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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 11 |
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Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
Gerhard Zwerenz
Wider die deutschen Tabus
List 1962
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Gerhard Zwerenz
Casanova
Scherz-Verlag 1966
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Das List-Taschenbuch schickte Gerhard Zwerenz an Herbert Wehner, den Casanova-Roman schenkte Egon Bahr seinem hochgeschätzten Freund Willy Brandt
Der Neunzehnjährige, der im August 1944 die Wehrmacht verließ, hatte 1933 als knapp Achtjähriger die Bücher, mit denen er lesen gelernt hatte, erst verleugnen und dann verbergen müssen. Dafür rächte er sich. Der Zweiunddreißigjährige, der im August 1957 die DDR verließ, hatte ein Konzept. Wieder ging es darum, verfolgte Worte und Bücher zu verteidigen. So begann der lange Marsch den 3. Weg entlang. Der Verweis auf MAO und Rudi Dutschke ist so links wie zeitlos. Um im Bild zu bleiben, es führt kein Weg nach Nirgendwo, der Pfad verläuft durch den Dschungel, die Richtung und Gangart musst du dir selber erfinden.
In meinen ersten BRD-Jahrzehnten wurde jede Gelegenheit zu Lesungen und Vorträgen genutzt. Nach dem Mauerbau 1961 war mit Ost und West endlich ohne jede Rücksichtnahme abzurechnen. Meine eigenen Vorstellungen vom 3. Weg sind im Essay Zweierlei Kommunismus enthalten. Nachzulesen in Wider die deutschen Tabus, List Verlag, München 1962. Als Egon Bahr im Juli 1963 in Tutzing seine wegweisende Rede Wandel durch Annäherung hielt, entdeckte ich darin Parallelen zum 3. Weg. Im Jahr zuvor hatte ich in Tutzing über Zweierlei Kommunismus gesprochen. Das Konzept war zuerst 1961 in Ärgernisse von der Maas bis an die Memel skizziert worden. Wie ich von Leo Bauer erfuhr, kannte Willy Brandt das Buch. Egon Bahr, den ich danach fragte, erinnerte sich nicht, Brandt die Ärgernisse gegeben zu haben, wohl aber später den Casanova-Roman, der Willy vom Thema her nicht ganz fremd war.
Schon das Taschenbuch des List-Verlags enthielt u.a. den Tutzinger Rede-Text samt Titel in der ursprünglichen Fassung: Weder Gott noch Teufel – Ein Essay über den Kommunismus und seine Feinde. Hier die charakteristischen Kapitel- Überschriften: »Kommunismus ist mehr als Politik … Philosophie ohne Dialog … Den Osten im Denken vernachlässigt … Konservatismus als herrschende Blindheit … Antikommunismus als Vorurteil … Herunter vom hohen Ross …« Einiges würde ich heute anders formulieren, doch der Kern ist geblieben. War es etwa zu früh, der DDR ihren Untergang aus der zur Faust gekrümmten Hand zu lesen? Das falsch vereinigte Deutschland siegt sich inzwischen traditionsgemäß weiter zu Tode – jeder Sieg fällt größer als der vorige aus, jede Niederlage ist die Quintessenz permanenter Friedensverweigerung. Das gilt rechts wie links. Doch die Rechte stellt den Dramaturgen, der das Trauerspiel bis zum bitteren Ende garantiert. Die Linke weiß alles besser und unterliegt wie programmiert. Vom Klassenstaat zum Kastenstaat? Indien liegt näher als China: »Die Krankheit der Welt ist eine Mangelerscheinung: Es fehlt die bestmögliche Regierungsform. Die westliche Demokratie leidet an dem Kardinalfehler, dass in ihr Geld jede Meinung wie auch deren Gegenteil erzeugen kann. Genies sind das Produkt aus Frechheit und Reklame. Minister sind das Produkt aus Geschäftsinteresse und Beziehung. Moralisten entstehen aus wohlverstandenem Interesse und Verstellung oder infolge körperlicher Schäden.» (Zitat aus Wider die deutschen Tabus.) Das war 1962.
