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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 51 |
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Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
Der Weihnachtsmann kam in Thüringen 2014 schon am 5. Dezember und heißt Bodo Ramelow. Er ist gebürtiger Christ gleich dem Bescherungsheiligen, doch bartlos und frisch rasiert wie kein Himmelsabgesandter, dazu auch noch links, was immer das heute bedeuten mag, weshalb ihn die Ab- und Ungewählten nicht als gute Gabe anerkennen mögen. Große Teile der CDU halten ihn für den aus dem vermaledeiten Russenreich hergeschneiten Väterchen Frost. Bodo R. ist für sie und ihresgleichen Das Signal aus Erfurt, das Thüringen verantwortungslos zum Experimentierfeld macht, Ramelow ist zugleich ein kleiner Frosch, allerdings auf einmal riesengroß, so die Edelfedern im ersten Schreck. Den üblichen Schimpf aus dem völkischen Sumpf zu zitieren ersparen wir uns nicht nur aus Geschmacksgründen. In der Tat deutet sich in Thüringen ein nicht ungefährliches Hetz- und Gewaltpotential an, das zu minimieren Ramelow die friedliche Revolution von 1989 geradezu rituell beschwört. Doch die Revolution ist keineswegs gesichert, der friedliche Verlauf den damals schwerbewaffneten, aber nicht eingreifenden Kräften zu verdanken, was gern vergessen wird. Die Dreierkoalition von SPD, Grünen und Linkspartei einigte sich im verbalen Verdikt auf das Mantra der DDR als Unrechtsstaat, was den Vergleich mit der Weimarer Republik nahelegt, wie wir ihn bereits am 14.4.2008 in Folge 30 unserer poetenladen-Serie skizzierten: Am 22. Oktober 1923 ließ Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) die Reichswehr nach Sachsen (und Thüringen) einmarschieren, um die sozialdemokratisch- kommunistische Koalitionsregierung in Dresden unter Ministerpräsident Erich Zeigner (SPD) zu stürzen. Das war der Sachsenschlag in vorauseilender Parallele zum Preußenschlag von 1932. Denn Befehl ist Befehl. Deutschland musste vor der Volksfront gerettet werden. Erich Zeigner, 1923 von Eberts Reichswehr abgesetzt, weil er zwei Kommunisten in seine Regierung aufgenommen hatte, kam unter Ebert in Haft, unter Hitler in Haft und KZ und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1949 in Leipzig, wo er für die Vereinigung von SPD und KPD arbeitete. Als gebürtiger Erfurter, der in Leipzig aufwuchs, zählt er zu den Klassikern der sächsischen Arbeiterbewegung – vielverfolgt und dennoch aufrecht. Ich diagnostiziere mit der einem Sachsen naturgemäß eingeborenen Nüchternheit: Wir wurden seit 1923 pausenlos von einander abwechselnden Parteien und Militärs besetzt. Auf Ebert-Geßlers Reichswehr folgten Hitlers Wehrmacht, Stalins Sowjetarmee, Ulbrichts Volksarmee, Kohls Bundeswehr. Sollten wir's zur Abwechslung nicht mal mit den Pazifisten versuchen, auch wenn Bruder Broder das nur für einen Kaffeenachmittag zulassen will und Prof. Baring uns das Sterben zu lernen empfiehlt …
Erich Zeigner: Dresdner SPD-Ministerpräsident von Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) 1923 durch die Reichswehr wegen Volksfront-Politik gestürzt worden
Friedrich Ebert: Reichsexekution gegen Thüringen und Sachsen
Als gebürtiger, wenn auch westwärts verlorengegangener Sachse erlaube ich mir, die 1923er Reichsexekution gegen Sachsen (und Thüringen) ebenso abzulehnen und historisch anzufechten wie den 1932er Preußenschlag als direkte Vorleistung für Hitlers Machtantritt von 1933 zu bewerten. Die industrielle, wirtschaftliche und politische Entwicklung Sachsens lief von 1918 an auf eine revolutionäre Modernisierung hinaus, was die Ebertsche Sozialdemokratie mit Hilfe der Reichswehr verhinderte. Ich muss nicht den freischwebenden Literaten und seine phantasievolle Ausdrucksfreiheit zu Hilfe rufen, um in den Sachsen, die der DDR ihren Stempel aufdrückten und in Berlin als 5. Besatzungsmacht galten, ein Art geschichtlicher Rächer zu sehen, Walter Ulbricht, Herbert Wehner und abertausend Genossen inklusive.
