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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 20 |
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Vorwärts in den Club der toten Dichter – 1
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Terrakotta
Gerhard Zwerenz
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In grauen Vorzeiten, als die taz gerade mal entstand, wurden Autorinnen und Autoren gebeten, für das neue grüne Blatt zu schreiben, wenn möglich honorarlos als Spende und Starthilfe. Jetzt erinnert mich die Zeitung daran, da schreibt der taz-Kolumnist und pseudonyme Blog-Verfasser Helmut Höge:
Hier spricht der Aushilfshausmeister!
taz.de-24.07.2013
„Ehret eure lebenden Dichter, denn sie werden lange tot sein!“; hatte bereits Gerhard Zwerenz dem Publikum 1981 empfohlen.
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Dankeschön, ich hatte das wohl vergessen. Was denn vergessen – tot zu sein? Vor mir liegt ein eben hervorgekramtes Foto, Text auf der Rückseite: »Gerhard Zwerenz – Plastik in Terrakotta von Antje Michael Marburg- Großfelden.« Als Motto folgt der Spruch von den lange toten Dichtern, an den die taz in diesen Tagen erinnert. Wie doch die Zeit vergeht. Oder/und wiederkommt. 1984 spendete ich der taz mehrere Artikel und ein Gedicht, genannt Loser Zuspruch, darin heißt es: …
Die Westberliner taz hat in meinem Herzen
ihren festen Platz.
Ich lese sie von Zeit zu Zeit ganz gern
als käme sie von einem andern Stern…
Und dann so mancher Leserbrief
ganz ohne Quark und Mief…
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Verweist die taz auf 1981, gehe ich noch ein Jahr weiter zurück. Da gab es das avantgardistische BrennGlas von Juergen Seuss und Herbert Heckmann. Im Heft 1 vom August 1980 finde ich, was mir damals zum Wahlkampf einfiel:
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Es ist wiedermal Wahltag. Gibt es den aufrechten Wahlgang? Es müsste nicht alles so sein wie es ist. Allerdings: »Auch der aufrechte Gang ist gefährlich.« So der nörgelnde Leserbrief eines Professors in der FAZ vom 30.7.2013. Es gibt zu viele risikoscheue Bedenkenträger, die dagegen sind »den aufrechten Gang einzuführen.« Der ist aber gar nicht einführbar, man muss nur losgehen. Das ist das wahre Risiko. Selbst Ernst Blochs Sohn Jan Robert äußerte sich per SINN UND FORM 1991 im Mai-Juni-Heft skeptisch: »Wie können wir verstehen, dass zum aufrechten Gang Verbeugungen gehörten?« Friedrich Dieckmann suchte seinen Freund Jan brieflich zu beruhigen, wir gehen in Sklavensprache und Revolte, Kapitel »Der Mord an der Philosophie« ausführlich darauf ein. Stichwort »Aufrechter Gang«. Die schöne Verbalie entlieh sich sogar F.J. Strauß 1987 in seinen donnernden Wahlkampfreden und forderte, endlich »aus dem Schatten des Dritten Reiches und aus dem Dunstkreis Hitlers herauszutreten.«.So die Rede der Hineintreter.
Vermerk in meinen damaligen Notizen: Kein Tier hat mehr Tiere umgebracht als der Mensch. Kein Tier hat mehr Menschen umgebracht als das Tier Mensch. Wenn der Mensch erst und immer noch im Werden begriffen ist, wie Ernst Bloch es optimistisch formuliert, hängt das von mehreren verursachenden Faktoren ab:
1. Werkzeug – 2. Sprache – 3. Aufrechter Gang. Das Tier tötet aus Hunger. Der Mensch fügt dem Hunger den Gewinn und Erhalt von Macht über Mensch und Tier hinzu. Sein Werkzeug ist die Waffe inklusive Sprache. Solange sie Wort, Begriff und angezieltes Objekt verbindet, gibt es keinen Konflikt. Der Baum ist ein Baum, Schmerz ist Schmerz und Stein ein Stein. Der Konflikt beginnt, wenn die Sprache von der Benennung des Einzelnen zum Allgemeinen übergeht. Gott als oberste Allgemeinheit wird zum Dämon, indem er Menschen in Gläubige und Ungläubige, also Feinde unterteilt. Der aufrechte Gang wird vom Schwertträger missbraucht. Das Tier hat die Pfote dafür nicht frei. Und keine Götter außer den Menschen über sich.
