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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wider­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 24

Statt Totenklage Überlebensrede

  Ein alle Grenzen
sprengendes Überlebenswerk





Robert Neumann
Mit eigener Feder
Aufsätze. Briefe.
Nachlassmaterialien
Studienverlag 2013

 


Aus Österreich traf soeben eine Granate ein, die nicht tötet, sondern Tote auf­wecken kann. Das ist Robert Neumanns Geschoss. Der Parodist, der so gern Mit fremden Federn schrieb, tritt auf fast ein­tausend Seiten Mit eigener Feder an und siehe da, es ist die vitals­te Kul­tur- und Lebens­geschichte, die sich unter der Rubrik Aufsätze. Briefe. Nach­lass­mate­rialien getarnt, gar noch in einem fernen Inns­brucker »Studien Verlag« ediert, ver­wissen­schaft­licht doku­men­tieren lässt. Unter­zogen hat sich dieser Herkules-Aufgabe der 1946 in Öster­reich geborene Dr. phil Franz Stadler. Was haben wir also vor uns? Under­statement und Fleiß­arbeit? Ja und nein, denn es handelt sich um Poetik, Polemik, Politik – kurz um ein unter- wie über­irdi­sches, gleich­wohl doku­menta­risches Roman­werk, das sich aus Beschei­den­heit so nicht nennen will und über­dies alle Genre-Grenzen und Trends sprengt. Allein das Per­sonen­register ver­zeichnet von Abend­roth bis Zwerenz die Freunde und vielen Feinde. Ich bin so dankbar wie eitel genug, hier einzufügen, was vom Heraus­geber am Buch­an­fang aus einem meiner Briefe zitiert wird, in dem ich über Neumann sage:
  »Er gehört zu den nach dem Krieg nicht wieder akzep­tierten Schrift­stel­lern. Schon die Gruppe 47 wollte ihn nicht. Diese Fremd­haltung blieb bestehen. Die Deutschen mögen solche witzigen, prinzi­piell freien Köpfe nun mal nicht [ …] Sie sind zu gravi­tätisch, unge­bildet und banal. RN war ihnen zu gallisch und öster­reichisch, und die Wiener haben ihn auch vergessen. «

Ich muss angesichts des explosiven Neumann-Konvoluts, das Stadler präsentiert, nicht mühsam nach neuen Worten suchen. In Sklaven­sprache und Revolte ist auf Seite 99 nachzulesen, was Jahr­zehnte zuvor erlebnisfrisch notiert worden ist:




Reiche Ernte hält der Tod. 2013 als Jahr kultureller Staats- bzw. Stadtbegräbnisse. Leip­zig verliert Erich Loest, Frankfurt am Main Marcel Reich-Ranicki, und außer einem Dut­zend Schau­spie­lern jazzte sich auch noch Paulchen Kuhn in die Ewig­keit. Fast immer ist Joachim Gauck zur Stelle, wie die Fotos von den Trauer­feiern zeigen, in der FAZ 1. Seite Politik, 1. Seite Feuil­leton, 1. Seite regional, am schöns­ten im feudalen Feuilleton, wo Gauck, neben seiner aktuellen Lebens­ge­fähr­tin sit­zend, ver­son­nen himmel­wärts schaut, droben seinen Herzens­freund M-RR als Erzengel der Literatur­kritik er­blickend, dem eben von Gott­vater der gebüh­rende Staats­empfang zuteil wird. Die Weihemine des natio­nalen Trauer­präsi­denten, in Stein gehauen, passte vor­züg­lich als deut­sches Frei­heits­denk­mal, falls Arno Breker nach im Dritten Reich und an­schlie­ßend kunst­voll be­trie­bener Schöpfung dazu auf­erstehen darf. FAZ-Feuil­leton Head­line »Deutsch­land gedenkt Marcel Reich-Ranickis«. Deutsch­land gedenkt? Was so ein Land alles kann. Gottes­dienst hier wie dort – da wird sich Marcel noch aus der Urne heraus leben­dig lachen. Falls der Gedenk­fall Gauck, was der Herr ver­hüten möge, doch ein­treten sollte, wird Angela Merkel des Toten Harems­damen am Grab gewiss gerne trösten.


