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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 39 |
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Die Internationale der Traumatisierten
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Ingrid und Gerhard Zwerenz
Benutzung auf eigene Gefahr
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Die Geschichte der Philosophie beginnt für uns mit den Vorsokratikern und führt mit den griechischen Klassikern, vorab Aristoteles, Platon, Sokrates, über zweieinhalbtausend Jahre hinweg bis zum 1. Weltkrieg, mit dem die Philosophie als Aufklärung endet. Was bleibt, sind Blinddärme und Kondome, wie die Maschinenwelten sie benötigen, ihre produktive Barbarei zu eskalieren. Gold für Eisen, Blut für Öl, Kultur zur Erinnerung an die guten alten Zeiten, als man sich noch per Hand umsäbelte statt postkulturell per Tastendruck.
Die Philosophie des revolutionären Marxismus ist ein Endprodukt, das mit der russischen Oktoberrevolution seine Chance erhielt. Die dumpfe Feindschaft der 2. Internationale, vorab der deutschen Sozialdemokratie, führte die Bolschewiki über äußere und innere Kämpfe zu Stalin und bald zum Stillstand in Überbau und Ökonomie. Auf Breschnew, Gorbatschow, Jelzin folgte Putin. Lauter ehemalige Übergenossen. Breschnew hielt stand und die Zeit an. Gorbi wollte das beste und wurde Sozi. Jelzin erfand in einer nüchternen Phase Putin, der die russische Westfront stabilisiert. Schon nach Stalins Tod hatte sich mit Chruschtschow eine mögliche Reformperiode angeboten, die sich nicht mehr realisieren ließ. Persönliche Machtfragen dominierten. Die Philosophie von Marx war zur Ideologie der Politbürokratie verkommen. Noch der gutwilligste Oppositionelle endete als Feind oder im Schweigen. Statt Sozialismus entstand ein System der Frustration.
Thomas Pikettys Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert, dessen überraschender Erfolg in den USA das deutsche Feuilleton in Zugzwang brachte – Nachruf 38 – findet inzwischen nach viel Interesse mehr Feindschaft. Und enthielte sein Buch auch keine einzige fragwürdige Zahlenangabe, derart massive Präsentation von Marx und die energische Dekonstruktion des Kapitals sind im angepassten Journalismus nicht akzeptabel. Der Kern dieser Abneigung liegt tiefer als Ökonomie und Statistik reichen. Es geht um die Artikulationsverwertung, wenn Wort und Begriff sklavensprachlich vernutzt werden. Das Wort Waffe ist dem Krieger angenehm, der Pazifist geht dazu auf Distanz. Das Wort Kommunismus, wie im Kommunistischen Manifest definiert und logisch ausgefächert, aktiviert den Genossen und erfüllt den Antikommunisten mit Furcht und Abscheu. Die unterschiedliche Wortwirkung ist altbekannt, in den Folgen aber nicht korrigierbar. Im Wort steckt nur ein Begriff, der im Gebrauch jedoch unzählbare Bedeutungen – Deutungen erhält. Der Begriff ist Produkt des Kopfes. Das Wort umhüllt und verhüllt den Begriff mit unterschiedlichen Erfahrungen. Die Politik scheut den exakten Begriff, der parteipolitisch nicht ausnutzbar ist. So entsteht das System von Sklavensprachen mit seinen drei Hauptformen: Du redest wie die Elite will. Du spielst Elite und verlangst vom Volk Gehorsam. Du redest revolutionär, wenn du stark genug bist, deine Frustration zu überwinden und radikal offen zu sprechen.
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Jürgen Zarusky (Hg.)
