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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 52 |
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Merkel, Troika, Akropolis und Platon
Januar 2015 – zum neuen Jahr eine neue Philosophie, klingt gut, ist schlecht, weil seit zweieinhalb Jahrtausenden immer wieder vergeblich versucht. Irgendein Platon bricht auf um auf irgendwelchen Sizilien irgendeinen herrschenden Tyrannen Dionysios aufzusuchen und zur besseren Herrschaft zu überreden. Das endet dreimal übel. Der enttäuschte Philosoph kehrt nach Athen zurück, widmet sich der Akademie und seinen Schülern in Dialogen, die bis heute anhalten als Anstrengung, mit der Macht ins Gespräch zu kommen, ohne gleich in ihren Kerkern zu landen. Jetzt, Anfang 2015 ist Athen noch immer unser Anfang der Philosophie und ihr mobiles Ende vor dem Urteilsspruch der Troika: Griechenland droht der Abgrund weiß die westliche Ökonomiegesellschaft, der gegenwärtige Athener Regierungschef Samaras sieht den »Verbleib Griechenlands in Europa auf dem Spiel.«
Als Merkel letztmals anreiste, brauchte es Tausende von Sicherheitsleuten zu ihrem Schutz im Schatten der Akropolis, wo Platon über Philosophie, Ökonomie und Geographie dialogisierte, beurlaubt aus dem Himmel akademischer Weisheiten in die irdischen Höllen des 3. Jahrtausends. Wo Platon scheiterte, sollen Madame Merkel und die Troika es richten? Hat Griechenland eine Perspektive ohne Troika? Das entscheiden die Götter. Die hessische Linke jedenfalls hat offensichtlich keine auf ihrer Seite, wie die FAZ am letzten Dezembertag 2014 konstatierte: »Bar jeder Hoffnung, in absehbarer Zeit Regierungsverantwortung in Hessen zu übernehmen, fordern die drei Frauen und drei Männer, angeführt von den Fraktionschefs Janine Wissler und Willy van Ooyen munter höhere Ausgaben für Polizei und Justiz, für Bildung, Umweltschutz und Kultur, für öffentlichen Nahverkehr und Sport. Nebenbei will die Linkspartei möglichst auch noch den Haushalt sanieren, und wo das für das Abarbeiten des Wunschzettels nötige Geld herkommen soll, steht auch schon fest: Zahlen sollen die Reichen mitttels Vermögen- und Erbschaftssteuer. Kein Wunder, dass die Linke so deutlich mehr Freude an der Oppositionsarbeit hat als SPD und Liberale.« Das verschweigt linke Verdienste um die Aufklärung rechter Vergangenheiten wie die zahlreichen NSDAP-Mitgliedschaften hessischer Nachkriegspolitiker, angefangen beim Django Alfred Dregger.
Am 31.12.2014 mailte Ingrid nach Athen an Hatto Fischer: Mit ihm korrespondieren wir seit einigen Monaten von Blochianern zu Blochianer. Das Beste Dir und Deiner Familie, lieber Hatto, Ihr habt dort im Land wegen der Wahlen gerade bewegte Zeiten, hoffentlich läuft alles so wie Du Dir es wünschst ... Herzlich – auch von Gerhard – Ingrid
Darauf die Antwort:
Zagorochoria 31.12.2014
Liebe Ingrid, lieber Gerhard, seit drei Tagen befinden wir uns in Ioannina und noch genauer in einem Bergdorf hoch oben im Gebirge. Gestern Nacht gab es viel Schnee. Und heute starken Wind. Es belebt den Sinn wieder für die Natur der der Mensch nicht vollkommen kontrollieren kann (siehe anbei das Foto). Vielfach bewegt sich da einiges denn die Stadt Ioannina will sich um den Kulturhauptstadt Titel bewerben und so bezeichnend für die Krise ist ein Bild das der Maler Tassos malte: eine Adaptation von Picassos Drei Musiker; denn diese drei Gestalten zeigen wir hören nichts, wir sehen nichts, wir sagen nichts. Vielleicht gelingt es aber mit Ioannina aus dieser Krise herauszufinden. Die Stadt ist reich an kultureller Geschichte aber sie verlor ihre jüdische Gemeinde in 1944 als die Gestapo 1900 Juden nach Auschwitz transportierte und nur sehr wenige überlebten