Unsere »Totenklage Überlebensrede« beginnt mit Robert Neumann, unter­bricht mit Reich-Ranicki/Gauck und kehrt zu Neumann zurück, der über M-RR schrieb: »Ich muss mich von meiner Anti­pathie gegen­über diesem Mann freimachen und das dämpfen … Dieser Ranicki hat über Bücher von mir selten Gutes gesagt und oft Schlechtes; zu Unrecht Schlechtes, doch glaubt man das immer. Derlei ärgert einen, wenn es erscheint … am über­nächsten Tag fragt man sich: vielleicht hat der Mann recht …. Diese sympathische Über­legenheit gegen­über Kritikern bringt man nur auf … wenn man einen Kritiker für einen ohnedies von niemandem ernst genommenen Dummkopf hält.
  Damit bin ich, diesen Ranicki betreffend, der Wahrheit schon um einen Schritt näher. Ich halte die von ihm ver­ris­senen Arbei­ten für gut; er und ich ziehen poli­tisch (bis auf Einzel­heiten, Kleinig­keiten) am seIben Strick; also wäre sein Verriss nur zu pardonieren, wenn ich ihn für einen Dummkopf hielte. Ich halte ihn aber für alles andere als einen Dummkopf… vielleicht entdecke ich doch noch und trotz allem, dass er ein Dummkopf ist? … Derart über­prüft, erweist sich dieser Ranicki als ein Mann von flinker Intelli­genz und als höchst beredt, aber wie soll man es sagen? Er wird jedem lite­rari­schen Thema auf eine zeigefingerwackelnde Manier sehr gerecht, ganz ohne Humor, aber doch so, dass man sich sagt: stimmt, stimmt, nur, wo lässt das aus, warum ist dieser Mann so ahnungs­los bezüglich des Wirklichen, der oberen Hälfte, auf die es ankommt, wenn das von ihm bezüglich der unteren Hälfte Gesagte auf eine beredte Weise (gut, zuge­geben, eine ledern beredte Weise) so über­aus richtig ist? Ich ertappe mich bei dem Gedanken: viel­leicht hat dieser Mann mit dem flinken Hirn einfach auf eine sub­tile Art seinen Beruf verfehlt? Wenn er nun nicht Lit­terateur geworden wäre – ja: was, am ehesten? Ein höchst tüchtiger, ja geradezu bril­lanter Floor Walker oder Ab­teilungs­leiter in einem Waren­haus? Nicht die Textur von ›Texten‹ befin­gernd, sondern die Textur von Text­ilien? … Das hier geht über das Maß der für mich durch die Sache gegebenen Aggression hinaus. Warum? Vielleicht weil dieser Ranicki gleich mir ein Jude ist? ›Jüdischer Juden­hass‹ – das will zu Ende gedacht sein.«
  Diese generöse Neumann-Philippika zitierten wir zuletzt in Folge 76 vom 19.4. 2009 und ich fügte stehenden Fußes hinzu: »Wollte ich Reich-Ranicki für einen Roman-Entwurf so sehen, wie Simone de Beauvoir in ihrem fabulösen Buch einst Arthur Koestler schilderte – Marcel also als einen Mandarin nicht von Paris, sondern von FAZ-Frankfurt, setzte ich an den Anfang diese liebenswürdigen Zeilen aus Sklaven­sprache und Revolte, wo es im Kapitel Hass­pro­duktionen heißt: Den Lite­ratur­papst ernennt die Frankfurt-Mainer Ober­bürger­meisterin dafür im Hand­umdrehen zu Goethe II. Gerührt kopiert Marcel den Olympier im TV-Licht zum Stein­herz­erweichen. Sein ganzes zweites Leben lang hatte M.R.R. die Böll, Grass, Walser klein­gehackt und Tucholsky in der FAZ seiten­lang be­schimpft, all seine Liebe auf Wolf­gang Koeppen richtend, der mit seinem Treibhaus längst den Tod in Rom gefunden und sich bis aufs letzte Komma leer­geschrie­ben hatte. Unser Kriti­ker bejubelte seinen Mann, von dem nicht wie bei Walser-Böll-Grass neue Werke drohten, die er dann hätte nieder­machen müssen, sich selbst auf die ersehnte Geistes­heroenhöhe zu kata­pul­tieren.«