Widerstand als „Hochverrat“ 1933 – 1945
De Gruyter Saur 1998
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Frustriert und traumatisiert sind sie alle. Die Sozialdemokraten, weil ihr Kaiser Wilhelm Zwo 1918 nach Holland verduftete. Weil die Spartakisten gleich Revolution machten und Hitler nicht nur, wie Noske vor ihm, die Kommune liquidierte, sondern per Ermächtigungsgesetz die SPD gleich mit. Weil die Kommunisten im Dritten Reich 75% des Widerstands an sich rissen und für die SPD bloß 10 % übrigblieben. Das christliche Bürgertum schaffte gerade noch so 3%. (Quelle: »Widerstand als Hochverrat«, Verlag K.G. Saur) Frustriert sind die Kommunisten. Siehe Thälmanns Zelle im Zuchthaus Bautzen: Eingesperrt, nach Buchenwald verbracht, vorm Krematorium erschossen. Wie viele Tote haben sie zu zählen unter Ebert, Noske, Hindenburg, Hitler. Dazu der große Wissarionowitsch: Zwischen 1945 und 1989 herrschten er und seine Nachfolger im kleinen deutschen Land. Ergebnis: etwa 3.000 sowjetische Todesurteile, exakt 277 in DDR- Verantwortung, etwa 12.000 Verhungerte in sowjetischen Lagern, ungefähr 1000 Grenztote, an die 1.100 ungehorsame Kommunisten und Sozialdemokraten, die als Feinde abgeurteilt werden mussten zur Verteidigung des Sozialismus. Wer zählt die Traumata der Täter und Opfer, der Opfer, die Täter wurden, der Täter, die als Opfer büßten? Endlich die Judenfrage. Juden als jüdische Bolschewiki in der SU und der DDR. Als Auschwitz-Tote und die Überlebenden. Als Kommunisten, Antikommunisten und Israelis, die ihre Palästinenser zum Juden machen. Oder darfst du das so nicht sagen? Unsere eigenen deutschen Opfer anglo-amerikanischer Terrorangriffe sollten zumindest genannt werden beim Krieg gegen den Terrorismus. Dresden: 30.000. Hamburg, Köln, Berlin, Frankfurt …
Blieben da nicht auch seelische Wunden? Und Stalingrad – von einer Armee mit ca 250.000 Soldaten kehrten ca. 5000 zurück. Trauern die Angehörigen zu Recht? Etwa 30.000 Deserteure wurden nach Gesetz erschossen oder gehenkt. Erlitten die Scharfrichter und zur Erschießung Befohlenen nicht auch psychische Verletzungen? Selbst die Soldaten der Einsatzkommandos und massenmordenden Polizeibataillone blieben nicht ganz unberührt bei ihrer Arbeit, auch wenn Kommandeur Ohlendorf sich ums seelische Wohl seiner Schützen und sogar Opfer kümmerte, wie er im Nürnberger Prozess glaubhaft versicherte. Oder Martin Walsers arme Mama, die Gastwirtin vom Bodensee, leidend unterm Vertrag von Versailles und deshalb früh der Hitlerpartei beitretend, wie Sohn Martin dem Kanzler Schröder samt angeschlossenem Volk nicht ganz erfolglos erklärte? Endlich Hitler selbst, versetzen wir uns in seine missliche Lage, infolge feindlichen Gaskrieges vorübergehend erblindet ins Pasewalker Lazarett eingeliefert, musste er die schmähliche Niederlage Deutschlands durch Dolchstoß in den Rücken erleiden – ohne Hoffnung, ein Frontsoldat im tiefsten Elend! Und der US-Präsident, ist er etwa nicht traumatisiert von den 2.800 Toten des 11. September 2001, die von anderthalb Dutzend Selbstmord-Mördern verursacht wurden – auch sie als Islamisten traumatisiert wegen des kolonialen Status ihrer Glaubensbrüder?
