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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 30 |
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Die Urkatastrophenmacher
Im Jahr 2014 liegt der Beginn des 1. Weltkrieges ein Jahrhundert zurück. Die infantile Lust am hirnlosen Gedenken zeigt sich bereits im Voraus. »Die Wahrheit aus dem Schützengraben« titelt das FAZ-Feuilleton am 6. Dezember 2013, darüber im Großformat das Heldenfoto Ernst Jünger im Uniformmantel mit Orden. Ansporn für die Enkel, die's besser ausfechten sollen? Im Artikel zitiert der sonst weniger abstruse Jürg Altwegg einen Ausspruch des französischen Ökonomen Bernard Maris gegen Henri Barbusse, der »den dümmsten Satz über den Ersten Weltkrieg geschrieben habe.« Wir hoben im poetenladen vor einiger Zeit vergessene, doch unverzichtbare Barbusse-Sätze gegen den Krieg hervor, siehe Nachwort 58: Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter. Es geht neben Jünger um Barbusse und Karl Liebknecht. Feiert die FAZ in gewohnt hohen Tönen den Stahlgewitter- Schwadroneur, überrascht neues deutschland am selben 6. Dezember mit Oskar Negt. »Politik braucht Utopien« fordert er munter. Das ist klar und linksverständlich anheimelnd geschrieben mit Unbehagen an der Großen Koalition, die inzwischen als Groko volksmündlich wurde. Die Gewählten kopulieren halt.
Politik mag zwar Utopie brauchen, doch welche und wozu? Die angezielten mehr oder weniger Linksparteien mit ihren linken und rechten Flügeln benötigen erst einmal Selbstanalyse, Dekonstruktion innerer Verhärtungen und Verfeindungen inklusive Hass-Strukturen. Entwaffnet mal eure Psyche, Genossen. Solidarität muss keine Liebe sein, doch die totale Abwesenheit zeugt von falscher Blöße. Wovon sonst. Am 14.12.2013 meldet der wohlinformierte Frankreich-Korrespondent Altwegg eine Sensation: »Debakel auch für Frankreichs Philosophie – Paris reagiert heftig auf antisemitische Passagen in Heideggers Schwarzen Heften« Das klingt mitten im Heidegger-Land und seinen gewohnten publizistischen Weichzeichnern recht scharf. Was aber bedeutet das „auch“ in dem Satz »Debakel auch für Frankreichs Philosophie«? Es zielt, auf wen denn sonst, aufs einig Deutschland. Ist da jemand überrascht? Wir sagten es ungescheut in Sklavensprache und Revolte, zuvor am 10.12.2005 in Ossietzky, endlich im poetenladen mit dem Titel Heidegger in der Waschmaschine. Da wascht mal gründlich nach, ihr Herren von der braunschwarzen Westfront. Zwar ging Heideggers Meisterschüler Henning Ritter von Frankfurt nach Marbach an die Zentrale toter Dichter, doch durfte er dort seine väterlichen Helden noch emphatischer abfeiern als in der inzwischen etwas verunsicherten FAZ.