Gerhard Zwerenz schrieb zu diesem so komplizierten wie kuriosen Fall in der Zeitschrift Ossietzky, Heft 14/2005:
»Im Spiegel Nr. 25 vom 20.6.2005 fragt Joachim Fest auf Seite 142: >Ist Reich-Ranicki noch bei Trost?‹ Die beiden langjährigen FAZ- Kameraden sind inzwischen windungs­reich verfeindet. Fest: ›Er spielt einfach keine Rolle mehr ... er hat einen Rufmord ver­sucht ... Alles hat ein Ende ...‹ Und das, weil MRR unter anderem gewagt hat, sich zu erkun­digen, ob bei Fests 60. Geburtstag im Frank­furter Kempinski-Hotel das Horst-Wessel-Lied gesungen werde. Reich-Ranicki übertreibt. Die erste Strophe der deut­schen National­hymne würde es auch tun. Außerdem steht noch die Sache mit Albert Speer an, in dessen Arme MRR geschubst wurde, entweder von Fest oder von dem Verleger Wolf Jobst Siedler – vielleicht auch vom Osterhasen. Und der Spiegel erst, der sich jetzt erkühnt, den Spitzen­journalis­ten JF zu fragen: ›Warum nimmt der Holocaust in Ihrem Werk stets einen so kleinen Raum ein?‹ Welche Schärfe. Welch ein unbe­irrbar aufklä­rerischer Journa­lismus. Tage zuvor schminkten FAZ-Feuil­leton­chef Frank Schirr­macher und Spiegel-Chef­redakteur Stefan Aust höchst­selbst in besagter FAZ den Hitler- und Speer-Biographen zum Dritten im Bunde auf. Frack schlägt sich, Frack verträgt sich.«

Dass der Literaturpapst seinen Vatikan ausgerechnet in Sankt FAZ errichtete hatte auch sein weltlich Gutes. So schuf er vor Zeiten die nötige Distanz zwischen den Freunden Joachim C. Fest und Albert Speer und wenn die Feuilletonherrscher in ihrem Blatt Ernst Jünger, Martin Heidegger und Carl Schmitt gar so schamlos wie deutsch als die drei Heiligen aus dem schwarz­braunen Abendland feierten, da knurrte Marcel störrisch dazwischen. Das machte ihn partiell liebenswert.

Das Übermaß von der neoliberalen Finanzwirtschaft produzierter Billionen­schulden, die als Schwarze Löcher den Himmel ver­dunkeln, führt neuer­dings zu ver­schämten An­lei­hen bei Karl Marx. Julia C. Ott in der FAZ vom 25.9.2013: »Finanz­mächte sind nicht mehr von vorn­herein effi­zient«, was nicht erst noch bewiesen werden musste, doch Ott geht viel weiter: »Marxis­tische Histo­riker wie Eric Hobsbawm und Perry Anderson, die für uns sehr wichtig bleiben, haben Ge­schichte von unten erzählt, haben die Erfah­rungen von Gruppen beschrie­ben, die an den Rand der Ge­sell­schaft gedrängt wurden, besonders von Arbei­tern, und die ge­schicht­liche Haupt­dynamik als Wett­bewerb zwischen Kapital und Arbeit begriffen. Das ist für uns ein Aus­gangspunkt.«