Tatsächlich begriff der damals in der FAZ recht rührige konservative Rudolf Krämer-Badoni, dass es um die Wurst ging. Der List Verlag zitiert ihn auf der tb-Rückseite:
Und wiedermal sind wir mitten im Wahljahr. Als erstes wird Gregor Gysi wegen der Stasi öffentlich abgewatscht, verunglückt beim Skifahren, muss an der Schulter repariert werden und lacht in die nächste Kamera. Die eifrigen Ankläger werden noch im Jahr 3000 den fatal-folgenreichen Termin 1989/90 perpetuieren. Gleichwohl gibt's Neuigkeiten. In Neues Deutschland werden die vergessenen Opfer Stalins neu entdeckt. Lauter Polit-Wiedergeburten, obwohl vorher zur Hölle geschickt. Am 18. März d.J. wurde sogar an Rudolf Herrnstadt erinnert, den Walterchen, der böse Ulbricht, 1953 wegen des Juni-Aufstands kippte. Neulich war Lorenz Lochthofen an der Reihe, dessen Sohn Sergej Lochthofen 1953 in Workuta geboren wurde, was an seinem nach dort verbrachten Vater lag. Sergej jedoch, ein nicht stromlinienförmiger Journalist, verlor seinen Chefredakteursposten erst vor kurzen im 1990 von der DDR-Diktatur befreiten Thüringen. Wo bleibt da Gaucks bis zum Erbrechen ständig beschworene Freiheit? Das bringt uns auf Leipzig, wo die Völkerschlacht 200 Jahre zurückliegt. Freiheitskriege waren das? Soll doch der Völkerschlacht-Klotz als erneuertes Einheitsdenkmal durchgehen. Ein paar tausend sächsische Kämpen zogen erst mit Napoleon nach Moskau, dann über die Beresina zurück an die Pleiße, wo sie sich über Nacht umdrehten, um fleißig gegen Bonaparte mitzusiegen. Das Völkerschlachtmonument ruht auf ca. 100.000 Toten. Ein Freiheitskrieg wars eben, in dem die Völker einander massakrieren. In Stalingrad brachten sie es – wer weiß das genau – auf mindestens das Achtfache. Das ist der kulturelle Fortschritt. Wir erleben das Jahr 2013, sitzen in den ersten Märzsonnenstrahlen auf der Terrasse und lesen die Morgenzeitung. Titelzeile: Vom Frühstück in den Kugelhagel – was exakt des Landes akuten Seelenzustand einer gemütlichen Todessehnsucht ausdrückt – Stalingrad liegt schon zu lange zurück, das unschuldige Dresden zerstörten die schrecklichen Westalliierten, wie die neualten Rechten skandieren. Der Tod aber wird lustvoll medial gepflegt.
Schwer errungene Weisheit
Als ich auf die zwischen Albaner Bergen und
pontinischen Sümpfen gelandeten Amis schoss
fragte mich niemand, weshalb
ich südlich Roms das Reich verteidigte.
Ich auch nicht. Meine Knochen waren
so billig mir, dass ich zu Markte sie
trug. Die Kugel, die ich mir einfing,
war wohlverdient.
Kein Soldat stirbt unschuldig außerhalb
seines Landes. Kein Angriff lohnt den
Gehorsam. Wer wo auf irgendwen schießt,
soll, als Toter, unbetrauert bleiben.
(Leipzig 1956)
Rudolf Krämer-Badoni, der mich 1961 einige Male in der FAZ freundlich empfohlen hatte, wollte das 1964 zwar nicht zurücknehmen, deutete jedoch den schärferen Kurs an, als mein Erzählungsband Heldengedenktag erschien:
Dankeschön dem R K-B für die scharfe Munition. Alte Krieger kennen sich aus. Neue Krieger wachsen auf den Bäumen, wo sie als Scharfschützen Platz nehmen. Als ein gewisser Joachim C. Fest unserm jungen Freund Rainer Werner Fassbinder von hinten durch die Brust ins linke Auge schoss, formulierte ich zielführend zurück.
Friede ab 1989/90
Entlassene Volksarmisten werden
zu Bundeswehrsoldaten resozialisiert.
Abgerüstete Panzer erhalten ihre
abgeschnittenen Kanonenrohre zurück.
Friedensforscher erläutern die
Kriegsnotwendigkeiten. Linke
Professoren wenden rechts. Rechte
bleiben, was sie sind. Glücklich.
Als Friedensdividende erhebt der
Staat die Kriegssteuer. Fest in
der NATO verankert lernen wir bei
Orwell: Friede ist Krieg.