1963 übernahm Rühle die Ost-West-Redaktion des WDR-Fernsehen, später das Zeitgeschichte-Ressort: Da wurde er ein wirksamer publizistischer Begleiter der neuen Ostpolitik Willy Brandts und ein Mahner, der die ungeliebte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – durch viele Dokumentarsendungen, aber auch durch die US-Serie Holocaust – vorantrieb. Am vorletzten Sonntag ist Jürgen Ruhle in Bonn an einem Herzinfarkt gestorben. | Der Spiegel 1986
Jürgen Rühle, der Reihe nach Wehrmachtsleutnant, progressiver DDR-Journalist, DDR-Flüchtling, Antikommunist, Lektor, Kritiker, schickte die DDR-Weltbühne vom 8.10.1958 per Post »mit herzlichem Gruß«, wir lebten in Kasbach am Rhein, gegenüber Remagen, die Wb eröffnet mit »Schattenriß eines Grenzgängers«, das war – und ist? Hans-Dietrich Sander, Abenteurer des Geisteslebens, erst Ost, dann West, immer an der Front, auch im Welt-Feuilleton. Wir zeichneten seine Spuren hin und wieder nach, für die Weltbühne-Ost besorgte das Carl Andrießen, beste Wb-Schule, vom geschliffenen Sander-Porträt hier nur als Probe: »Sander galt nicht als Faulpelz wie Kantorowicz, er war kein Monomane wie Zwerenz und er fühlte sich wohl auch nicht als Säkular-Genie wie Rühle …« Wohlgesprochen, der Monomane war mit allen Genannten gut bekannt, im Osten auch mit dem köstlichen Andrießen, einem Schulkameraden des Erich Loest im sächsischen Mittweida. Der dritte im Bunde hieß Naumann, kurz Nauke, engster Herzens-Freund von Loest, in vielen Texten auftauchend, Professor, Sprachwissenschaftler, Stasi-IM. Unser Erich, als er's mitbekam, wusste nicht recht, ob er's wissen wollte. Man lese Pistole mit 16, Erstdruck in Sinn und Form, Heft 1 1977, ein Text der Erinnerung, so wahrhaft genau wie selten bei betroffenen HJ-Jahrgängen. Betroffen sein und unbetroffen scheinen, das war die Frage. Loest log weder sich noch anderen etwas vor. Waren das Pistolen-Zeiten. Soviel zur Endgültigkeit tödlicher Werkzeuge.
Als Rühles Post mit der Weltbühne in Kasbach anlangte, war mir nach Abschied zumute. Ein imposanter Stein am Rheinufer, mein Lieblingsplatz unter der Erpeler Ley, diente als Sitz. Dort entstand
ABGESANG
Ich sitz' mit drei Leichen zu Tische
Wir singen zu viert ein Lied
Im Weine schwimmen die Fische
Und saufen mit Appetit.
Ich kämme den Toten die Haare
Das ist eine seidene Pracht
Des Jenseits unnütze Ware
Von Friedhofsfriseuren gemacht.
Wir gehen im Mondlicht spazieren
Der Rhein stinkt leise im Takt
Er will uns zum Bade verführen
Wir sind bereit und nackt.
Wir sitzen zu viert in der Runde
Besoffen verludert und leicht
Und bluten aus jener Wunde
Aus der kein Blut mehr entweicht.
Wir haben die Liebe verloren
Die Zähren die Münzen das Brot
Wir werden nie wiedergeboren
Wir sind für die Ewigkeit tot.
(Ärgernisse, Köln 1961)
Die zwanzig Zeilen, 1961 am Rheinufer notiert, in Unkel, unweit von Kasbach lebte später Willy Brandt – der Ort, an dem er 1992 starb, die fünf Strophen also dienten der Kommunikation mit Toten. Mein Sinn, sie zu vergessen, ist notorisch unterentwickelt. Die Zahl in Krieg und Nachkrieg Dahingeschiedener ist inzwischen angewachsen. Es gibt Zeiten, nicht nur im Traum, da setzen wir abgebrochene Gespräche fort. Das bestärkt den Lebenswillen inklusive Kampfbereitschaft und Nächsten –, wo nicht Feindesliebe.
Die Toten sind die sichersten Monomanen. Überlebenslang tot zu sein ist unser aller Zukunft. Die Zahl der weltweit gelebt habenden Toten aller Zeiten übertrifft die Zahl der jeweils noch Lebenden um wieviel? Gehen wir von einer anwachsenden Größe X aus. Und jeder weiß, er selbst wird X erweitern. Ein Grund mehr, mit den Vorgängern zu sprechen und kein Grund, sich vor der umfangreichsten denkbaren Menschengemeinschaft zu fürchten. Kein Grund auch, sie vorzeitig zu optimieren.