Drei Tage in Berlin und anderswo im Versuch des aufrechten Ganges:
27.11.1956: Johannes R. Becher fährt nach Leipzig, um mit Bloch und uns die prekäre Situation nach Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU zu erörtern. Paul Fröhlich weiß das Treffen zu verhindern. Der Kulturminister Becher kehrt deprimiert nach Berlin zurück.
28.11.1956: Ob Becher mit Walter Ulbricht kommunizierte oder Ulbricht nur von Fröhlich über den Leipziger Verlauf informiert wurde ist nicht bekannt. Ulbricht fühlt sich jedoch bestärkt, die Oppositionellen lahmzulegen. In einem Brief an Fröhlich ordnet er Maßnahmen gegen Bloch und das Philosophische Institut in Leipzig an.
29.11.1956: Wolfgang Harich kehrt aus Hamburg nach Ostberlin zurück und wird noch am Abend verhaftet. Seine Gespräche mit Rudolf Augstein u.a. und seine Kontakte zum Ostbüro der SPD verleihen den anlaufenden speziellen Repressionen einen legalen Charakter. Die drei Tage in Berlin, Hamburg, Leipzig bestimmen das weitere Schicksal der DDR. Die von Fritz Behrens vertretenen ökonomischen Reformpläne werden verhindert, er wird wie Bloch ins Abseits verbannt, von wo kein Einspruch mehr erfolgen kann. Ulbrichts späterer Versuch, die Restalinisierung mit Hilfe der NÖP – Neue Ökonomische Politik – zurückzudrehen, erweist sich als zu schwach und beginnt zu spät. Von den Behrensschen Wirtschaftsreformen verblieb kein Viertel, von Blochs Philosophie nichts.
Vor kurzem korrigierte ein Fernseh-Journalist während eines Interviews meine Bemerkung, dass Karrieren meist zur Negativauslese führten, mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit höherer Funktionen. Das ist die übliche Ansicht, mit der technische Abläufe und Macht-Hierarchien in eins gesetzt werden. Das Wort Karriere ist verknüpft mit der Karriere-Leiter, mithin Aufstieg, Höhe, gesteigerte Macht, auch abseits des Fachgebiets, wo Leistung als ständige Forderung dominiert. Karriere verdirbt den Charakter, weiß der Volksmund. Obama war vor seiner Präsidentschaft ein anderer als heute. Nicht nur Menschen, auch Ideen machen Karriere. Marx wurde als Stalin Weltmacht und als Gorbatschow ein tiefer Fall. Lass' abtropfen, sagte ein alter Kupferschmied in meiner Lehrzeit, wenn die Atmosphäre hitzig wurde und Aufgeregte eine innere Dusche benötigten.