das. Kurzum gehe ich ins Neue Jahr mit einer ziemlich großen Zuversicht. Die Presse macht ein viel so großes Getöse um die vorgezogenen Wahlen wenn das im Grunde genommen normal ist. Die Schneedecke zeigt nicht was unterhalb bereits beginnt zu wachsen. Viele Menschen machen sich Gedanken wie aus diesem mentalen Gefängnis herauszukommen. Es gibt fantastische Menschen die ich in letzter Zeit gerade in dieser Stadt kennen lerne. So mit dieser Zuversicht gehe ich ins Neue Jahr und wünsche Euch beiden etwas ähnliches. Es war ein wunderschönes Geschenk von 2014 dass wir uns kennen lernten. Alles Gute fürs Neue Jahr –
Hatto
Vom Bloch-Dialog mit Hatto Fischer in Griechenland ist im Nachruf 45 zu lesen. Auf Ernst Bloch bezieht sich ebenfalls eine kurz vor Jahresschluss hier eingegangene E-mail von Walter Rösler:
Hatto Fischer und Walter Rösler sind zwei überlebende oppositionelle Marxisten mit Bezug auf Bloch in Leipzig. Es gibt viele produktive Individualisten wie die beiden als Teile eines linksintellektuellen Netzes, dem das Zentrum fehlt, das vermittelt ohne per hierarchischer Kommunikation abzubremsen. Vor Jahren mailte Hartwig Runge einen privaten Schnappschuss aus Leipzig. Wer kennt alle Namen? Wir sind uns nicht sicher, wer wer ist – drei Personen können wir identifizieren. Es fällt uns nicht schwer, Ingrid und mich ins Bild einzumischen – wir gehören dazu. Als ich die Wehrmacht verließ, blieben ein paar Kleinigkeiten zurück, die meiner Mutter später zugesandt wurden. Als ich die DDR verließ, blieb mein Pseudonym Gert Gablenz in Leipzig zurück. Das Ende der DDR war noch lange nicht beschlossen. Es gibt angeblich keinen Sozialismus und kann keinen geben. Mag sein. Und was ist mit China? Der gewöhnliche Kapitalmarasmus allein bringt es wohl nicht.
Im Vorabdruck des Buches Amboss oder Hammer von Hans Modrow, junge Welt vom 30.12.2014, wird Walter Ulbrichts Versuch gewürdigt, das »Neue ökonomische System so aufzubauen und zu entwickeln«, dass es erfolgreich würde. Hier wie in anderen Texten wird Ulbricht auffallend oft als Erfinder der NÖP (NÖS) gefeiert. Und wo bleibt Fritz Behrens, der sie gegen alle Widerstände im Politbüro und außerhalb tatsächlich entwickelte und dafür büßen musste? Die Hierarchen schufen sie jedenfalls nicht. Der Titel Die Verteidigung Sachsens pointiert meine Herkunft, erfasst erlebte Geschichte und erweitert sächsische Geographie auf Gebiete einer DDR, der wir faire Erinnerung schulden. Wie viele benannte und unbenannte Personen enthalten die gut tausend Seiten des Zeitraums von 1949 bis 1957? Was wurde aus dem Erleben vor 1957 memoriert? Als autobiographischen Beginn sehe ich Das Großelternkind, Erstdruck 1978 bei Beltz und Gelberg, Weinheim, Roman einer glücklichen Kindheit, was ist Roman, was wahres erinnertes Glück. Schwein gehabt in dieser frühen Zeit – bis Gefahr drohte für die von mir so enthusiastisch gelesenen Bücher, von denen ich mit meinem Großvater gemeinsam Unheil abzuwehren suchte. So kann einer überstehen, wenn er welche findet, die ihm helfen und nicht aufgeben. Ich hatte das Glück, exemplarische Genossen zwischen Moskau, Minsk, Berlin, Leipzig, Köln, Offenbach, Frankfurt / Main kennenzulernen. Zum Beispiel Jakob Moneta:
Jakob Moneta: Fairer Nachruf auf einen Linken sogar in der FAZ
Das Großelternkind – Erstausgabe
So Lorenz Jäger würdigend über Moneta in der FAZ. Was erstaunen mag. Das Feuilleton darf sich Extravaganzen leisten. Unsere solidarische Liebe zu Moneta und die Erinnerung an ihn findet sich im Nachruf 49: »Unbeugsam aufrecht die Lust zu leben, die Stimme nicht gesenkt …« Zuletzt wird noch als Zugabe Biermanns gegen den Trotzkisten Jakob Moneta gerichteter giftiger Querschläger mit Drachenscheiße zitiert.