Mein Artikel Heidegger in der Waschmaschine, am 10.12.2005 in Ossietzky erschienen und kurz darauf im www.poetenladen.de nachgedruckt, beginnt so angemessen anarchistisch wie pazifistisch:
Der Anfang zur Heidegger-Waschmaschine ist hier wiedergegeben als Brückenschlag zum Nachruf 30 – Paris reagiert wiedermal ungestüm auf Heideggers antisemitische Weisheiten. Die FAZ aber, wir rügten sie wegen ihres immer erneut angebeteten Sankt Martin oft genug, muss sich hundeelend verleugnen. Am 20. September 2013 melden sich zum Thema per Leserbrief gar zwei Professoren mit sublimen Kenntnissen zu Wort. Wir staunen, soviel Rationalität von Akademikern und dann noch in diesem Blatt ist nicht die Regel. Es äußern sich ein philosophisch beschlagener Theologe, heute tätig in Berlin, sowie ein Professor der Neueren Deutschen Literatur aus Bonn. Zur »Verstrickung in den Todeszusammenhang der Geschichte« ist beim römisch-katholischen Leserbriefschreiber zu lesen: »Darin liegt das eigentliche Skandalon von Heideggers Philosophie, zu dem sich seine persönlichen Verfehlungen wie Fußnoten lesen.« Womit die Nazismen des Spitzen-Philosophen noch höflich benannt werden. Soviel als Gegenschlag zu den üblichen Weißwäscher-Sermonen.
Ein anderweitig interessierter Leser legt gute Worte für den eben eröffneten Leipziger City-Tunnel ein, was mich als vertriebenen Sachsen nicht weniger entzückt. Der S-Bahnverkehr nach Süden bis »Crimmitschau, Werdau ist nun sicher gut begründbar.« So der offenbar intime Kenner der Gegend, obwohl heute in Kelkheim / Hessen ansässig. Warum aber damit begnügen? Treibt endlich die Schnellbahn voran durchs Vogtland und Erzgebirge bis ins benachbarte goldene Prag.
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Zwei junge türkische Redakteure erhielten für ihre Arbei den Grimme-Preis |
„Migazin – Fachorgan für Migration und Integration – tv-Tip 19. 12.2013 Fritz Bauer – Tod auf Raten: ›Wir Emigranten hatten so unsere heiligen Irrtümer. Dass Deutschland in Trümmern liegt, hat auch sein Gutes, dachten wir. Da kommt der Schutt weg, dann bauen wir Städte der Zukunft. Hell, weit und menschenfreundlich.“ Diese Sätze, die Fritz Bauer (1903 – 1968) 1967 gegenüber dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz äußerte, beschreiben den Enthusiasmus, mit dem der schwäbische Jurist das Nachkriegsdeutschland aus den Fängen der Nazidiktatur in ein demokratisches und humanes Staatswesen überführen wollte. Nicht nur die Politik, vor allem auch die Jurisprudenz sollte hierzu ihren Beitrag leisten. Mit Fritz Bauers Namen verbinden sich die Überführung Eichmanns nach Israel, die Wiederherstellung der Ehre der Widerstandskämpfer des 20. Juli und die legendären Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Bauer ahnte nicht, dass sich seine Vorhaben zu einer wahren Sisyphusarbeit entwickeln würden, zu einem Weg voller Behinderungen und Feindseligkeiten, der in einem viel zu frühen Tod endete, dessen genaue Umstände bis heute rätselhaft geblieben sind. Der Dokumentarfilm Fritz Bauer – Tod auf Raten erzählt von Bauers mutigem Kampf für Gerechtigkeit. Mit Akribie hat Filmemacherin Ilona Ziok Archive durchforscht und relevante Statements des hessischen Generalstaatsanwalts gefunden. Um diese herum montiert sie in Form eines filmischen Mosaiks Archivmaterial und die Aussagen von Bauers Zeitzeugen: Freunden, Verwandten und Mitstreitern. Dabei entsteht das eindrucksvolle Porträt eines der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts.‹ Fr, 20. Dez o 00:15-01:45 o PHOENIX“