Die bislang lichtvollste Kritik am endzeitlichen Neoliberalismus durfte sich der Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann in der FAZ vom 25.9.2013 leisten: »Warum tranken die Pferde nicht?« Es knallt nur so von tref­fenden termini technici: »Adorno – Vor­lesungen – Profit­ab­hängige – Dere­gulie­rung – Kosten­senkung – Konflikt zwischen politi­scher Demo­kratie und den Märkten – Staaten als Geisel …« Fehlt nur noch die fallende Profit­rate und Karl Marx nimmt Platz in den Redak­tionen. Dafür aber fehlt die Courage zur offen marxis­tischen Termi­nolo­gie mit dem Doll­punkt Revo­lution. Davor graust es die Besitzer­klasse. Immerhin kons­tatiert unser links­bürger­licher Deutsch­mann: »Eine demokratische Banken­abwicklung wird nur zustande kommen, wenn die Regierungen und die Kommission in dieser Frage europaweit wesentlich mehr Druck von unten bekommen als bisher.«

Druck von unten bekommen, wie soll das gelingen, wenn die Parteien sich mitsamt der letzten freien Geister aufs Modell der Post­demokratie ein­schwören lassen. Jürgen Habermas als Philo­soph, der die SPD wie sie ist zur Wahl empfiehlt statt ihr die Leviten zu lesen. Haber­mas der Kommuni­kations-Denker als Ver­hinderer. Schon droht die bürger­liche deutsche Ein­heitsbreipartei, nachdem die sozia­listische Einheits­partei besiegt worden ist. Ein Land zwischen rechter und linker Sonderrolle. Wo bleibt der dritte (Aus-)Weg.

Dass Leipzig an der Pleiße liegt, erfüllt die Stadt nicht mit dem Stolz, der den Dresdner von Dresden an der Elbe schwär­men lässt – Elb-Florenz eben. Elbe ver­schafft Image, Pleiße ist In­dustrie­wasser. Die Realität, in Worte gefasst, verteilt eitle Zensuren. Der Begriff Sachsen verleiht keinen Glanz, jedenfalls weniger als der Begriff Bayern, das seit F.J. Strauß sowie Roman Herzog, dem Laptop+Leder­hose-Erfinder und einer durch Stoiber propa­gierten Ent­wicklung unbe­strittene Spit­zen­positionen einnimmt. Als Dialekt steht Sächsisch weit unter Bayrisch, noch hinter der schwä­belnden Schwarz­wald­region, die daraus einen Werbe-Effekt formte: Wir können alles außer Hoch­deutsch. Aus dem sächsi­schen Meißen stammte zu Goethes und Lessings Zeiten das reinste Deutsch, auch das eine sächsische Variante und vergangen wie Sachsen als industrielles Kernland der Arbeiter­bewegung.


  Der verweigerte Dialog
oder
die Sperre in den Köpfen




 


Im Karl Dietz Verlag Berlin erschien 2003 Der verweigerte Dialog von Dieter Schiller. Der Inhalt des Buches wird dramaturgisch einfallsreich schon mit dem Cover signa­lisiert. Aufs Polit­büro gezielt heißt das: »Zuhören oder gar sach­gerecht zu ant­worten war nicht ihre starke Seite.« Um tacheles zu reden: Zuhören, analy­sieren und so sachgerecht wie menschen­gerecht zu kommu­nizieren war die schwache Seite der stärksten der Parteien. Dieter Schillers Buch endet auf Seite 233/234 mit Siegfried Wagners Rede über unsere Leipziger Opposition von 1956: »Fast auf den Tag genau er­schien im >Sonntag› der Zwerenz-Artikel Leip­ziger Allerlei. Dieser Artikel war uns Anlass ihn nach gründlicher Prüfung zur Grundlage einer Partei­dis­kussion zu nehmen, weil in diesem Artikel (…) ver­steckte gehäs­sige Angriffe auf die Sowjetunion, auf die Arbeiter­klasse, auf die Er­rungen­schaften unserer Deutschen Demokratischen Republik enthal­ten waren und weil er vor allem genau in den Tagen der ungarischen Konter­revo­lution ein Generations­problem zu schaffen versuchte. Der Artikel­schreiber appellierte an die Jungen: Vereinigt euch und ändert die Lage! Schafft euch eigene Organe! Schafft euch eigene Zentren! – Bei näherem Hinsehen auf andere Ver­öffent­lichungen dieses Zwerenz entdeckten wir, dass ganz syste­matisch von ihm nach dem XX. Partei­tag eine Hetztätigkeit in einigen anderen Publi­kations­organen entwickelt worden war, besonders aller­dings im ›Sonntag‹, aber auch im ›Forum‹. (…) Zwerenz wurde, wie bekannt, nach mehrmonatiger inner­partei­lichen Aus­einander­setzungen als Parteifeind ent­larvt und aus der Partei ausge­schlos­sen. (…)«