In der FAZ vom 6.1.2015 findet sich von Lorenz Jäger ein weiterer Nekrolog, der uns nahegeht: » Die Kommunisten – Hermann Weber ist gestorben – Was wir über die Geschichte der deutschen Kommunisten wissen, das wussten wir lange nur von Hermann Weber. Niemand kannte wie er die Vornehmheit und die Gemeinheit in diesen Reihen. War er doch selbst 1945 der Partei beigetreten, im Westen, und zu seinem und unserem Glück neun Jahre später ausgeschlossen worden. Was er erlebt hatte machte er klugerweise zu seinem Forschungsgegenstand. In Mann heim, seinem Geburtsort, dessen lokales Idiom man ihm anhörte, wurde er dann Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte. Mit sechsundachtzig Jahren ist er am 29. Dezember verstorben. Sein Werk wird halten. L. J.«
Am selben Tag würdigt das neue deutschland reumütig Hermann Weber als Saladin der Kommunismusforschung – so die kluge Überschrift von Karlen Vespers Artikel Zum Tode des Mannheimer Geschichtsprofessors Hermann Weber. Wer mehr zum Thema wissen will, sei im poetenladen.de auf unser Nachwort 59 verwiesen. Diese frühen gemeinsamen Erlebnisse und Konflikte sind in den kaltkriegerischen Geschichtsbüchern nicht zu finden, weil die Abenteuer der Subjektivität anderer Darstellungsformen bedürfen. Weber, noch frisch der Partei entronnen, und ich, noch frisch der DDR entkommen, berichteten erst lange danach von unseren verschiedenen Zusammentreffen im westfälischen Kamen bis Kasbach am Rhein wie auch anderswo. Die Differenz zwischen Ex- Kommunisten und Antikommunisten bedarf der Artikulation. Weber entschied sich für die Polit-Wissenschaft, ich blieb Schreibsklave auf den Spuren unorthodoxer, wo nicht linker Vorfahren von Platon / Aristoteles bis Marx und Bloch, und stets mit Trotzki im Blick. Platon war dreimal von Athen zum Tyrannen nach Sizilien gereist, wo der Versuch, seine Philosophie praktisch, also PRAXIS werden zu lassen, feindselig abgewiesen wurde. Das Ende der Philosophie, ihr reales Scheitern zog sich, wie einzuräumen ist, etwas hin und dauerte fast zweieinhalbtausend Jahre. Karl Marx, der sich nicht Marxist nennen wollte, ist mit seiner Philosophie der Platon des 20. Jahrhunderts, das exakt mit dem ersten Weltkrieg begann, als ganz Europa der Kriegstyrannei verfiel – ein Sonderfall ergab sich erst mit dem heutigen roten China, einem Land, das hart von außen bedrängt wird und zugleich an der Überwindung innerer Tyranneien arbeitet. Niemand weiß, wie dieser Versuch inmitten programmierter Feindschaften enden wird. Die neuen Kapital- und Religionskriege konstituieren einen universell chaotischen Endzustand, als dessen Vorankündigung jener Christus, ewig am Kreuze hängend, gelten könnte. Besseres bringen bisher weder die religiös Gläubigen noch die ungläubig Wissenden zustande.