Die Trauma-Fundis aber sind und bleiben wir Deutschen. Alle zehn Jahre trauerfeiern wir Stalingrad ab: ca. 200.000 tote Wehrmachtsopfer. ARD und ZDF quellen davon über, soweit die Talkrunden dafür Platz lassen. Die eine Million toter sowjetischer Stalingradkämpfer sollen die Russen selbst betrauern. Grass lehrte uns, die Gustloff-Toten endlich zu rehabilitieren. Jörg Friedrich entlarvt die Sieger des 2. Weltkrieges als Mentalitäts-Kriminelle im Luftterror gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Wir erwarten mit Lust-Angst die Fortsetzung der Kriege, ein wenig frustriert, denn es könnte uns die schöne Stalingrad-Trauer vor dem Fernsehschirm vermasseln.
Egal wie die Bilanzen freiheitlicher Demokratisierung aussehen werden, wir wenden uns weiter unseren geliebten Traumata zu. Was haben wir nicht alles erleiden müssen: Katyn, Warschau, Hiroshima-Nagasaki, Große Säuberung, Workuta, Auschwitz, die Flüchtlingstrecks, Vergewaltigungen, Todeslager, GULAG, Phönix-Programm – so leiden wir an der ganzen Welt, wer auch nur beginnt, davon zu sprechen, bekommt den Herbert-Wehner-Blick: misstrauend, zornig, klagend, anklagend, abwehrend, wer trägt Schuld an alldem? Ich nicht. Und Willy Brandt, jahrzehntelang beschimpft als uneheliches Kind, Emigrant, Vaterlandsverräter. Joseph Fischer, der die Toten von Srebrenica immer vor Augen hat und seither in Kriegen Tote zu produzieren mithilft, wohin ist dein Palästinenser-Halstuch, Joschka? Vergessen können wir alle nicht, den 17. Juni 1953, Warschauer Aufstand 1943 und 44, Budapester Aufstand 1956, friedliche Revolution 1989, Bautzen I und II, Karl Marx und die 30.000 ermordeten Kommunarden 1871 zu Paris, Lenins vom Zarismus gehenkten Bruder, das Ende der DDR. Der Hitlerjunge Helmut Kohl leidet an seiner Wehrmachtsbotengängerei von1944, traumatisiert holt er den entflohenen Häftling Honecker aus Moskau zurück, einen armseligen Gorbatschow erpressend, den Quartalssäufer Jelzin bezwingend – zurück also mit dem abgelaufenen Honi in die alte Berliner Zelle zur legitimen Fortsetzung der 10 Jahre Gestapohaft, die das Kriegsende 1945 einst unterbrach. Anno 2002 fleddern Kohls Focus-Propagandis zwei in Berlin hinterlassene Erich-Koffer. Ich konnte Honecker nie ausstehen, dann erregte er in mir fast Sympathie, was ich mit Erstaunen feststellte. Wo war die alte Abneigung geblieben?
Historiker verbergen ihr Subjekt in der üblichen Wissenschaftshaltung. Ihr Werk verlange Objektivität. Das ist ihre Art von Sklavensprache. Die Geschichtserzählung des Historikers verleugnet ihn und gibt sich objektiv, ohne es zu sein. Wir setzen die autobiographische Geschichts- als Geschichtenerzählung dagegen, die von der erfahrenen Furcht und Angst bis zum Trauma samt Folgen alles über Leben und Tod enthält.
Herkömmlich wird ein Feind gefürchtet, Angst aber ist ein allgemeiner innerer Zustand, der bis zur Chaotisierung ansteigt und sich im irren Blick manifestiert. Haltung und Handlung des Menschen mögen normal erscheinen, das wirkliche Befinden verraten die Augen. Das wirkliche Befinden einer Gesellschaft manifestiert sich in ihren Medien. Sag mir, was du schreibst oder schreiben lässt und ich sage dir, ob du ein Sklave oder keiner bist.