Habt ein wenig Geduld mit uns,
Freunde und Bündnispartner.
Sobald die Schamfrist ganz ist,
werden wir losschlagen.
Irgendwann auf dem Langen Marsch, den Rudi Dutschke ausrief, stolperte Böll ins Jenseits. Die Lücke klafft. Andersch kam abhanden, vorzeitig desertiert. Eich schwenkte zu Borchert ab. Bloch diskutiert mit Adorno im Himmel den Himmel. Die andern? Deschner schreibt wütende Bücher und Briefe, ganz Nietzsche II. Enzensberger sah gestern die Revolution vor der Tür stehen. Sie verrammelnd und verriegelnd lobt er heute die Weisheit entsozialisierter Fahnenträger: Ein Volk sind wir. Jens in Tübingen gibt unwillentlich den Hölderlin. Walser, gestern fast Genosse, die IG Medien revolutionär fordernd vom Balkon. Seit es sie gibt, tagt er mit CSU-Führern im Kreuther Winkel, lobt Kohl übern schwarzen Klee, schwenkt die nationale Fahne voran: Heil Volk! Die Frankfurter Rundschau entdeckt die opportunistischen Schönheiten der Prosa des Ernst Jünger, konsequenterweise auch die Schönheiten der DDR-Opportunisten preisend. Nur der Spiegel tanzt wieder mal, sei's aus Versehen, aus der Reihe. Seine früheren Oppositionsweisheiten neu vergessend. Oder auch: Im Zweifelsfalle rechts. Vieles ging verloren. Was sich wiederfindet, hat keinen Wert. In den Köpfen herrscht Inflation. Aus den Tiefen des Fegefeuers dringt die krächzende Stimme des Herrn Brecht: An uns habt ihr welche, auf die ihr euch nicht verlassen könnt.
Konzepte: Der 3. Weg bin ich selbst. Ohne es zu wollen. Das ergab sich so. Die Revolte beginnt im Kopf. Der Schlag, diese Erweckung, kommt wie eine Geburt von außen. Du hast freie Wahl: Unterwerfung oder Aufstehen. Was mit dir lost ist, hängt allein von dir ab. Was willst du sein – Mönch oder Soldat, Christ oder Atheist, Kommissar oder Partisan, Politiker oder Philosoph, Übermensch oder Revolutionär, Marxist oder Stalinist, Revolteur oder Konterrevolteur, so die endlose Alternative. Der 3. Weg, dieser pazifistische Versuch beginnt in Kopf und Bauch. Die Athener Schule der Peripatetiker begann in Athen mit Aristoteles und endete mit Bloch in Leipzig. Aus Wanderern werden Auswanderer. Zu Beginn ist Revolte eine Frage der List. Du willst überleben. Nur nicht auf allen Vieren. Flaschenpost? Wanderprediger? Kabarettist im Fernsehen? Die sanftmütigen Christen delegieren ihren Unmut an Hiob, der mit seinem Glaubensgott rechtet. Ihre schwarze Leuchte Heidegger flüchtet, als es ernst wird, in die SA-Kaserne und zahlt Eintrittsgeld bis zur letzten Stunde. Politik essen Philosophie auf. Stalin repetiert und steigert Ivan den Schrecklichen. Wie viele Mordanschläge überlebte der Generalissimus, bis er den Hirntod des Marxismus schaffte? Hiobs Existenz-Wut lässt ihn mit seinem Herrn hadern? Das religiöse Opiat, macht es kreuz- oder kreuzigungssüchtig? Statt Heines Himmelreich auf Erden setzt es ab 1929 umstürzlerische Depressionen. Schwarze Freitage und Montage. Ob Hiobs Klagen bei Gott oder Marxens kühle analytische Feldversuche beim Kapital, es bleibt bei Büchners Brief an Gutzkow: »Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt.«
Hiobs Klagen bleiben bei Gott so unerhört wie die Marx-Analysen der kapitalistischen Gesellschaft bei den Göttern des Kapitals
»Die vaterlose Familie in der Konservendose – Pathos und Kalauer werden Partner: Am Staatstheater Mainz bietet die Uraufführung des Projekts ›Grimm. Ein deutsches Märchen‹ eine fröhliche Dekonstruktion.« Der Kritiker Matthias Bischoff bespricht das neue Stück am 13.3.2013 in der FAZ. Etwas Lobenswertes im Blatt. Was bietet die Dekonstruktion von Grimms Märchen? Anders gefragt: Was wird aus Blochs Dekonstruktion der Hoffnung a) aufs Kapital und b) auf Stalin hin betrachtet? Die vaterlose Familie in der Konservendose – meine Variante ist im Nachwort 10 zu finden: »Alter Sack antwortet jungem Sack« – Herzstück in Jugendsprech: Nicht alles gefallen lassen – Kurzgeschichte, seit Jahrzehnten Schulbuchbestseller in den Fächern Deutsch und Religion. Warum? Lehrstück – Lustspiel à la Dekonstruktion bei Ernst Bloch. Story als Substanz ohne Politik, Glaubensfragen, Ideologie und trotzdem Lust am Untergang, weil Schadenfreude über selbstverschuldete Hölle. Lustvolle Ahnung von Alternative? Besäßen Ungeborene ein Recht auf Streik, so mancher hielte im Nichts inne.