Fortsetzung der Totengespräche: Loests letzte Tage heißt das von seiner Frau Linde Rotta weitergeführte Tagebuch in der Leipziger Volkszeitung. Seinem Wunsch folgend notiert sie seinen und ihren schmerzvollen Abschied von Tag zu Tag. Im Unterschied zu Erichs vorangegangenen Aufzeichnungen im Blatt lässt sie alle politischen Erörterungen weg. Das explosiv Subversive steckt im hinterlassenen Bilderstreit mit der ratlosen Stadt, der erschrockenen Universität sowie den von Loest gewünschten exakten Abmachungen wegen des umstrittenen Gemäldes. Der dafür angeheuerte Maler Reinhard Minkewitz äußert plötzlich Vorbehalte. Loest reagiert verärgert, setzt sich aber durch. Kurz darauf folgt das endgültige Resümé des Leipziger Ehrenbürgers: »Meine alten Gegner haben gesiegt.« Das will enträtselt werden. Und sei es in bevorstehenden Totengesprächen, denn die Lebenden äußern sich wenig informativ. Soweit erkennbar ist Minkewitz gehalten, an wenig bekannte Studenten und Wissenschaftler der Leipziger Universität zu erinnern, die politisch verfolgt, festgenommen und verurteilt wurden. Dabei sind auch Bloch und Mayer mit abgebildet. Die Uni-Verantwortlichen lehnen die Gemälde-Präsentation ab, weil Bloch und Mayer keine Opfer seien. Hier fehlt es wohl an Information und Definitionen. Offensichtlich setzen sich die Schwierigkeiten der DDR im Verhalten zu den jüdischen Linksintellektuellen Bloch und Mayer nach dem Ende des Staates fort. Da hat es die West-Elite leichter, z.B. mit Prof. Joachim Ritter, ab 1937 NSDAP, nach 1945 ohne Bruch »führender Philosophielehrer der deutschen Nachkriegszeit«, so die FAZ aufklärungsfreudig am 18.12.2013. Schließlich schmückte Joachims Sohn Henning Ritter lange genug die Redaktion, verantwortlich u.a. für die ambitionierte Beilage Geisteswissenschaften. Sein unbeirrbares Engagement für Heidegger wurde im Blatt ebenso geschätzt wie seine richtunggebende Nähe zu Carl Schmitt und Ernst Jünger. Von so erhabener West-Warte aus lässt sich der Kriegsbeginn 1914 reglementgemäß feiern. Vonwegen Urkatastrophe. Die Herren Helden genossen das Schlachtfest und engagierten sich danach für einen zweiten Gang mit Führer. Da konnten in roter Wolle gefärbte Kriegsgegner wie Bloch und Mayer einfach nicht mithalten. Und Liebknecht / Luxemburg schon gar nicht. Die Urkatastrophe wirkt akademisch begünstigt weiter.
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Kabarettist Conrad Reinhold spielte in Leipzig und musste gehen, spielte in Frankfurt/Main und starb dort viel zu früh. |
Der Übergang von Hitler zu Adenauer verlief zweispurig. Beamte und Offiziere funktionierten standesgemäß wie gewohnt. Die Intellektuelle Führungselite bedurfte gewisser Umwege, der Tarnung, des Vertuschens und Verschweigens, was Gehirnakrobatik nicht ausschließt. Am Ende waren die Idole der Kriegsgeneration inklusive HJ und NSDAP sowie Wehrmacht gerettet. So verfuhr exemplarisch die FAZ. Das Kontrastbild gab die DDR, wo die ewig verfolgten Kommunisten sich als Gegenmacht versuchten und bald versagten. Die Ursachen dafür sind bekannt. Conrad Reinhold, Kabarettist, Leipzig Die Pfeffermühle: »Im Osten sollst du immer alles verändern, du darfst nur nichts sagen. Im Westen kannst du alles sagen, du darfst nur nichts verändern.« Dies der Kern unserer Situation. Der Kern der Entfremdung zwischen Loest und mir wird in Sklavensprache und Revolte auf Seite 236 in aller Kürze angedeutet: »Die Politiker kommen und gehen, wir Opfer der DDR, der SED und ihres scharfen Schwertes aber bleiben.« So der vor Ort im Blick verengte sächsische Autor Erich L. Leipzig als Klein-Paris statt als Marx-Bebel-Blochsche Metropole. Der gesamte Konflikt, im Kapitel »Hassproduktionen« abgehandelt, ist Teil unserer Autobiographie, in der Loests tödliche Resignation vorausgesagt wird. Auf sein Buch Pistole mit sechzehn folgte Suizid mit siebenundachtzig. Die Toten begleiten uns bis du dich einfügst. Sizilien 1943. Wilhelm Strasser, neben mir unterm abgeschossenen Panzer liegend, bekommt den Granatsplitter zigarrengroß mitten ins Herz. Warum er und nicht ich. Siebzig Jahre später Erich Loest, Kampfgenosse ab 1953, am Ende das Schweigen, 2013 unterbrochen vom knappen Verweis auf Leipzig 1957 und jenen Paul Fröhlich, den Politkriminellen. Nachzulesen in unseren Büchern. Lauter Anfragen ohne Antwort. Ilona Ziok über Fritz Bauer: Tod auf Raten. Ratenweiser Tod. Ratenweise Rückkehr. Erichs Abgang kann ich nicht so mir nichts dir nichts akzeptieren. Das war planvoll vorbereitet. Die aufsteigende Wut in zeitgemäße Ironie umleitend höre ich mich sagen: Hoffentlich heftete er sich vor dem Sprung noch sorgfältig sein Bundesverdienstskreuz 1. Klasse an die Schlafanzugjacke.