Das sonore und lang nachhallende 3-Tage-Drama des Jahres 1956 lebt von den Affekten und Gefühlen der Darsteller als käme es direkt aus der aristotelischen Poetik. Becher trägt schwer an seinen Erfahrungen im Moskauer Hotel Lux, sympathisiert heimlich mit uns, hat Angst, riskiert etwas und erfindet das postrevolutionäre Leiden wütender Resignation. Harich will die Wiederholung eines 17. Juni wie im Jahr 1953 verhindern, schreibt und redet sich um Kopf und Gesundheit. Ulbricht leidet seit Chruschtschows abrupter Absage an Stalin und spielt den Odysseus mit Durchfahrt zwischen zwei Ungeheuern. Augstein schätzt deshalb Ulbricht, den Harich weghaben will und dafür in Bautzen landet. Zugleich wird Behrens repressiert. Bloch soll als pensionierter Hausmann enden und sucht die Revolution von Tübingen her fortzusetzen. Die Bonner Republik aber ist längst von Adorno-Horkheimer samt Freunden und Schülerscharen besetzt worden, die eine remigrierte Linke solange repräsentieren dürfen, bis die schwarzbraunen Eliten wieder offen agieren konnten. Erst mussten noch die 68er, von Adorno enttäuscht, auf die Straße gehen und abgeschmettert werden.
Vom Osten in den Westen gelangt, genoss ich die phantastische Aufbruchs-Atmosphäre in Köln, München, Frankfurt am Main. In Leipzig war unsere kleine Rebellion eben zerschlagen worden, im Westen dauerte es etwas länger. Im Kölner Polizeipräsidium erhielt ich einen Vorgeschmack davon, als mir gesagt wurde, ich sei wohl »ein Kommunist wie Brecht und Böll«. Da fühlte ich einen Anflug von gesamtdeutschem Stolz. Im Osten verfolgt, im Westen gleich auf Distanz abgesondert. Aber: Lass abtropfen, Junge. Heute weiß ich, es begann bald wieder die Zeit der toten Dichter.
Vor den Dichtern stirbt die Revolution. Seit 1848 ging jede deutsche Revolution verloren. Jeder Krieg der Deutschen war ein Krieg der Rechten. Die Linke wurde vorher besiegt oder unterwarf sich. Heute dient die Linke als Supermarkt. Die Linkspartei ist treuherzig um optimal zeitgemäße Aufklärung bemüht. Die leckersten Stücke vom Kuchen holt die SPD ins Willy-Brandt-Haus, wovon Merkel sich prompt nochmal soviel abschneidet, dass ihre konservativen Knurrhähne die Sozialdemokratisierung der CDU befürchten. Den Rest besorgen Spaßmacher und Hofnarren. Wenn aber ein aufrechter Kabarettist, der noch nicht zu den Comedians der Hofclownklasse überlief, tatsächlich auf die Pauke haut, begreifen wir, das ist die einzig noch verbliebene Opposition. Unser Vorschlag: Leiht Angela Merkel samt Gerhard Schröder an die kriselnden Euro-Länder aus, damit sie so zufrieden sein können wie wir samt der DDR-Hinterbliebenen, die alles schon hinter sich haben. Die fehlenden x Billionen in den Kassen müssen dann nicht allein die deutschen Nachkommen zahlen. Wo aber nicht, heißt es bald: Schuldenland ist abgebrannt.
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Heft 155
Unter vielen anderen Meinungen:
Zwerenz über Kunze und fehlende Indianer
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Zum 3-Tage-Drama von 1956 passt die aktuelle Nachricht aus London. Andreas W. Mytze, unermüdlicher Herausgeber der europäischen ideen, mailt von der Themse:
Soweit Mytzes Mail vom August 2013 über Harich im August 1990. Wer darüber mehr wissen möchte findet es auf Seite 1 im Nachwort 46 vom 30.10.2010: »Dekonstruktion als Kriminalgeschichte 1«
Worum es dabei geht, wissen heute nur noch die letzten Überlebenden samt einigen Fach-Historikern. Die Vergangenheit wurde zur Manipulation, Adenauer war Widerstandskämpfer, die DDR war Stasi und sonst gar nichts. Unterdessen erfährt man von ganz neuen Erkenntnissen. Am 25. Juli 2013 druckt die FAZ unerschrocken eine Passage aus dem Buch Republik ohne Würde des Wiener Autors Armin Thurnher, der ungescheut fragt: »Hat Würde noch öffentlichen Rang?« Schlusssatz voll in die Fratze der Heuchler: »Wer aber Würde einfordert, hat schon verloren: Würde kann nicht gewährt werden; sie ist einem gegeben, aber nur, wenn man sie sich erkämpft. Darauf können sich sogar Niklas Luhmann, Ernst Bloch und der Papst einigen.« Ein toller Dreier, dazu tollkühn formuliert. Wie aber wird aus dem aufrechten Wort der aufrechte Gang? Als Jesus seinem Herrn Papa gehorchend zum Christus mutierte, folgten Folter und qualvoller Tod am Kreuz. Hätte er es als Jesus beim schönen Wort belassen statt die Menschheit erlösen zu wollen, gäbe es an Stelle der Weltmacht Christentum höchstens einen Jesus-Gedenk-Verein. Der Mensch aber will Mord, um glauben zu können. Erst der Gläubige wird frei zum ständigen Töten für seine gute Sache. Der böse Andersgläubige muss guten Gewissens mit Gewalt zur Raison gebracht werden.