FAZ-Leitartikel vom 27.5.2014: »Wenn in der Ukraine wieder Frieden einkehren soll, muss der Westen daher den Druck auf Moskau aufrechterhalten.« FAZ-Feuilleton 21.3.2014: »Die Faschisten sitzen im Kreml.« Soviel zur üblichen medialen Weisheit. Es gibt noch Ausnahmen. Jürgen Todenhöfer rät den Politikern Kant zu lesen – Immanuel – doch Hermann Kants Roman Der Aufenthalt wäre auch empfehlenswert. FAZ regional geriert sich am 3.4.2014 noch philosophischer und rät zu Auge in Auge mit Platon und Aristoteles. Damit sind wir wieder bei der Suche nach Philosophie als Aufklärung angelangt, die im 1. Weltkrieg verendete. Der Rest überlebt als Trauma, Frust, Ideologie und Hysterie. Vorletzte Nachricht vom heutigen Tag: »Von der Leyen will Bundeswehr früher ins Ausland senden.« So lebt Clausewitz als Ministerin-Witz im 21. Jahrhundert weiter als hätte es ihn nie gegeben. Die Landesverteidigung findet im Ausland statt.
Wie Erich Loest in einem seiner autobiographischen Bücher schreibt, trug ich im Leipziger Literaturinstitut, damals benannt nach Johannes R. Becher, aus dem Wissen vor, das ich mir bei Ernst Bloch erworben hatte. Warum auch nicht? Seit 1953 ist Ingrid mit im Spiel und dass wir beide von den damaligen fünfziger Jahren bis heute von Bloch profitieren, resultiert aus dieser langen Zeit von Nähe und intensiver Zusammenarbeit. Einer allein vergisst leicht, zwei können sich im Gespräch ergänzend erinnern und vergewissern. Soviel zum Gedächtnis.
Einen anderen Umstand begriff Erich bis zum Ende nicht. Meine Oppositionshaltung resultiert aus frühen Lektüre-Erfahrungen, gewonnen aus mit dem Beginn der Nazizeit gefährdeten, wo nicht verbotenen Romanen. Wir versteckten, vergruben, verleugneten sie, was mir sehr schwer fiel und mich zum Buch-Verteidiger konditionierte. Die Prägung aus der Kindheit liegt jetzt über achtzig Jahre zurück. Einen großen Teil der Bände brachten wir durch. Es ist der Stolz unserer Hausbibliothek. Die gedeckten Farben der Buchrücken hinter Glas fallen auf den ersten Blick etwas ab im Vergleich mit den in unseren Tagen modischen bunten Einbänden – die Werke und Autoren von damals aber sind voller Antikriegszorn sowie Lust auf Revolution und deshalb bis heute unerreicht.
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Buch aus unserer Hausbibliothek
1933 vor der Vernichtung gerettet
Erich Maria Remarque:
Im Westen nichts Neues |
Die Zeitschrift Utopie kreativ vom April 2005 enthält 3 Fragmente Erinnerungen an Rosa Luxemburg beim Kriegsausbruch 1914, aufgezeichnet von Hugo Eberlein. Die Linken von Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring bis hin zu Clara Zetkin hofften auf die erklärte Kriegsgegnerschaft ihrer Partei, doch: »Der Krieg war da, das Proletariat rührte sich nicht.« Rosa Luxemburg wollte sich das Leben nehmen. Franz Mehring war »vor Wut über den Verrat der Partei« außer sich. Eberlein: »Am 2. August wurde der Krieg proklamiert. Am 4. August stimmte im Reichstag die sozialdemokratische Fraktion für die Kriegskredite und besiegelte damit den Bankrott der Sozialdemokratie.«
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Hugo Eberlein war mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Franz Mehring 1914 gegen SPD-Burgfrieden. Nach Flucht in die SU 1941 in Moskau erschossen |
Der Rest ist bekannt: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden von Mördern in Uniform mit Billigung des Sozialdemokraten Noske umgebracht. Hugo Eberlein 1937 in Moskau verhaftet, gefoltert, 1941 zum Tode verurteilt und erschossen. Wären die Sozialdemokraten heute noch bei Sinnen, sie nähmen das aufgeschreckt zur Kenntnis und gingen in sich. Stattdessen präsentieren sich die Genossen in nebulösen Talkshows und schwadronieren ihre letzte Frist ab.