Vor einiger Zeit distanzierte sich sogar die FAZ von einem ihrer Hausgötter. Patrick Bahners eröffnete am 23. Mai 2011 seinen Artikel mit dem im Wahrheitsgehalt nicht zu überbietenden Titel: »Das Ganze war ihm unangenehm – Protokoll eines Deliriums: Carl Schmitts Tagebücher von 1930 bis 1934 zeigen den Staats-rechtler als Trinker, Ehebrecher und Judenhasser« Das ist exakt gesagt und schnell vergessen. Wir Überlebenden aber stehen vor dem neuen Jahr 2014, schon jetzt vollgestopft mit strittigen Sichtweisen auf die Urkatastrophe von 1914. Die alte Frage nach Schuld und Unschuld ist wieder aktuell geworden.
Am 18. September 2013 druckte die Leipziger Volkszeitung Loests Tagebuch-Eintrag vom 25. August. Er schildert seinen Konflikt mit Leipzig und der Universität im Bilderstreit, dazu heißt es:
Der bestürzenden Kapitulation Loests habe ich, obwohl als Zeuge benannt, nichts hinzuzufügen. Das Notwendige wurde vorher gesagt, zuerst 1954 in der Weltbühne zur Verteidigung Erichs, gegen Ende im www.poetenladen.de, wo ich Fragen an ihn stellte, die konsequent unbeantwortet blieben. Sein Freitod enthält als inszenierter Suizid eine Botschaft. Die Krankheit zum Tode ist zum Anlass genommen. In der Stadt Leipzig, die schon dem Hoffnungsdenker Ernst Bloch keine Heimat geben konnte, endet das Leben eines Jungen, der übrig geblieben war. In Büchern überdauern die Lebenskämpfe, Todesängste und Irrtümer ihrer Autoren, bis das Reich der Analphabeten anbricht. Offensichtlich überdauert zwischen Leipzig und dem Ehrenbürger, der sein Ende per Presse perspektivisch ankündigte, ein Konflikt. Da sich das im Dialog unter Zeitgenossen nicht klären ließ, bietet es sich als Totengespräch über die Urkatastrophe und ihre bis heute andauernden Folgen an. Vorletzter Satz in Blochs Das Prinzip Hoffnung, Band 1: »Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft; kein Plan ist selber gut ohne diesen Glauben in ihm.« Letzter Satz in Loests Karl-May-Novelle: »Trinken wir auf unser bestes Pferd.«
Erich Loests Gemäldestreit und Fenstersturz zu Leipzig enthalten tragische und clowneske Botschaften. Tübkes Wandbild Arbeiterklasse und Intelligenz sowie sein umstrittener Platz in der Universität bedürfen als Kunstwerk und Zeitzeugnis eines offenen Diskurses, der die Ursachen entschleiert und die Konsequenzen zu zeigen wagt. Bisher riskierte niemand, ein solches Bild zu entwerfen.
PS: Die Folge 90 vom 24.8.2009 enthält zwei Seiten über Werner Tübke, der in meinem Hörspiel Des Meisters Schüler unter dem Namen Tubb auftritt und auf die Wahrheitsfrage angesprochen antwortet: »Keines meiner großen Bilder ist gelogen. Wer Augen hat in seinem verdammten Schädel, dem zeig ich, was das ist: Blut, Fleisch, Mord, Krieg, Folter, Flucht.«
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