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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 10 |
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Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
Ludwig Wittgenstein
Die Sprache ist kein Kerker? Aber: Wer im Sprachkerker gefangen bleibt, verzichtet auf Zukunft
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Im Manuskript zum Buch Ärgernisse, erschienen 1961, hatte ich einige Abschnitte mit Phil-Interm. bezeichnet, was Philosophisches Intermezzo bedeutete und bei der Drucklegung verschwand, betraf es doch mehr den Autor als den Leser. Daran erinnere ich mich im Zusammenhang mit dem Begriff Nano-Philosophie, der anfänglich der Abkürzung im Gespräch diente, inzwischen aber dringlich geworden ist, wenn die zweite Stufe der Dekonstruktion fehlt. Die klassischen Feinheiten der Differenzierung verschwinden immer mehr aus der Politiker- Sprache. In der Sendung Hart aber fair verwarf ein gestandener Sozialdemokrat energisch den satirisch-witzigen Umgang mit Hitler, während ein jüngerer tv-Spaßmacher diese Art und Weise verteidigte. Den Dressler-Verweis, auch Oliver Pocher, der reichlich Dreißigjährige trage eine historische Verantwortung fürs Dritte Reich, lehnt der frohgemute Comendian prinzipiell ab. Hitler-Deutschlands Kriege und Verbrechen lägen vor seiner Geburt, wie könne er sie also verantworten? Die Frage blieb strittig. Erst eine Differenzierung hätte schlichten können. Keine Jugend kann für Geschehnisse vor ihrer Geburt Verantwortung tragen. Es sei denn, die pauschale Anmutung wird intellektuell aufgelöst und der einzelne Beteiligte übernimmt die Verantwortung bewusst und genau definiert im objektiven, nicht subjektiven Sinn.
Diese kulturkritische Nano-Philosophie ist so notwendig wie selten geworden. Nehmen wir nur Wittgensteins vielzitierten Satz Die Sprache ist ja kein Käfig. Wer den Ausspruch verabsolutiert, verkennt, dass die Sprache sehr wohl ein Käfig sein kann. Sonst wäre schon der Turmbau zu Babel nicht gescheitert. Oder nehmen wir Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. Wer allein auf den Titel-Begriff vertraut, missachtet den Ausgangspunkt tiefster existentieller Not und Verzweiflung samt der daraus resultierenden Revolutionsfrage. Wer sie jedoch stellt, wird von den Medien verdroschen. Das witterte schon ihr sensibler Jesus, der zeitlebens zwischen Pazifismus und Schwert schwankte. Da er sich für Pazifismus entschied, wurde er gekreuzigt und das Schwert siegt seither in seinem Namen. Hätte er das Schwert gewählt, wäre er auch ans Kreuz genagelt worden, nur hieße er dann Spartacus, Müntzer, Liebknecht, Luxemburg oder so ähnlich und wir wären genau so klug als wie zuvor. Nanophilosophisch führt die Spur über die Leibnizsche Monaden-Lehre – die Monade hat kein Fenster, ist aber nicht isoliert – zu Derridas Differenzdenken, dem wir Blochs Dialektik von marxistischer Dekonstruktion und neuem Konstrukt voranstellen, denn es begann 1927 in Berlin mit dem Kampfbündnis Brecht, Benjamin, Bloch gegen Heidegger, dessen Sein und Zeit die intellektuelle Linke aufschreckte als erblickten sie den Hitlerianer schon bevor er es von 1933 bis 1945 und darüber hinaus tatsächlich wurde. Sein Geist schritt ihm voran. Blochs Gegenschrift Erbschaft dieser Zeit, konträr zu Heideggers Zeit, konnte erst 1935 im Schweizer Exil erscheinen, reicht jedoch bis auf das Berliner Dreier-Projekt von 1927 zurück. Im Chaos des Krieges blieb Blochs neue Botschaft in dieser Erbschaft so unbekannt, dass sie erst in der DDR als umstritten eingeordnet und nicht gedruckt wurde. Das Buch steht quer zu allen Ideologien, mit denen Bloch in der Nachschrift zur Suhrkamp-Ausgabe von 1962 endlich offen und jenseits aller Sklavensprache abrechnen durfte. Das verschweigen die KP-Adepten.