An dieser Stelle erweitert sich der Titel Vorwärts in den Club der toten Dichter. Außer den Dichtern kommen die Philosophen ins Endspiel, neuzeitlich Intellektuelle geheißen, was leicht irritiert, weil die intellektuelle Elite zur handgezähmten Intelligentsia des Funktionsbeamtentums verdirbt. Womit wir so lässig wie schlüssig zur DDR zurückkehren, deren gemächlicher Niedergang über die deutsche Vereinigung 1989/90 zum Aufstieg und Abstieg der Berliner Republik führte, bis sich am Horizont unübersehbar Weimar zwo abzeichnet.
Am 5.8.2013 wird im FAZ-Feuilleton schon wieder Ernst Bloch genannt – sogar zweimal. Hin und wieder pflücken die Herren den Geist wie rotgereifte Kirschen vom Baum. Richtig heimisch jedoch fühlen sie sich am 17.7.2013 in Stahlgewittern unter der Riesenlettern-Fangzeile: Carl Schmitt auf dem Zauberberg. Oder ist es der Blocksberg? Den besuchen die Hexen. Regie Richard Wagner, dessen Opern-Helden auch Ernst Jünger, Heidegger, Schmitt heißen könnten, traute ein Regisseur sich soviel Naturalismus zu.
Des alten Roms Aufstieg und Untergang sind zwei genormte Phasen einer Entwicklung. Nach dem Ende der Sowjetunion spielt Washington das antike Rom. Die Deutschen, die zweimal vergeblich zur Weltherrschaft strebten, ließen sich für den Kalten Krieg anwerben und stehen für neue heiße Kriege zur Verfügung wie vordem in Kaisers und Führers Reich. Kämpfen können sie. Siegen auch. Bis zur fälligen Niederlage.
Heraklit lehrte, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil das Wasser verrinnt und sich ständig ändert. Platon aber ging dreimal zum Tyrannen Dionysios nach Sizilien, obwohl er dort statt des angestrebten Gesprächs nur Verfolgung erfuhr. Dreimal in denselben Fluss springen oder dreimal zum Tyrannen gehen sind zwei Versuche, die misslingen. Es gibt eine dritte Möglichkeit. Am 4. August 2013 wurde unweit von Smolensk ein großer deutscher Soldatenfriedhof für 70.000 Gräber mit bis jetzt eingesammelten 30.000 Skeletten eröffnet. Reicht es für den Rest an alten Gefallenen oder werden neue gebraucht? Kriegsverteidigungsminister Thomas de Maiziere reiste an und redete von Ehre und Versöhnung. Die FAZ darüber: »Die Spuren des Krieges bleiben.« Ich rechne den Minister dazu. Und setze Ernst Bloch als letzten Antikriegs-Philosophen dagegen. Dazu ein kleines Liedlein, das gerade 30 Jahre alt wird.
Die Venusharfe, Knaur, München 1985
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