiert, der sie auch legitimiert. Denn der totale Krieg bedarf keiner juristischen Rechtfertigung. Er ist die pure Selbstlegitimation freigesetzter Gewalt. Die Frage, ob Tschuikow es nötig hatte, mit eigener Hand zu exekutieren, ist degoutant. Einen deutschen Sieg in Stalingrad hätte Stalins Marschall nicht überlebt. Also schlüpfte er notgedrungen in die Rolle eines kleinen Stalin. Sein Gegenüber Paulus brauchte nicht mit eigener Hand zu exekutieren. Er hatte dafür seine in der Hunger- und Eiseshölle bis zuletzt wie geschmiert funktionierenden Kriegsgerichte.
Wer sich der Mühe unterzieht, findet eine adäquate Beschreibung darüber in Das Gesetz des Krieges von Jörg Friedrich. Die Resultate der Fritz-Wüllner-Forschungen sind inzwischen aus dem öffentlichen Gedächtnis gänzlich verschwunden. Wenn ein sowjetischer General eigene Offiziere erschießt, belegt das die Brutalität des Systems. Wenn deutsche Nazi-Kriegsrichter ein paar hundert oder tausend eigene Soldaten exekutieren lassen, ist das dem Verschweigen und Vergessen preisgegeben.
Gesichter unterm Mond
Deserteure wir, mit grünen Gesichtern,
die Stirn ins faulige Gras gedrückt,
die Brüder mit den langen Hälsen im Wind,
alle ausgestreckt, nie mehr gebückt.
Immer abseits von den Straßen, Kolonnen,
in den Mantel der Nacht gekrochen.
Kein Skelettknochen darf klappern.
Den Aufgegriffenen ein Schuss ins Herz. Zerbrochen.
Nie mehr sich einfangen lassen, Kameraden.
Und immer abseits, entsichert, in Lauerstellung.
Nie mehr werdet ihr
von uns einen kriegen. Nie mehr siegen.
Ich kenne im Schilf die Frösche und die
Mücken am Busch. Ich habe von Gras gelebt
und den Eichen die Rinde abgefressen.
Einmal desertiert. Und nie mehr vergessen.
Die Venusharfe , Knaur, München 1985
Inzwischen wiederholte Kriegsverteidigungsminister de Maizière seine Tucholsky-Unkenntnis mit dem unsäglichen Satz: »Es gibt jedenfalls kaum noch aggressive Reaktionen, etwa Sprüche wie ›Soldaten sind Mörder‹.«
Ich salutiere vor unserem Regiment der 30.000 zum Tode verurteilten Wehrmachtsdeserteure und füge als Dokument meine Rede aus dem Jahr 1996 bei:
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