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Konträre Epochenwerke und die Folgen
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Anfang März dieses Jahres bot die Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin zwei Themen zum Konflikt an: a) »Martin Heideggers Epochenbuch Sein und Zeit (1927)« und b) »Erbschaft dieser Zeit Ernst Bloch und seine Moskauer Kontrahenten 1935/36«. Wir kamen im www.poetenladen.de mehrfach darauf zu sprechen. Die Kontroverse der dreißiger Jahre zwischen den Moskauer Kontrahenten und dem im US-Exil lebenden Bloch setzte sich in den fünfziger Jahren in Leipzig fort. Erstarrte Fronten hier wie dort. Fakten dazu in Die Expressionismusdebatte … von Hans Jürgen Schmitt, edition suhrkamp 1973, sowie Benjamin und Brecht von Erdmut Wizisla, suhrkamp tb 2004. Tragödie samt Trauerspiel dieser Feind-Freundschaften konnten noch nirgendwo zusammengefasst werden. Es fehlt an Courage der Zeitgenossen und Nachkommen. Sachsen, genauer Leipzig gibt seine Vorbehalte nur ungern auf. Das hat Gründe. Sie zählen zur Geschichte der Nano-Philosophie und ihrer Verleugner.
Die Frankfurter Rundschau, jetzt von der FAZ aufgekauft und damit wohl in absehbarer Zeit erledigt, war für unsereinen in den 60/70er Jahren bis zur 1989/90 ausbrechenden Einheit der Ort diverser, ausführlicher Linksdebatten. Anna Seghers, Georg Lukács, Ernst Bloch, Bertolt Brecht – vier rote Gespensterköpfe alle vereint auf einer Seite inmitten deftiger, saftiger Details. Tatsache, die FR, mit der wir uns oft auch anlegten, fehlt jetzt wie dem Reiter der Arsch. Mein beschwingter Parforceritt vom 20.10.1973 wäre heute undenkbar. Nicht nur die FR stirbt zentimeterweise. Die letzten Marxisten vegetieren in heftig schrumpfenden Veteranen-Vereinigungen dahin, bis auch sie und notfalls ihre Grabsteine vom Frankfurter Monopolblatt aufgekauft werden. Widerstand zwecklos? Bevor das Kapital sich endgültig selber erledigt, besiegt es seine Klassenfeinde, damit die Fahrt in den Untergang auch von keinem roten Signal und Bremsklotz aufgehalten werden kann.
Seit der Spiegel-Ausgabe 43/2012 wird der marginalisierten Pleißen-Metropole eine aufsteigende Tendenz zugesprochen. Erwächst also aus der verarmten Heldenstadt ein besseres Berlin? Der Vergleich hinkt. Sicher ist nur, die Gegend zwischen Pleiße und Völkerschlachtdenkmal existiert unter ihren Möglichkeiten. Hauptstadt der Träumer nennt das der Spiegel. Es gibt Wunsch- und Angstträume. Und Walter Ulbricht als sächsisches Welträtsel wie Herbert Wehner. Beide auf dem Weg zu Marx vorzeitig abgefangen. Der eine endete im Bonner Parlament, der andere in lebhaften Montagsdemonstrationen. Beide waren sie souverän genug, über den Ausnahmezustand zu verfügen. Der eine scheiterte an Adenauer, der andere an Honecker und Breschnew. Soviel zur gestrigen Teilungspolitik, heute gibt's stattdessen einen vereinten Status als gesamtdeutsches Abbruchunternehmen. Das ist eine Finanzfrage. Was braucht es Bibliotheken, Theater und Schwimmbäder, hat man genug Kampfflugzeuge, Schusswaffen und Panzer. Da spielen die aufeinander folgenden Kriegsverteidigungsminister den Clausewitz bis hin zum Hindukusch. Zum 70. Jahrestag seiner deutschtollen Sportpalast-Rede über den totalen Krieg, Jubel rechterhand, kehrt Goebbels zurück, hat drei Tage Höllen- oder Himmelsurlaub, statt der Engel regnet's Drohnen auf das taumelnde Erdbällchen.