Die deutsche politische Klasse samt ihren intellektuellen Adepten führte das Volk vom 1. in den 2. Weltkrieg und ab 1945 zur anschließenden Zweiteilung sowie zur fatal falsch inszenierten Vereinigung ab 1989/90. Lebten Luxemburg, Liebknecht, Eberlein heute noch, ich bin mir sicher, sie reagierten nicht weniger entsetzt als 1914.
Erwachte Adolf Hitler heute in seinem für 100 Filmszenen ausgeleuchteten Führerbunker, diesem modifizierten Kyffhäuser, dürfte er zur Siegesfete mit Wehrmachtsparade aufrufen: Die Arbeiterklasse abgemeldet, die Kommunisten bankrott, die Sozis in einer Großen Kopulation umfangen, der brave deutsche Soldat aber vom Balkan bis zum Hindukusch und zur neuen Ostfront gegen Putin auf Wacht.
In Weder Kain noch Abel befragt mich Jürgen Reents zu meinen Kriegserlebnissen. Ich schildere eine Dummheit, die ich aus lauter Wut über einen angeberischen Hauptmann beging, der uns bei Nettuno zu einem aussichtslosen Angriff befahlt. Die Offiziere benahmen sich wie verrückt. In der Tat hatte Hitler selbst per Telefon über Nacht bis in den vordersten Gefechtsstand durchgefunden und den Angriffsbefehl erteilt. Ein Befehl kann gar nicht blöde genug sein – der Soldat wird ihm gehorchen. Diese Episode und eine blinde Wut, die mich befiel, machten mich wohl endgültig ungehorsam. Der Angriff brachte mir übrigens einen Orden und das Verwundetenabzeichen ein. Noch ein Grund, gegen mich selbst zu wüten. Wohl deshalb unvergesslich beschämend. Ein Trauma.
In Köln und Frankfurt fanden inzwischen die angekündigten großen kulturellen und philosophischen Festivals mit Dutzenden von Meisterdenkern und Tausenden von Besuchern statt. Die Zeitungen melden rasante Erfolge. Kultur ist gefragt. Besonders Philosophie. Über Bernard-Henri Lévy berichtet die Kölnische Rundschau allerdings mit artistisch gemischten Gefühlen, dass … der schillernde Denker, Dandy, Millionär, Krisenherd-Globetrotter und Debattenvirtuose trotz alledem den WDR-Saal bei der phil Cologne nicht ganz füllte, zwar wortreich, doch mit wenig Nuancen seine Geschichtsbilder präsentierte …
Stattdessen lobte er Sloterdijk und Martin Walser in den Himmel und brachte seinen Gesprächspartner Frank Schirrmacher fast zum ehrfürchtigen Schweigen. Ein Wunder? Lévy hatte schon Frankreich zum Krieg gegen Libyen beschwatzt, ein philosophischer Kriegsantreiber eben, Libyen wurde zerbombt, Ghadafie massakriert und gepfählt. Ein Sieg des Philosophen. Die phil Cologne zog insgesamt um die 15. 000 Besucher an, Frankfurt brachte es nur auf ein Drittel davon, obwohl es a) um Goethe und b) um die Zeit als Thema ging. Außerdem um Religion, Ethik, Faust und den taufrischen Geist des Kapitalismus, was die faustische Sahra Wagenknecht ins Spiel brachte, während Safranski antifaustisch fragte: Was wollte Heidegger? Das bewegt die Intelligentsia. Kein Kulturkongress ohne den größten deutschen toten Sinnsucher, dessen abendländischer Stern 1927 mit Sein und Zeit epochenfüllend aufging. Eine gewisse Linke mit Benjamin, Brecht, Bloch stänkerte zwar dagegen an, doch sie verschwanden 1933, als SA durchmarschierte. Heutzutage gibt es Erfreulicheres zu berichten.