SED-Parteitag 1963 – Paul Fröhlich (Mitte)

Fröhlich und Wagner sind die Sieger von Leipzig 1956/57, sie beginnen den Abstieg der
stärksten der Parteien



Der mir von Wagner übel angekreidete Appell an die Jungen:»Vereinigt euch und ändert die Lage! Schafft euch eigene Organe! Schafft euch eigene Zentren!« ist teils meinen Ver­öffent­lichungen, teils den bei der Haus­suchung be­schlag­nahmten Papieren ent­nommen und enthält oppo­sitionelle Motive, die inzwi­schen in allen Revolten der Welt anklingen. Die kommuni­kative Unfähig­keit der Oberen ist zeitlos wie Blei. Den Schlüssel zu den Bleikammern liefert erst Jürgen Habermas mit seiner Theorie kommuni­kativer Inter­aktionen. Das liest sich famos und ist sauschwer zu prakti­zieren.

Unsere fleißigen Feinde machten tüchtig Karriere. Siegfried Wagner als leitender ZK-Kultur­bürokrat und Paul Fröhlich im Politbüro. Das auf mich gezielte Sperrfeuer hatte zwei Gründe. In Leipzig und Berlin unterhielt ich die meisten bemisstrauten Kontakte, zudem gab es da noch die Causa Bloch. Darüber Siegfried Wagner:
  »Diese Auseinander­setzungen gehen jetzt über ein Jahr. Zwerenz betrachtet als seinen geistigen Vater den (…) Leipziger Philo­sophie­pro­fessor Bloch. Wir sind aller­dings der Meinung, dass es im Interesse des einheitlichen Auftretens der Partei not­wendig wäre, auch im Präsidialrat des Kulturbundes, in dem Bloch noch sitzt, die Aus­einander­setzung zu entwickeln und endgültig die Position Blochs eindeutig kennen­zu­lernen. Er muss jetzt Farbe bekennen. (…)« Das Stichwort Farbe bekennen zemen­tierte den Grenz­strei­fen zwischen Partei und Opposition. Die Szene spielte sich exakt wie nach Drehbuch ab. Als ich in der Leip­ziger Kon­gress­halle, dem Ankläger zu begegnen, das ganze Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revo­lution vortrug und die mehreren hundert Genossen still blieben, fühlte ich mich für einen Augenblick in die War­schauer Höhle zurück­ver­setzt, in der es für mich ums Überleben ging. Als die Ver­sammelten es auch noch ver­stört und ver­stummt hin­nahmen, dass unser kultu­reller Wider­stands­klassiker Wieland Herz­felde, weil er mich zu ver­teidigen wagte, vom Podium herun­ter bedroht wurde, schloss ich mich selbst aus dieser Partei aus, noch bevor sie es offiziell vollzog.
  Das Treffen in der Kongresshalle fand am 30. Januar 1957 statt. Die so plumpe wie irre Parallele zum 30. Januar 1933 war von der Partei beabsichtigt. Sie besorgte nach dem Tauwetter neue Eiszeiten.