»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« So beginnt die Luther-Bibel. Darauf folgt: »Und die Erde war wüst und leer …« Das wird sie bald wieder sein. Dazu Jacobi 4.1: »Wohlan nun ihr Reichen, weinet und heulet über euer Elend, das über euch kommen wird … Euer Reichtum ist verfaulet … euer Gold und Silber ist verrostet … und wird euer Fleisch fressen …« Pferde-Lasagne für Hartz-4-Empfänger empfehlen christliche Politiker, während die teuflische Linke höhere Steuern von den Vermögenden einfordert. Soviel zur Westkultur. Und was wird aus der Ostkultur?
In Westsachsen gruppieren sich an und um Mulde und Pleiße eine Anzahl Städte. Zwickau als die größte Stadt, zuletzt durch das Terror-Trio NSU in Verruf gebracht, ist das Zentrum, Glauchau, Meerane, Werdau, Crimmitschau bilden einen Kranz mittlerer Industrieorte mit den Schwerpunkten Textil und Metall, traditionell Bergbau von der Steinkohle bis zur Wismut, dazu vielerlei Kraftfahrzeuge. Die Städte entwickelten eine spezifische Landschaft von Arbeiterdörfern um sich herum. Das alles hat seine Geschichte. Schon Kaiser Barbarossa abenteuerte hoch zu Ross zwischen Altenburg, Chemnitz, Zwickau über Stock und Stein. Wer sonst noch alles zu nennen wäre, wird von uns genannt. Wer ungenannt bleibt, der hat es verdient. Dies ist eine Kulturgeschichte in erlebten Geschichten. So war es! behaupte ich und frag mich: War es so? Jedenfalls anders als es in den üblichen Geschichts-Schwarten verzeichnet steht. Ich weiß es. Die Pleiße war mein Mississippi heißt das 23. Kapitel. Das 1. Kapitel fragt: Wie kommt die Pleiße nach Leipzig? Und im 2. Kapitel fragen wir besorgt: Wird Sachsen bald chinesisch? Sachsen war industriell und politisch seit Ewigkeiten Spitze. In letzter Zeit fällt es ab als würde es nicht mehr gebraucht. Das aber ist falsch. Die meiste Zeit meines Lebens war ich zwar ein Auslandssachse, doch in einem Moment, als es mit sehr schlecht erging, hatte ich allen Grund, auf Sachsen stolz zu sein. Meine früheste Liebe zu Sachsen, das wurde schon in der 5. Folge erwähnt, entstand im fernen Russland. Der lange Fußmarsch in die russischen Gefangenenlager, es war im August 1944, wurde wüst unterbrochen, wenn sich zornige Soldaten und Offiziere auf die Straße stellten und wütend in die Reihen prügelten und schossen. Ein Offizier der Roten Armee fragte jeden unheildrohend, ob er ein Deutscher sei. Die Gefangenen antworteten erschrocken ablehnend. Es gab plötzlich nur Österreicher, Polen, Tschechen, Saarlandfranzosen, Elsaßfranzosen, Dänen, Ungarn.