Dazu eine nahezu analytische Anekdote unseres saarländischen Freundes Michael Mansion: »Treffen sich zwei Moslems und unterhalten sich über Weltpolitik. Sagt der eine: ›Hast du gewusst, dass die deutsche Regierungschefin eine Pfarrerstochter und der deutsche Bundespräsident sogar ein Pfarrer ist?‹ Der andere ist höchst erstaunt und antwortet: ›Respekt – ein Gottesstaat.‹« Inzwischen trifft unsere Überschrift zum Nachwort 52 immer mehr ins schwarze Zentrum. Merkel spielt mit Putin Mühle statt Schach, Platon, der alte Grieche besucht die Kanzlerin dreimal in Berlin, wird aber nicht empfangen, die stärkste Frau der Welt hält einer der Kiewer Großfürsten besetzt, der noch mehr Waffen und Geld braucht als Athen, das solange mit deutschen Krediten deutsches Kriegsgerät kaufte, bis der Troika die Akropolis-Ruine als letzte Sicherheit angeboten wird. Das alles spielt im deutschen Fernsehen als Comedy, während nebenan in Paris Satiriker ernstgenommen und abgeknallt werden. Wie glücklich kann nun Pegida im Blut der Mordtaten baden.
In hessischen Volkshochschul- und Bildungskreisen geht es neuerdings um »Die Wirklichkeit der Wirklichkeit«, die unsicher ist, denn: »Wer bin ich wirklich?« Und: »Wir nehmen die Realität nicht wahr, wie sie ist, sondern wie wir sind.« (FAZ 2.1. 2015) Der Wirklichkeitsverlust zeigte sich mit dem Ersten Weltkrieg und führte mit dem Zweiten zum zweiten Dreißigjährigen Krieg. Das anhaltende Elend und Ende der Philosophie verlängert die Geschichte Richtung Hundertjähriger Kriege, wie wir tagtäglich erfahren müssen. Ein rundes Dutzend Jahre predigte die vereinigte Avantgarde deutscher Polit-Intellektueller in Talkshows die Notwendigkeit des Afghanistan-Krieges. Jetzt ziehen sie geschlagen ab. Aber nicht ganz. Wie mit der USA im Irak und sonstwo geht es munter hin und her. Schämt sich da einer der Mitläufer? Wer ist noch kritisch, selbstkritisch, korrekturbereit. Angst herrscht vor der Revolution. Die Revolution der Straße ist konterrevolutionär geworden? Wie wäre es mit der Revolution der Köpfe? Unser pragmatischer Ratschlag, ob gefragt oder nicht, ist nachlesbar in Sklavensprache und Revolte, Seite 317:
Klassischer Epilog: Das beste ist, nicht geboren zu sein, das Zweitbeste ist, früh zu sterben, das Drittbeste ist, dies Leben überlebenswert zu Ende zu bringen.
Der Epilog entstammt griechischem Kulturerbe, widerständig komplettiert und ein wenig zu pathetisch. Bleiben wir pragmatisch. Kaum hatte Gregor Gysi SPD und Grüne zu Gesprächen über künftige rot-rot-grüne Koalitionen aufgefordert, blaffte die SPD-Generalsekretärin aus dem Berliner Glashaus zurück, das sei absurd. Will diese Partei denn in ihrem Schandjahr 1914 verharren? Na dann bleibt doch schwarz verbandelt, bis ihr selber schwarz seid bis auf die Knochen. Als wir diesen Nachruf 52 starteten, beherrschten Ängste vor den kommenden griechischen Wahlen Politik und Medien. Inzwischen drängten Furcht und Schrecken wegen der Morde an den Satirikern von Charlie Hebdo diese Angstfaktoren in den Hintergrund. Millionen von Franzosen protestierten gegen die Attentate und sangen so tapfer wie geschichtsbewusst ihre Marseillaise. Am Brandenburger Tor protestieren Merkel, Gauck & Co ebenfalls, vermieden jedoch das Deutschlandlied, wohl in Sorge, die nationalistische 1. Strophe könnte mit erklingen. Zudem droht außer Hass auf Charlie die vielköpfige Pegida-Bewegung, deren Ziele so chaotisch sind wie die aktuelle Weltpolitik. Womit wir über Platon zu Aristoteles gelangen, dessen Sprach- und Begriffslehre zur kulturellen Praxis wurde, bis sie in den so verlogenen wie kriegerischen Unworten von heute ihren humanen Geist zu verlieren begann.
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