Eberts sozialdemokratische Reichsexekution traf außer Sachsen auch Thüringen, das sich davon nicht erholte. Neulich zeichnete der Wissenschaftspublzist Gerhard Wagner die schwarzbraune Linie nach: 1926 erster Reichsparteitag der NSDAP in Weimar. Baldur von Schirach gründet dort 1930 die Hitlerjugend, Wilhelm Frick wird Deutschlands erster Nazi-Minister, Fritz Sauckel macht als Thüringer Gauleiter Karriere, Mussolini, Goebbels, Hitler reisen fleißig an und ab, als gelte es die Weimarer Verfassung auch noch an dem Ort abzuschaffen, wo Eberts Reichsexekutive schon 10 Jahre vor 1933 gewirkt hatte, als sei Eberts Nachfolger Hindenburg bereits Reichspräsident gewesen und der Tag von Potsdam als Tag von Weimar vorfristig abzuleisten. Hitler übernachtete mehr als vierzigmal in der Führersuite des berühmten Hotels Elephant. Nietzsches Schwester Elisabeth wiegte ihn in den Schlaf und ihrer beider Wille zur Macht illuminierte Buchenwald zum deutschen Märchenwald der Brüder Ingrimm – lauter Horrorfiguren mit Goethe als Monster, das die 56 000 Buchenwaldtoten dem Doktor Faust schenkt, der sie an Mephisto weiterreicht, von dem sie bescheiden an den zuständigen Ebert abgegeben werden. Warum, kommentiert Sebastian Haffner:»Die Selbstgerechtigkeit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist unerträglich, steht sie doch in krassem Gegensatz zu den diesem Jahrhundert ihren Stempel aufdrückenden fatalen Fehlentwicklungen.« (Zwecklegenden – Die SPD und das Scheitern der Arbeiterbewegung.) .
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Haffner, Emigrant wegen Hitler,
Remigrant, unerschrockener
BRD-Kritiker und Querdenker |
In Sachsen hinterließ die Ebertsche Reichsexekutive andere Spuren. Wir erinnern uns unseres Herzogs Widukind, der einst Karl dem Großen in die Blutsuppe spuckte. Damals wollten seine Franken die heidnischen Sachsen christianisieren. Die aber wollten nicht. Ob das übergroße Karlchen nun bei Verden an der Aller 4 500 oder nur 450 Sachsen köpfen ließ, wer weiß, sicher ist nur, Eberts Sachsen- und Thüringenschlag war eine misslungene Missionierung, deren Details unsere eifrigen Superhistoriker lieber verschweigen. Zumal heute offenbar Thüringen rötlich zu leuchten riskiert während Sachsen sich kriegszeitgemäß verdunkelt. So läuft es querschüssig mit der regionalen Weltpolitik im poetenladen.
Unsere autobiographie ist als
Roman zu lesen
Von der art der alten
Geschichten, was die fabel
Betrifft und auf ganz neue
Weise, was die einzelnen
Tage angeht.
So ein roman moderner art und
Uralter art kann manchmal
Sehr lang sein und ebenso wild
Und wenn du aufrecht stehst,
Wirst du ihn an die wand
Schmettern mit dem schädel
Den roman. An die wand.
So ein roman ist ein halbes pfund
Herz und hirn in papier gewickelt-
Damit läufst du durch die stadt.
Die einzelnen kapitel. Und immer in
Angst vor lumpenhändlern straßenräubern
Und zeilendieben.
Den jungen Ramelow lernte ich 1995 kennen, als in Erfurt ein Deserteursdenkmal installiert wurde. Die Eröffnungsrede durfte ich halten. Ramelow war dabei.
Thüringische Landeszeitung (TLZ) vom 28.April 1995
Dem Bericht der TLZ vom April 1995 ist im Dezember 2014 nichts hinzuzufügen. Die Lobreden des damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel auf die kriegsverlängernden Wehrmachtsoldaten von 1944/45 sind wegen ihres rechtsradikalen Charakters eine Zeitlang in den Hintergrund gedrängt worden, doch die neuen Kriege von heute lassen sie auferstehen. Im Kontrast dazu könnte und sollte die Hoffnung auf ein sich erneuerndes Thüringen und seine Dreier-Koalition eine landesweit andere Sichtweise auf die Geschichte einleiten. Unsere vielbeschworene Demokratie, die in Deutschland weniger als Demokratie des Rechts als vielmehr eine sich stets von neuem radikalisierende Rechtsfront geprägt wurde und wird, bleibt ohne linken Flügel ein Torso. Ob aus der momentanen politischen Klugheit der drei koalierenden Parteien und ihres erstaunlich diplomatischen Genossen Ramelow mehr als notgedrungene Taktik werden kann, das wird sich sehr bald herausstellen. Ist Thüringen also tatsächlich so rot geworden wie Sachsen schwarz? Zur Widerlegung trifft am 9. Dezember wie nach Maß aus Leipzig von unserem Freund Hartwig Runge Aufmunterndes ein, der sich nach längerer Rekonvaleszenz wieder der Montage von Wort, Bild, Ironie und Phantasie hingeben kann, indem er ne Reihe Tangierte listig vereint:
Gerhard Zwerenz von Gablenz und die Sahra
Nach dem Exitus ihrer DDR hatte die Rest-SED die unfreie Wahl, eine neue kommunistische Partei oder eine linke SPD zu gründen. Um nicht gleich verboten zu werden positionierte sie sich als linkssozialdemokratischer Flügelschlag und nannte sich PDS. Wer nicht mitging, privatisierte, schlüpfte in Nachbars Bürgergärten unter oder entdeckte die Schönheiten von Sektenvereinen. Die neue Linkspartei als Hauptstrom reüssierte, bis die heutige große Zeit tatsächlicher Endspiele begann. DDR und SU lieferten nur den Prolog dazu. Was nun tun, Genossen? Zurück zu Stalin oder voran zu Marx? Wie wär's mit August Bebel statt Noske und Wilhelm Liebknecht statt Hindenburg-Ebert? Auf dem langen Weg durch die Institutionen kam Sahra Wagenknecht am 8. Dezember 2011 im FAZ-Feuilleton an: „Schluss mit Mephistos Umverteilung!“ Ein Kanonenschuss aus unvermuteter Position.