Als ich dran war und der rachedurstige Offizier, seinen Zeigefinger auf meine Brust setzend finster sein Du Fritz, Du Njemse? hervorstieß, nickte ich wortlos, was ihn verblüffte. Die Frage nach dem Woher fiel weniger barsch aus. Ich bin aus Sachsen! erwiderte ich. – Saxonia? Der Russe umarmte mich unter einem Schwall von Worten. Offenbar drängten sich ihm aus der Parteigeschichte proletarische Assoziationen auf. Sachsen und die Arbeiterbewegung – ich stieg auf für ihn zum Genossen. So ging es gut für mich aus und hätte übel enden können. Ich war es leid, mein Land zu verleugnen, auch wenn es in dieser Zeit ein Kreuz zu sein schien, an das wir angenagelt hingen.
Der Schriftsteller Wolfgang Eckert schickt aus Meerane seine zuletzt publizierten zwei Druckwerke: Das ferne Leuchten der Kindheit – Prosa, und Rettet die Clowns – Lyrik. (Mironde Verlag, 2011). Sind das Nachrichten aus versinkenden Provinzen? Artikuliert sich das alte Land noch und gibt sich als neues? Dort unten das Dorf: Ein Kind in der Wiege./ Die Berge schaukeln es sanft in den Schlaf./ Es ist, als hätte es all diese Kriege/ nicht gegeben. Daß es sie nie betraf. Auf Seite 19 steht ein Gedicht mit dem Titel:
Im Zorn
Tage gibt es voller Zorn.
Im Herzen sticht ein wilder Dorn.
Und die Galle übervoll
züchtet einen tiefen Groll …
Deshalb beschließt man ganz erschlagen,
den Zorn in sich still zu ertragen.
Da bricht er ab, der Dorn, der wilde.
Die Menschheit sieht man wieder milde.
Ein sächsisches Charakterporträt? Der verbrauchte, verrauchte Zorn. Ich fühle mich betroffen. Ach was, erschossen. Nein, zu stark. Angeschossen. Warum gibt es nicht anbetroffen? Und das lyrische Teufelchen kündet auch noch aus Meerane: »Kürzlich las ich in Neukirchen und fuhr heimwärts am Gablenzer Teich vorbei und dachte, hier hat einst der kleine Gerhard Steine hineingeworfen oder ist selber gesprungen. Herzliche Grüße von Wolfgang.« Heimatliche Pfeile, genau ins alte kalte Herze gezielt. Der Kontext beider Bände, die alles andere als gute Nachrichten aus der Provinz bieten, lässt argwöhnen, was der Dichter auf Seite 134 notiert: Wäre ein Buch wie das tägliche Brot, gerieten, die nicht lesen, in große Not. Das ist wieder so ein dichter Schwerenotsatz. Wir nehmen den roten Faden auf: Es droht das Ende des Buches? Der letzte Leser sucht es. Solange sich Sachsen via Meerane so stilsicher meldet, haben die Feinde noch nicht obsiegt.
Tage gibt es voller Zorn – Wolfgang Eckerts Worte aus Meerane bringen mich auf die Existenz von Pseudonymen – die Vorstellung, doppelt oder mehrfach zu leben ist so schön irre. Wolfgang fährt an den Teichen meiner Kindheit in Gablenz vorbei. Ich sehe ihn als wäre er ich und gebe meinem Pseudonym Gert Gablenz die Zügel frei zum Ritt übers Land. Wenige hundert Meter von den Teichen entfernt lag ein Dutzend Bücher meiner Kindheit im Wald vergraben. Am Weißbach trafen sich 1933/34 die letzten Genossen. Sie bildeten den ersten sächsischen Widerstand. Nach einem Jahr flogen sie auf. In meinen Büchern und in der Folge 84 hier im poetenladen wird darüber berichtet. Wolfgang schlägt den Brückenbogen über Jahrzehnte zurück ins verlorene Land. Dieses erlebte Sachsen bleibt mir erhalten. Der heftige Marx-Nischel in Chemnitz wie auch das stille Karl-Liebknecht-Haus in Leipzig bezeugen die vergangene Arbeiterbewegung wie das Völkerschlachtdenkmal die Kriegsfurien. In diesem Teil Sachsens erkämpfte die Arbeiterbewegung, bevor sie verboten wurde, ein Stück Heimat. Zwischen Pleiße und Elbe gab es SPD, KPD, SAP, und weil sie zusammen nicht fanden, tobten Ritter, Tod und Teufel durchs Land. Die biblischen Gestalten bis zu Luther und Münzer waren geblieben. Sie sind wie wir mit wechselnden Volksfronten immer dabei. Stichwort Volksfront:
Im Rückblick auf die großen Projekte linker Intellektueller, die sich 1935 trotz aller Gegensätze zur Anti-Hitler-Front zusammenfanden, erscheint unser heutiger Zustand weniger passabel. Wolfgang Eckerts Buchtitel Rettet die Clowns trifft das Zeitalter mitten ins Unbewusste der Herzkranzgefäße. Sind die Clowns noch zu retten? Was aber, wenn wir keine Spaßmacher, sondern blinde Monomanen vor uns haben? Der Blick in die Wirtschafts- und Finanzartikel ihrer Zeitungen legt den Verdacht nicht nur nahe, sondern beweist ihn.