Hinweise zum Thema 3. Weg
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Wissenschaft als Endspiel-Utopie?
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Soviel hier zum gesuchten 3. Weg. Warum der 1. Weg nur noch das Ende Roms auf amerikanisch parodiert, findet sich auf wenigen Seiten gerafft in Ossietzky vom 6.4.2013 u.a. bei Norman Paech Fasziniert von ›Töte zuerst‹, Hans Krieger Israels Sicherheit, Otto Köhler Die Spiegel-Recherche und anderes mehr. Ossietzky ist das Spitzenprodukt Berliner Gesellschaftsanalyse. Als Zukunftsanalyse offeriert es soviel wie Die Weltbühne 1933 – als Übermacht drohen Kapital-Chaoten. Was tun? Im Augenblick suchen Linke Zuflucht im klassischen Report Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft von Friedrich Engels. Schade nur, dass die Wissenschaft selbst zur Utopie regredierte. Die Wissenschaft des wissenschaftlichen Sozialismus rettete die Revolution nicht vor der Konterrevolution. Ist die etwa wissenschaftlicher? Die Revolution als Lokomotive der Geschichte erlitt Achsbruch. Ende des 2. Weges. Was nun? Schönes Fundstück: Politik ohne Wissenschaft – Ökonomische Spitzenforschung spielt in der deutschen Politikberatung keine Rolle. Der Artikel ist in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 7. April 2013 so kühn wie kühl auf die eigene Seite gezielt. Was hilft's. Wissenschaft ist bei der herrschenden Finanzdiktatur so wenig gefragt wie linke Wissenschaft linkerhand gefragt war und ist. Beide schrumpften zu negativen Endspiel-Utopien. Revolution sieht anders aus. Der Marsch auf dem 3. Weg wird verdammt lang und länger. Die Chinesen wissen es. Ihre Revolution wagte den Aufstand gegen sich selbst und setzte auf Tradition plus Phantasie-Harmonie.
Die Folge 55 unserer autobiographischen Serie beginnt am 2.11.2008 mit einem Foto von Heinrich Graf Einsiedels 80. Geburtstag, der in Berlin gefeiert wurde. Das Bild zeigt den klassischen Antikommunisten Melvin J. Lasky im Gespräch mit dem neben mir stehenden Egon Bahr, dessen Tutzinger Vortrag vom Wandel durch Annäherung (1963) auf die entschiedene Gegnerschaft Laskys gestoßen war, was man nicht nur in der Zeitschrift Der Monat nachlesen kann. Jetzt im Berlin des Jahres 2000 gab es keine Feindschaft mehr. Einsiedel gratulierte Lasky zur errungenen Friedfertigkeit und wir erwogen einen neuen Kongress zur Verteidigung der Kultur als Wandel durch Annäherung im bewährten Sinne Egon Bahrs. Daraus wurde nichts. Lasky verstarb 2004 in Berlin, Einsiedel 2007 in München. Lasky gab mir 1962 im Monat Raum für die Verteidigung Luxemburg-Liebknechts gegen ihre in der Bundesrepublik hochgelobten überlebenden Mörder. Für die Publikations-Chance hier mein Dank an den amerikanischen Journalisten. Mit Heinrich Graf Einsiedel durchlebte und durchlitt ich vier Jahre im Bonner Bundestag. Danke. Der Tod schmerzt. Er darf nicht das Ende vom Lied sein.
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