Da sagt Wagenknecht glasklar: 830.000 deutsche Millionäre besitzen mit 2,2 Billionen mehr Finanzvermögen als Bund, Bundesländer und Gemeinden Schulden haben. Was wäre zu tun? Revolution als gerechter Ausgleich geht nicht. Friedlich schon gar nicht. Wie war das doch mit dem biblischen Tanz ums Goldene Kalb?
Soviel aus Leipzig und zu Sahra Wagenknecht von 1999. Voran nun wieder nach Erfurt und zu den Hoffnungen auf den ersten linken Ministerpräsidenten, mit dem ich vor Jahren das Erfurter Deserteursdenkmal eröffnen durfte, das der damalige CDU-Ministerpräsident nicht haben wollte. Wie also halten wir es mit unserer Vergangenheit? Weil ich bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands im August 1944 nicht auf Zivilisten schießen wollte, entfernte ich mich von der Wehrmacht und erhielt den Status des Vermissten, der 32 Jahre lang amtlich bis zum 19. Juli 1976 andauerte, als mir die zuständige Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht eine Bescheinigung schickte: »Zwerenz, Gerhard … geb. 3.6.1925 – letzte Meldung: am 22.8.1944 vermisst gemeldet.« Im Antwortschreiben vom 4.8.1976 dementierte ich meinen anhaltenden Vermisstenstatus und stelle jetzt die bange Frage nach den zukünftig Vermissten, Verschwundenen, Desertierten. Immerhin entstanden bald mehrere Deserteursdenkmale. Google zählte mit. Es war und ist mir eine wenn auch vielgescholtene Ehrenpflicht, der Kameraden zu gedenken. Mein fröhlicher Appell lautet: Sabotieren wir den Krieg …
Am 26.8.1996 schrieb ich Bundeskanzler Kohl einen Brief von 38 Seiten, der erst spät, kurz und nichtssagend beantwortet wurde. Auf der vorletzten Seite meines Briefes stand: »In letzter Konsequenz ist eine Entscheidung von Ihnen gefordert: Gibt es eine Alternative zu dem Kriegsdrama, das einige Ihrer Politiker, Militärs, Professoren an die Wand malen und das alle Züge einer sich selbst verwirklichenden Prophezeiung aufweist? Wenn ja, müsste jedes Parteiinteresse vor der Friedenssuche zurückstehen. Wenn nein, artikulierte sich zum Ausgang des Jahrhunderts eine neue Existenzfrage, deren tendenzielle Analogie zu den dreißiger Jahren eine Entscheidung zwischen Widerstand und Kriegschuld verlangte.«
Am 8.12.2014 wandten sich mehr als 60 prominente Politiker, Künstler und Schriftsteller über die Presse in einem gemeinsamen Appell gegen die Russland-Politik von Bundeskanzlerin Merkel und der von ihr geführten Großen Koalition. Während Gerhard Schröder mit unterzeichnete, hielt Helmut Kohl Distanz, äußerte sich jedoch nicht weniger kritisch. Die von mir 1996 vom Bonner Bundestag aus aufgeworfene Frage nach der Entscheidung zwischen Widerstand und Kriegsschuld rückt längst nicht mehr nur näher. Sie ist der Ernstfall des Endspiels, aber nicht von Beckett. Bei Clausewitz findet sich der Satz: »Der Krieg ist ein Akt der Gewalt und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen.« Soviel zur fröhlichen Kriegsweihnacht 2014. Napoleon kam bis Moskau, Wilhelm Zwo bis Holland, Hitler bis Stalingrad, Merkel wird Putin auf der Krim ebenso besiegen:
und über deutschland leise
bricht herein die nacht
zurück von kriegerischer reise
sind wir die schlafende wacht.
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