Die Doktorarbeit von Marx, seine 11 Feuerbach-Thesen und die Analyse zum tendenziellen Fall der Profitrate bilden drei Eckpunkte seiner originalen Theorie. Der dritte Eckpunkt, zugleich richtungweisend im Hauptwerk Das Kapital, ist bei Freund wie Feind stark umstritten. Weist die Profitrate ständige Falltendenz auf, ist das Kapital aus inneren Gründen rettungslos erledigt, andernfalls könnte der Kapitalismus gerettet werden. Die SPD entschied sich dafür, indem sie sich im Godesberger Programm vom frühen Marxismus Bebel-Liebknechts verabschiedete, die kommunistischen Parteien verharrten auf orthodoxem Kurs. Das Problematische dieser Lösung wurde in der DDR zwar behandelt, doch strikt parteilich entschieden. Wer dem nicht folgte, nahm Schaden. Exakt am 14.3.2013, Marxens Todestag von 1883, fragt Neues Deutschland auf Seite 1: Gilt das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate noch? Gut gefragt, Genossen, spät kommt ihr, doch ihr kommt. In derselben Ausgabe urteilt der frühere nd-Chefredakteur Jürgen Reents in einer kenntnisreichen, einfühlsamen Kolumne über Karl Marx: »Er hätte es nicht ausgehalten …« Was ist gemeint? Unser Versagen als Oppositionelle? Immerhin sind wir viele und wir haben es versucht. Dass in Deutschland stets die Rechte siegt und die Linke unterliegt, mag weniger verheerend wirken, wenn wir bedenken, welche beachtliche Zahl von Menschen sich nicht immer und auf ewig besiegen ließ. Die KP-Genossen sahen sich einst im Überschwang als stärkste der Parteien. Alle Freidenker, Enttäuschten, Ausgeschlossenen, Verfolgten, Renegaten und Oppositionellen zusammengerechnet ergäben eine Volksfront des 3. Weges, der zu finden, wo nicht zu erfinden bleibt, nachdem der 1. Weg des Kapitals und der 2. der Sowjetunion nur in Krisen und Kriege führte und führt. Was also geschieht, wenn die Profitrate ins Bodenlose fällt?
Rudolf Hickel, Prof. Dr. Marx-Kenner und Bekenner, den Klassiker am 19.3.2013 in der FAZ per Leserbrief gegen Unwissende verteidigend, demonstriert zugleich kritische Distanz zum Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Unser Vorschlag zur Güte: Ersetzen wir die Profitrate kurz und bündig durchs Euro-Abendland. Und schon stimmt der tiefe Fall.
Wolfgang Eckerts Gedichtband enthält eine Widmung, die uns anrührt:
Meine fröhliche Antwort:
Aus dem Leben eines Clowns (1990)
Ich danke der Partei, dass sie mich,
den Zweiunddreißigjährigen fort-
prügelte in den Westen. Ins Wasser
geworfen lernte ich schwimmen.