Philo­sophie als Widerstand wo nicht stille Revolte zieht rote Linien durch den Dschungel der Klassen­kämpfe. Beim Blick zurück sehen wir, Päpste sprechen einander heilig, solange sie sich nicht an die Gurgel gehen. Ihre welt­lichen Karriere­brüder halten's genauso. Im Aufstieg des Menschen zum Übermenschen reißt das innere Tier sich los, bis die raubtier­hafte Negativ­aus­lese von Obrig­keiten erreicht ist, die zu zivi­lisieren es wiederum der Philo­sophie bedürfte. Der Alte Fritz dis­pu­tierte und koket­tierte als junger Mann mit Voltaire bis der entfloh. Sokrates kre­denzte man den Gift­becher. Platon landete auf dem Sklaven­markt und hatte mehr Schwein als Verstand, als er gerade noch ausgelöst wurde. Kant rettete sich wie andere Arbeiter der Stirn ohne Faust mit schwüls­tigen Erge­benheits­adres­sen und Zu­eig­nungen seiner Werke an aller­lei Fürst­lichkeiten und Majes­täten. Heideg­ger und Bloch waren konse­quenter. Martin wurde SA-Kamerad, Ernst in der Gegen­partei kein Mitglied, doch Vor­denker, Mit­denker und Nach­denker. Mit viel Glück schafft er es immer erneut ins Exil. Bleibt die Dif­ferenz zwischen beiden. Heidegger lebt in den maladen Hirnen und Herzen diverser Meister­schüler und Nach­fahren munter weiter. Bloch wird in Bruch­stücken und Zitaten gefleddert als gelte es ihn mit verbalen Schüssen auf Distanz zu halten.