Zum Beispiel verteidigte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich am 20. Mai 2014 sein Land in der FAZ. Wir begrüßen den Mitstreiter. Der Mensch im Finanzausgleich heißt Tillichs Thema. Der Text ist besser als der lahme Titel. Sachsen wird untergebuttert. Sogar Stanislaw weiß es. Sagen wir's mal sportlich. Nachdem die DDR sich entleibt hatte, gab es dort noch längere Zeit erstklassigen Fußball. Inzwischen ist alles Dritte Liga. Ob Fußball oder Philosophie – da stimmt etwas nicht. In Sein und Zeit witterten Brecht, Lukács und Bloch bereits 1927 Heideggers baldigen Nazi-Kurs, entkamen 1933, kehrten nach 1945 zurück und wurden 1956 von eigenen Blindgängern zu Konterrevolutionären erklärt. Seit der Vereinigung 1989/90 entschwanden sie ganz vom Markt, den die schwarzbraunen Heideggerianer nach wie vor beherrschen. Predigt der Pariser Adept Lévy den Krieg von Afrika bis in die Ukraine, setzt Jochen Staadt, sein deutscher Bruder im Ungeist, am 1. Juni 2014 auf einer ganzen Seite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung den innerdeutschen kalten Krieg fort. Am Ende seiner manischen Suada deckt er ein längstbekanntes Stasi-Geheimnis auf – der Schriftsteller Bernt Engelmann, Potzblitz, erhielt aus der DDR von der Hauptverwaltung Aufklärung Materialien für ein Buch. Vermerkt von Staadt wird ausdrücklich, Engelmann habe in der damaligen BRD als ehemaliger KZ-Häftling als moralische Instanz gegolten. Wenn das gegen die BRD dieser Jahre und Engelmann sprechen soll, bedauern Ingrid und ich unsere Differenzen mit Engelmann. Zur Debatte stand das Verhältnis von Schriftstellern zu Geheimdiensten, gleichgültig welcher Seite. Abhängigkeiten gehen zu Lasten der Freiheit. Dies auch ein Grund der Entfremdung zwischen Loest und uns. Siehe dazu: Nachruf 23 – »Abbruch: Erich Loests Fenstersturz«
Siegreich reitet Napoleon in Moskau ein und flieht, vom Feuer verfolgt, heim nach Paris. Kaiser Wilhelm Zwo will`s ein Jahrhundert darauf besser machen und endet als Holzhacker in Holland. Zwei Jahrzehnte später schickt Hitler die Wehrmacht los. Von Moskau bis Stalingrad gefriert ihr, das ist Landserlos, der Scheiß in der flotten Uniformhos. Nix war's mit dem deutschen Führer im Kreml. Das Ende im Berliner Führerbunker wird zur Geschichtslücke, die zu füllen die Bundeswehr auftritt. Obamas NATO loziert Waffen rund um Russlands Grenzen. Die verlorenen Kriege vom Irak bis Afghanistan bedürfen kontinuierlicher Fortsetzung wie die Waffenproduktion. Oder wollt ihr, Leute, arbeitslos werden. Die Ukraine ruft. Von der Potsdamer Garnisonskirche schlägt's 13. Üb immer Treu und Dümmlichkeit. Die Toten der beiden Weltkriege entsteigen gehorsam ihren luxuriösen Massengräbern. Der Dichterprophet Johannes R. Becher dazu in WINTERSCHLACHT: »Merkt euch, vergesst nicht das Blut der Söhne, der Söhne der Revolution. Merkt euch, für Feinde führt kein Weg nach Moskau. Den Freunden aber öffnen wir das Herz.«
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Johannes R. Becher
Winterschlacht
Aufbau-Verlag Berlin 1953
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