Die zweiten zweiunddreißig Jahre
meines Lebens verbrachte ich vor
der Schreibmaschine, den Zensoren
entkommen. Dank der Partei.
Langsam starben die Freunde dahin.
Die alten Linksintellektuellen,
jüdische Emigranten, Remigranten.
So vereinsamte ich ins Rentenalter.
Die Kollegen um mich herum lobten
den Sozialismus, hofierten seine
Dichter und ließen sich hofieren.
Dankbar schaffte ich mir einen Hund an.
Die Frau, der Hund, der Mann durch-
streifen die Wälder des Hochtaunus.
Gekennzeichnete Wanderpfade führen
vom Weg ab ins Nebenbei.
Der Hund schnüffelt und bringt mit
Sicherheit uns zurück zum Haus.
Abends haben wir ein Dutzend tv-Programme.
Vielmäulig beklagen die Dichter ihr Los.
Was ein Glück, sagt die Frau, unser
Chow führt nie in die Irre. Beißt
selten. Und nur die Richtigen. Ich
kraule den Chow und erkläre ihm das Fernsehprogramm
Wolfgang Eckert erinnert mich an die Gablenzer Teiche meiner Kindheit. Das waren die zwanziger-dreißiger Jahre. An den Anfang der neunziger Jahre erinnert das Wurzener Tageblatt vom 25.10.1991:
Zum Auftakt 1991 in Wurzen. Zwei kleine Sachsen, noch guten Mutes befreundet, wollen helfen, Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden. Das stürzt die Profitrate ins Bodenlose. Panzer und U-Boote erst lassen die Profitrate steigen. Wirtschaft, Horatio, am besten Rüstungswirtschaft.
Die steigende Profitrate (1992)
Als der Krieg aus war dachte ich er sei aus.
Am Tag darauf begannen sie mit ihren Manövern.
Generäle holten sie aus dem Kühlschrank.
Stiefel aus dem Beinhaus. Die Fahne aus dem Versteck.
Von den alten Worten strichen sie jedes zweite durch .
Dann jedes dritte, vierte, fünfte. Endlich
wurde der gesamte Wortschatz wieder eingezogen.
Die Söhne der Krieger probten den aufrechten Gang.
In den modernisierten Wirtshäusern berichteten die
Drückeberger von ihren siegreich verlorenen Schlachten.
Heldenfriedhöfe wurden illuminiert. Ein Bundeskanzler
lieh seinen Händedruck und die nachgeborene Einfalt.
Kriegsauszeichnungen zogen an im Kurs. Wer zweimal
verlor, schwört auf den dritten Sieg. Der Tiger
heißt nun Leopard. Die Messerschmidt Starfighter.
Die Artillerie besteht aus munteren Atomkanonen.
Der eine Oberleutnant war jetzt Bundeskanzler.
Der andere Ministerpräsident. Ein Hauptmann hielt im
Bundestag feierlich die Heldengedenktagrede.
Vom Himmel herunter nahm ihr Oberbefehlshaber
die Parade ab. Er trug Zivil. Und ein Loch im Kopf,
Das Zeitalter der schönen Selbstmorde hat begonnen.
Dem Marxismus ohne Revolution folgt die
Erde ohne Menschen.
Soeben trifft aus London vom adleräugigen Weltbürger Andreas W. Mytze Heft 154 seiner grandiosen Reihe europäische ideen ein. Zwischen Trauerreden auf den jüngst verstorbenen Gerhard Schoenberner wird einiger anderer Autoren gedacht, so zum 100. Geburtstag des streitbaren Lausitzer Poeten Peter Jokostra. Zwischendrin meine bisher unveröffentlichten Nachrichten des letzten Sachsen an die lausige Nachwelt. Wir sind Tote, deren Urlaub endet. Soviel zur fallenden Lebensrate.
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