Siegfried P. einer der letzten noch lebenden Blochianer, der damals unverfolgt blieb, weil er Leipzig beizeiten verlassen hatte, konnte im Vorjahr nach medi­kamen­töser Behand­lung in einer Berliner Klinik nur mit Mühe und Not durch Mitpatienten vom Sprung in die Tiefe abgehalten werden. Fenster­stürze sind kein Einzelfall. Im soeben erschienenen Brief der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Ausgabe 94, IV. Quartal ist nach­zulesen: »Erich Loest, der am 12. Sep­tember 2013 mit 87 Jahren aus dem Leben gegangen ist. Dass man ihm im Kranken­haus keinen würde­vollen Tod gegönnt hat, etwa durch eine ent­spre­chende Morphium­gabe, ist ein Skandal, der in den Nachrufen leider nicht erwähnt wurde.« Erichs Fenster­sturz ist in den suizi­dären Gründen offen­sichtlich be­zweifel­bar. Vor dem weihe­vollen öffent­lichen Abschied kommt der Abschied im Schmerz. Soviel zur sozialen Alten­fürsorge.
  Von den Zuschriften, die uns auf den jüngst publizierten Nachruf 23 hin er­reichten, einige Sätze aus einer mail von Jürgen Reents aus Berlin: »Den heuti­gen poetenladen mit euren vielen Erin­nerungen an Erich Loest habe ich gleich gelesen … nahm natürlich an, dass es ein Tun mit lesbarem Ergebnis war. Einiges war mir ja nicht gänzlich unbe­kannt, vor allem aus Gerhards Erzählungen, aber so sind die Vorwärts- und Rückwärts­gänge eurer Freundschaft noch mehr nach­zu­empfinden. Nach heutigen Handels­beschrei­bungen muss sie wohl eine Art Dual-Use-Gut gewe­sen sein. Ich hoffe, die fried­liche Ver­wendung war die zu­mindest deutl­ich über­wiegende, so verstand ich deinen Text jeden­falls, lieber Gerhard.« Danke, Jürgen.
  Die mit Erich Loests Rückkehr nach Leipzig ein­tretende Ver­eisung unserer Freund­schaft mündete in seinem ver­bis­senen Kampf gegen das univer­sitäre Marx-Relief. Ging es nur gegen unsere Leip­ziger Feinde, diese ranzige DDR-Stalin-Garde von damals oder um Marx selbst? Schon den Ver­dacht empfand ich als Stich in den Rücken. Loest auf dem Rück­marsch zur Werwolf- und HJ-Existenz? An Karl Marx scheiden sich mindes­tens seit Adolf Hitler die Geister und Ungeister. Der Fens­ter­sturz als Bestä­tigung oder Wider­ruf der Heimat­losigkeit oder lediglich als Vollzug medi­zini­scher Degoutanz, das ist die Frage. Der mediale Trauer­schwulst beant­wortet sie nicht. Er hat sie noch nicht einmal gestellt.
  Die gegen meinen Willen wachsende Distanz zu Erich resultierte aus seinem eska­lieren­den Anti­marxismus, der ihm eine Reihe so dubioser wie peinlicher Anhänger ein­brachte. Nach dem Schock vom 17. Juni 1953 ermutigte uns Ilja Ehrenburgs Roman Tau­wetter, das sich im Februar 1956 in Chruschtschows Anti-Stalin-Rede zu reali­sieren schien. Wir griffen Blochs For­derung Schach statt Mühle zu spielen auf und ris­kierten Klar­text. Die Partei sah ihre Macht gefährdet, schlug zu, gewann auf Zeit, verlor ihre Zukunft und war bald mausetot. Bloch liegt in Tübingen statt Leipzig begraben. Ver­loren unverloren. Es ist nicht Erichs oder meine Schuld, dass wir gezwun­gen wurden, gegen das Vergessen am finalen Szenario zu werkeln. Unser Titel: Dialog zum Leipziger Modell, das nicht als Duell enden soll.
  Dieser Nachruf 24 beginnt mit einer Überlebens­rede auf unseren Freund Robert Neumann, den Proto­typ des jüdischen Links­intel­lektuel­len, der auf die ehren­hafteste Weise in die Konflikte des Zeit­alters zwischen links und rechts, Ost und West involviert ist, inklu­sive seiner hohen Kunst der Ironie als Kommuni­kation. Bei Habermas heißt es Kommuni­kative Inter­aktion, wir nennen es Lite­ratur mit Kopf und Bauch, Revolte statt Krieg, Mediation statt Blut­säufe­rei. In radikaler Konse­quenz be­endete Media­tion einst den Dreißig­jährigen Krieg. Unsere heutigen Poli­tiker be­stücken den Himmel schein­heilig mit Mord­drohnen. Soviel zum Kapi­ta­lismus im End­stadium.
  Erichs Heimkehr nach Leipzig führte ihn aus neueren west­deutschen zurück in die alten ost­deutschen Konflikte. Die Erfolge von Nikoleikirche, Völker­schlacht­denk­mal samt all den Aus­zeichnungen, Preisen und Bundes­verdienst­kreuzchen retteten den Ehren­bürger nicht vorm Riss in der Erde, wie er es 1981 in seiner Auto­bio­gra­phie nannte, nicht ohne Anspielung auf meinen 1974 erschie­nenen Roman Die Erde ist unbe­wohnbar wie der Mond. Kann der totale Exitus, wenn überhaupt, im Kampf um Marx durch Mediation wie 1648 beim Friedens­schluss von Münster ver­hindert werden?
  War die DDR der unzureichende, hinkende Versuch eines linken Deutschland, und so sah es Bloch, tendiert die Berliner Republik zur konser­vativ-neo­libe­ralen Variante mit Verzicht auf einen Führer und seine Diktatur, weil der Verlust von Plura­lität, Alter­native und Freiheit als kommodes Ziel längst akzeptiert ist von denen, die es nicht mehr anders wissen wollen und sollen, wo nicht dürfen. Der schleichende Entzug von Philosophie führt zum seIben Resul­tat wie ihr Verbot. Im übrigen ist Schach spielen besser als aus dem Fenster springen.

Beim Warschauer Aufstand im August 1944 klauten ein Wehrmachts­deserteur und zwei seiner polnischen Bewacher einen deutschen Panzer. Auf Irrfahrt durch die umkämpfte Haupt­stadt werden sie im Gebiet der Auf­ständi­schen beschossen, weil ihr Panzer noch das Haken­kreuz der Wehrmacht trägt. Geraten sie in von Deut­schen be­herrschte Stadt­teile, halten die Polen dem deut­schen Fahrer die Pistole an den Kopf, und der hätte als Deser­teur ohnehin den Tod zu erwarten. Der Panzer dröhnt so lange durch die Straßen, wie die Feind­schaft anhält. Wir sitzen drin und wer zurück­schießt, beginnt den Krieg immer neu.
Gerhard Zwerenz    14.10.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon