|
|
Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 24 |
|
Statt Totenklage Überlebensrede
|
|
Ein alle Grenzen
sprengendes Überlebenswerk
Robert Neumann
Mit eigener Feder
Aufsätze. Briefe.
Nachlassmaterialien
Studienverlag 2013
|
|
Aus Österreich traf soeben eine Granate ein, die nicht tötet, sondern Tote aufwecken kann. Das ist Robert Neumanns Geschoss. Der Parodist, der so gern Mit fremden Federn schrieb, tritt auf fast eintausend Seiten Mit eigener Feder an und siehe da, es ist die vitalste Kultur- und Lebensgeschichte, die sich unter der Rubrik Aufsätze. Briefe. Nachlassmaterialien getarnt, gar noch in einem fernen Innsbrucker »Studien Verlag« ediert, verwissenschaftlicht dokumentieren lässt. Unterzogen hat sich dieser Herkules-Aufgabe der 1946 in Österreich geborene Dr. phil Franz Stadler. Was haben wir also vor uns? Understatement und Fleißarbeit? Ja und nein, denn es handelt sich um Poetik, Polemik, Politik – kurz um ein unter- wie überirdisches, gleichwohl dokumentarisches Romanwerk, das sich aus Bescheidenheit so nicht nennen will und überdies alle Genre- Grenzen und Trends sprengt. Allein das Personenregister verzeichnet von Abendroth bis Zwerenz die Freunde und vielen Feinde. Ich bin so dankbar wie eitel genug, hier einzufügen, was vom Herausgeber am Buchanfang aus einem meiner Briefe zitiert wird, in dem ich über Neumann sage:
»Er gehört zu den nach dem Krieg nicht wieder akzeptierten Schriftstellern. Schon die Gruppe 47 wollte ihn nicht. Diese Fremdhaltung blieb bestehen. Die Deutschen mögen solche witzigen, prinzipiell freien Köpfe nun mal nicht [ …] Sie sind zu gravitätisch, ungebildet und banal. RN war ihnen zu gallisch und österreichisch, und die Wiener haben ihn auch vergessen. «
Ich muss angesichts des explosiven Neumann-Konvoluts, das Stadler präsentiert, nicht mühsam nach neuen Worten suchen. In Sklavensprache und Revolte ist auf Seite 99 nachzulesen, was Jahrzehnte zuvor erlebnisfrisch notiert worden ist:
Reiche Ernte hält der Tod. 2013 als Jahr kultureller Staats- bzw. Stadtbegräbnisse. Leipzig verliert Erich Loest, Frankfurt am Main Marcel Reich-Ranicki, und außer einem Dutzend Schauspielern jazzte sich auch noch Paulchen Kuhn in die Ewigkeit. Fast immer ist Joachim Gauck zur Stelle, wie die Fotos von den Trauerfeiern zeigen, in der FAZ 1. Seite Politik, 1. Seite Feuilleton, 1. Seite regional, am schönsten im feudalen Feuilleton, wo Gauck, neben seiner aktuellen Lebensgefährtin sitzend, versonnen himmelwärts schaut, droben seinen Herzensfreund M-RR als Erzengel der Literaturkritik erblickend, dem eben von Gottvater der gebührende Staatsempfang zuteil wird. Die Weihemine des nationalen Trauerpräsidenten, in Stein gehauen, passte vorzüglich als deutsches Freiheitsdenkmal, falls Arno Breker nach im Dritten Reich und anschließend kunstvoll betriebener Schöpfung dazu auferstehen darf. FAZ-Feuilleton Headline »Deutschland gedenkt Marcel Reich-Ranickis«. Deutschland gedenkt? Was so ein Land alles kann. Gottesdienst hier wie dort – da wird sich Marcel noch aus der Urne heraus lebendig lachen. Falls der Gedenkfall Gauck, was der Herr verhüten möge, doch eintreten sollte, wird Angela Merkel des Toten Haremsdamen am Grab gewiss gerne trösten.
Unsere »Totenklage Überlebensrede« beginnt mit Robert Neumann, unterbricht mit Reich-Ranicki/Gauck und kehrt zu Neumann zurück, der über M-RR schrieb: »Ich muss mich von meiner Antipathie gegenüber diesem Mann freimachen und das dämpfen … Dieser Ranicki hat über Bücher von mir selten Gutes gesagt und oft Schlechtes; zu Unrecht Schlechtes, doch glaubt man das immer. Derlei ärgert einen, wenn es erscheint … am übernächsten Tag fragt man sich: vielleicht hat der Mann recht …. Diese sympathische Überlegenheit gegenüber Kritikern bringt man nur auf … wenn man einen Kritiker für einen ohnedies von niemandem ernst genommenen Dummkopf hält.
Damit bin ich, diesen Ranicki betreffend, der Wahrheit schon um einen Schritt näher. Ich halte die von ihm verrissenen Arbeiten für gut; er und ich ziehen politisch (bis auf Einzelheiten, Kleinigkeiten) am seIben Strick; also wäre sein Verriss nur zu pardonieren, wenn ich ihn für einen Dummkopf hielte. Ich halte ihn aber für alles andere als einen Dummkopf… vielleicht entdecke ich doch noch und trotz allem, dass er ein Dummkopf ist? … Derart überprüft, erweist sich dieser Ranicki als ein Mann von flinker Intelligenz und als höchst beredt, aber wie soll man es sagen? Er wird jedem literarischen Thema auf eine zeigefingerwackelnde Manier sehr gerecht, ganz ohne Humor, aber doch so, dass man sich sagt: stimmt, stimmt, nur, wo lässt das aus, warum ist dieser Mann so ahnungslos bezüglich des Wirklichen, der oberen Hälfte, auf die es ankommt, wenn das von ihm bezüglich der unteren Hälfte Gesagte auf eine beredte Weise (gut, zugegeben, eine ledern beredte Weise) so überaus richtig ist? Ich ertappe mich bei dem Gedanken: vielleicht hat dieser Mann mit dem flinken Hirn einfach auf eine subtile Art seinen Beruf verfehlt? Wenn er nun nicht Litterateur geworden wäre – ja: was, am ehesten? Ein höchst tüchtiger, ja geradezu brillanter Floor Walker oder Abteilungsleiter in einem Warenhaus? Nicht die Textur von ›Texten‹ befingernd, sondern die Textur von Textilien? … Das hier geht über das Maß der für mich durch die Sache gegebenen Aggression hinaus. Warum? Vielleicht weil dieser Ranicki gleich mir ein Jude ist? ›Jüdischer Judenhass‹ – das will zu Ende gedacht sein.«
Diese generöse Neumann-Philippika zitierten wir zuletzt in Folge 76 vom 19.4. 2009 und ich fügte stehenden Fußes hinzu: »Wollte ich Reich-Ranicki für einen Roman-Entwurf so sehen, wie Simone de Beauvoir in ihrem fabulösen Buch einst Arthur Koestler schilderte – Marcel also als einen Mandarin nicht von Paris, sondern von FAZ-Frankfurt, setzte ich an den Anfang diese liebenswürdigen Zeilen aus Sklavensprache und Revolte, wo es im Kapitel Hassproduktionen heißt: Den Literaturpapst ernennt die Frankfurt-Mainer Oberbürgermeisterin dafür im Handumdrehen zu Goethe II. Gerührt kopiert Marcel den Olympier im TV-Licht zum Steinherzerweichen. Sein ganzes zweites Leben lang hatte M.R.R. die Böll, Grass, Walser kleingehackt und Tucholsky in der FAZ seitenlang beschimpft, all seine Liebe auf Wolfgang Koeppen richtend, der mit seinem Treibhaus längst den Tod in Rom gefunden und sich bis aufs letzte Komma leergeschrieben hatte. Unser Kritiker bejubelte seinen Mann, von dem nicht wie bei Walser-Böll-Grass neue Werke drohten, die er dann hätte niedermachen müssen, sich selbst auf die ersehnte Geistesheroenhöhe zu katapultieren.«
Gerhard Zwerenz schrieb zu diesem so komplizierten wie kuriosen Fall in der Zeitschrift Ossietzky, Heft 14/2005:
»Im Spiegel Nr. 25 vom 20.6.2005 fragt Joachim Fest auf Seite 142: >Ist Reich-Ranicki noch bei Trost?‹ Die beiden langjährigen FAZ- Kameraden sind inzwischen windungsreich verfeindet. Fest: ›Er spielt einfach keine Rolle mehr ... er hat einen Rufmord versucht ... Alles hat ein Ende ...‹ Und das, weil MRR unter anderem gewagt hat, sich zu erkundigen, ob bei Fests 60. Geburtstag im Frankfurter Kempinski-Hotel das Horst-Wessel-Lied gesungen werde. Reich-Ranicki übertreibt. Die erste Strophe der deutschen Nationalhymne würde es auch tun. Außerdem steht noch die Sache mit Albert Speer an, in dessen Arme MRR geschubst wurde, entweder von Fest oder von dem Verleger Wolf Jobst Siedler – vielleicht auch vom Osterhasen. Und der Spiegel erst, der sich jetzt erkühnt, den Spitzenjournalisten JF zu fragen: ›Warum nimmt der Holocaust in Ihrem Werk stets einen so kleinen Raum ein?‹ Welche Schärfe. Welch ein unbeirrbar aufklärerischer Journalismus. Tage zuvor schminkten FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher und Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust höchstselbst in besagter FAZ den Hitler- und Speer-Biographen zum Dritten im Bunde auf. Frack schlägt sich, Frack verträgt sich.«
Dass der Literaturpapst seinen Vatikan ausgerechnet in Sankt FAZ errichtete hatte auch sein weltlich Gutes. So schuf er vor Zeiten die nötige Distanz zwischen den Freunden Joachim C. Fest und Albert Speer und wenn die Feuilletonherrscher in ihrem Blatt Ernst Jünger, Martin Heidegger und Carl Schmitt gar so schamlos wie deutsch als die drei Heiligen aus dem schwarzbraunen Abendland feierten, da knurrte Marcel störrisch dazwischen. Das machte ihn partiell liebenswert.
Das Übermaß von der neoliberalen Finanzwirtschaft produzierter Billionenschulden, die als Schwarze Löcher den Himmel verdunkeln, führt neuerdings zu verschämten Anleihen bei Karl Marx. Julia C. Ott in der FAZ vom 25.9.2013: »Finanzmächte sind nicht mehr von vornherein effizient«, was nicht erst noch bewiesen werden musste, doch Ott geht viel weiter: »Marxistische Historiker wie Eric Hobsbawm und Perry Anderson, die für uns sehr wichtig bleiben, haben Geschichte von unten erzählt, haben die Erfahrungen von Gruppen beschrieben, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, besonders von Arbeitern, und die geschichtliche Hauptdynamik als Wettbewerb zwischen Kapital und Arbeit begriffen. Das ist für uns ein Ausgangspunkt.«
Die bislang lichtvollste Kritik am endzeitlichen Neoliberalismus durfte sich der Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann in der FAZ vom 25.9.2013 leisten: »Warum tranken die Pferde nicht?« Es knallt nur so von treffenden termini technici: »Adorno – Vorlesungen – Profitabhängige – Deregulierung – Kostensenkung – Konflikt zwischen politischer Demokratie und den Märkten – Staaten als Geisel …« Fehlt nur noch die fallende Profitrate und Karl Marx nimmt Platz in den Redaktionen. Dafür aber fehlt die Courage zur offen marxistischen Terminologie mit dem Dollpunkt Revolution. Davor graust es die Besitzerklasse. Immerhin konstatiert unser linksbürgerlicher Deutschmann: »Eine demokratische Bankenabwicklung wird nur zustande kommen, wenn die Regierungen und die Kommission in dieser Frage europaweit wesentlich mehr Druck von unten bekommen als bisher.«
Druck von unten bekommen, wie soll das gelingen, wenn die Parteien sich mitsamt der letzten freien Geister aufs Modell der Postdemokratie einschwören lassen. Jürgen Habermas als Philosoph, der die SPD wie sie ist zur Wahl empfiehlt statt ihr die Leviten zu lesen. Habermas der Kommunikations-Denker als Verhinderer. Schon droht die bürgerliche deutsche Einheitsbreipartei, nachdem die sozialistische Einheitspartei besiegt worden ist. Ein Land zwischen rechter und linker Sonderrolle. Wo bleibt der dritte (Aus-)Weg.
Dass Leipzig an der Pleiße liegt, erfüllt die Stadt nicht mit dem Stolz, der den Dresdner von Dresden an der Elbe schwärmen lässt – Elb-Florenz eben. Elbe verschafft Image, Pleiße ist Industriewasser. Die Realität, in Worte gefasst, verteilt eitle Zensuren. Der Begriff Sachsen verleiht keinen Glanz, jedenfalls weniger als der Begriff Bayern, das seit F.J. Strauß sowie Roman Herzog, dem Laptop+Lederhose-Erfinder und einer durch Stoiber propagierten Entwicklung unbestrittene Spitzenpositionen einnimmt. Als Dialekt steht Sächsisch weit unter Bayrisch, noch hinter der schwäbelnden Schwarzwaldregion, die daraus einen Werbe-Effekt formte: Wir können alles außer Hochdeutsch. Aus dem sächsischen Meißen stammte zu Goethes und Lessings Zeiten das reinste Deutsch, auch das eine sächsische Variante und vergangen wie Sachsen als industrielles Kernland der Arbeiterbewegung.
|
|
Der verweigerte Dialog
oder
die Sperre in den Köpfen
|
|
Im Karl Dietz Verlag Berlin erschien 2003 Der verweigerte Dialog von Dieter Schiller. Der Inhalt des Buches wird dramaturgisch einfallsreich schon mit dem Cover signalisiert. Aufs Politbüro gezielt heißt das: »Zuhören oder gar sachgerecht zu antworten war nicht ihre starke Seite.« Um tacheles zu reden: Zuhören, analysieren und so sachgerecht wie menschengerecht zu kommunizieren war die schwache Seite der stärksten der Parteien. Dieter Schillers Buch endet auf Seite 233/234 mit Siegfried Wagners Rede über unsere Leipziger Opposition von 1956: »Fast auf den Tag genau erschien im >Sonntag› der Zwerenz-Artikel Leipziger Allerlei. Dieser Artikel war uns Anlass ihn nach gründlicher Prüfung zur Grundlage einer Parteidiskussion zu nehmen, weil in diesem Artikel (…) versteckte gehässige Angriffe auf die Sowjetunion, auf die Arbeiterklasse, auf die Errungenschaften unserer Deutschen Demokratischen Republik enthalten waren und weil er vor allem genau in den Tagen der ungarischen Konterrevolution ein Generationsproblem zu schaffen versuchte. Der Artikelschreiber appellierte an die Jungen: Vereinigt euch und ändert die Lage! Schafft euch eigene Organe! Schafft euch eigene Zentren! – Bei näherem Hinsehen auf andere Veröffentlichungen dieses Zwerenz entdeckten wir, dass ganz systematisch von ihm nach dem XX. Parteitag eine Hetztätigkeit in einigen anderen Publikationsorganen entwickelt worden war, besonders allerdings im ›Sonntag‹, aber auch im ›Forum‹. (…) Zwerenz wurde, wie bekannt, nach mehrmonatiger innerparteilichen Auseinandersetzungen als Parteifeind entlarvt und aus der Partei ausgeschlossen. (…)«
SED-Parteitag 1963 – Paul Fröhlich (Mitte) |
Fröhlich und Wagner sind die Sieger von Leipzig 1956/57, sie beginnen den Abstieg der
stärksten der Parteien
Der mir von Wagner übel angekreidete Appell an die Jungen:»Vereinigt euch und ändert die Lage! Schafft euch eigene Organe! Schafft euch eigene Zentren!« ist teils meinen Veröffentlichungen, teils den bei der Haussuchung beschlagnahmten Papieren entnommen und enthält oppositionelle Motive, die inzwischen in allen Revolten der Welt anklingen. Die kommunikative Unfähigkeit der Oberen ist zeitlos wie Blei. Den Schlüssel zu den Bleikammern liefert erst Jürgen Habermas mit seiner Theorie kommunikativer Interaktionen. Das liest sich famos und ist sauschwer zu praktizieren.
Unsere fleißigen Feinde machten tüchtig Karriere. Siegfried Wagner als leitender ZK-Kulturbürokrat und Paul Fröhlich im Politbüro. Das auf mich gezielte Sperrfeuer hatte zwei Gründe. In Leipzig und Berlin unterhielt ich die meisten bemisstrauten Kontakte, zudem gab es da noch die Causa Bloch. Darüber Siegfried Wagner:
»Diese Auseinandersetzungen gehen jetzt über ein Jahr. Zwerenz betrachtet als seinen geistigen Vater den (…) Leipziger Philosophieprofessor Bloch. Wir sind allerdings der Meinung, dass es im Interesse des einheitlichen Auftretens der Partei notwendig wäre, auch im Präsidialrat des Kulturbundes, in dem Bloch noch sitzt, die Auseinandersetzung zu entwickeln und endgültig die Position Blochs eindeutig kennenzulernen. Er muss jetzt Farbe bekennen. (…)« Das Stichwort Farbe bekennen zementierte den Grenzstreifen zwischen Partei und Opposition. Die Szene spielte sich exakt wie nach Drehbuch ab. Als ich in der Leipziger Kongresshalle, dem Ankläger zu begegnen, das ganze Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revolution vortrug und die mehreren hundert Genossen still blieben, fühlte ich mich für einen Augenblick in die Warschauer Höhle zurückversetzt, in der es für mich ums Überleben ging. Als die Versammelten es auch noch verstört und verstummt hinnahmen, dass unser kultureller Widerstandsklassiker Wieland Herzfelde, weil er mich zu verteidigen wagte, vom Podium herunter bedroht wurde, schloss ich mich selbst aus dieser Partei aus, noch bevor sie es offiziell vollzog.
Das Treffen in der Kongresshalle fand am 30. Januar 1957 statt. Die so plumpe wie irre Parallele zum 30. Januar 1933 war von der Partei beabsichtigt. Sie besorgte nach dem Tauwetter neue Eiszeiten.
Philosophie als Widerstand wo nicht stille Revolte zieht rote Linien durch den Dschungel der Klassenkämpfe. Beim Blick zurück sehen wir, Päpste sprechen einander heilig, solange sie sich nicht an die Gurgel gehen. Ihre weltlichen Karrierebrüder halten's genauso. Im Aufstieg des Menschen zum Übermenschen reißt das innere Tier sich los, bis die raubtierhafte Negativauslese von Obrigkeiten erreicht ist, die zu zivilisieren es wiederum der Philosophie bedürfte. Der Alte Fritz disputierte und kokettierte als junger Mann mit Voltaire bis der entfloh. Sokrates kredenzte man den Giftbecher. Platon landete auf dem Sklavenmarkt und hatte mehr Schwein als Verstand, als er gerade noch ausgelöst wurde. Kant rettete sich wie andere Arbeiter der Stirn ohne Faust mit schwülstigen Ergebenheitsadressen und Zueignungen seiner Werke an allerlei Fürstlichkeiten und Majestäten. Heidegger und Bloch waren konsequenter. Martin wurde SA-Kamerad, Ernst in der Gegenpartei kein Mitglied, doch Vordenker, Mitdenker und Nachdenker. Mit viel Glück schafft er es immer erneut ins Exil. Bleibt die Differenz zwischen beiden. Heidegger lebt in den maladen Hirnen und Herzen diverser Meisterschüler und Nachfahren munter weiter. Bloch wird in Bruchstücken und Zitaten gefleddert als gelte es ihn mit verbalen Schüssen auf Distanz zu halten.
Siegfried P. einer der letzten noch lebenden Blochianer, der damals unverfolgt blieb, weil er Leipzig beizeiten verlassen hatte, konnte im Vorjahr nach medikamentöser Behandlung in einer Berliner Klinik nur mit Mühe und Not durch Mitpatienten vom Sprung in die Tiefe abgehalten werden. Fensterstürze sind kein Einzelfall. Im soeben erschienenen Brief der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Ausgabe 94, IV. Quartal ist nachzulesen: »Erich Loest, der am 12. September 2013 mit 87 Jahren aus dem Leben gegangen ist. Dass man ihm im Krankenhaus keinen würdevollen Tod gegönnt hat, etwa durch eine entsprechende Morphiumgabe, ist ein Skandal, der in den Nachrufen leider nicht erwähnt wurde.« Erichs Fenstersturz ist in den suizidären Gründen offensichtlich bezweifelbar. Vor dem weihevollen öffentlichen Abschied kommt der Abschied im Schmerz. Soviel zur sozialen Altenfürsorge.
Von den Zuschriften, die uns auf den jüngst publizierten Nachruf 23 hin erreichten, einige Sätze aus einer mail von Jürgen Reents aus Berlin: »Den heutigen poetenladen mit euren vielen Erinnerungen an Erich Loest habe ich gleich gelesen … nahm natürlich an, dass es ein Tun mit lesbarem Ergebnis war. Einiges war mir ja nicht gänzlich unbekannt, vor allem aus Gerhards Erzählungen, aber so sind die Vorwärts- und Rückwärtsgänge eurer Freundschaft noch mehr nachzuempfinden. Nach heutigen Handelsbeschreibungen muss sie wohl eine Art Dual-Use-Gut gewesen sein. Ich hoffe, die friedliche Verwendung war die zumindest deutlich überwiegende, so verstand ich deinen Text jedenfalls, lieber Gerhard.« Danke, Jürgen.
Die mit Erich Loests Rückkehr nach Leipzig eintretende Vereisung unserer Freundschaft mündete in seinem verbissenen Kampf gegen das universitäre Marx-Relief. Ging es nur gegen unsere Leipziger Feinde, diese ranzige DDR-Stalin-Garde von damals oder um Marx selbst? Schon den Verdacht empfand ich als Stich in den Rücken. Loest auf dem Rückmarsch zur Werwolf- und HJ-Existenz? An Karl Marx scheiden sich mindestens seit Adolf Hitler die Geister und Ungeister. Der Fenstersturz als Bestätigung oder Widerruf der Heimatlosigkeit oder lediglich als Vollzug medizinischer Degoutanz, das ist die Frage. Der mediale Trauerschwulst beantwortet sie nicht. Er hat sie noch nicht einmal gestellt.
Die gegen meinen Willen wachsende Distanz zu Erich resultierte aus seinem eskalierenden Antimarxismus, der ihm eine Reihe so dubioser wie peinlicher Anhänger einbrachte. Nach dem Schock vom 17. Juni 1953 ermutigte uns Ilja Ehrenburgs Roman Tauwetter, das sich im Februar 1956 in Chruschtschows Anti-Stalin-Rede zu realisieren schien. Wir griffen Blochs Forderung Schach statt Mühle zu spielen auf und riskierten Klartext. Die Partei sah ihre Macht gefährdet, schlug zu, gewann auf Zeit, verlor ihre Zukunft und war bald mausetot. Bloch liegt in Tübingen statt Leipzig begraben. Verloren unverloren. Es ist nicht Erichs oder meine Schuld, dass wir gezwungen wurden, gegen das Vergessen am finalen Szenario zu werkeln. Unser Titel: Dialog zum Leipziger Modell, das nicht als Duell enden soll.
Dieser Nachruf 24 beginnt mit einer Überlebensrede auf unseren Freund Robert Neumann, den Prototyp des jüdischen Linksintellektuellen, der auf die ehrenhafteste Weise in die Konflikte des Zeitalters zwischen links und rechts, Ost und West involviert ist, inklusive seiner hohen Kunst der Ironie als Kommunikation. Bei Habermas heißt es Kommunikative Interaktion, wir nennen es Literatur mit Kopf und Bauch, Revolte statt Krieg, Mediation statt Blutsäuferei. In radikaler Konsequenz beendete Mediation einst den Dreißigjährigen Krieg. Unsere heutigen Politiker bestücken den Himmel scheinheilig mit Morddrohnen. Soviel zum Kapitalismus im Endstadium.
Erichs Heimkehr nach Leipzig führte ihn aus neueren westdeutschen zurück in die alten ostdeutschen Konflikte. Die Erfolge von Nikoleikirche, Völkerschlachtdenkmal samt all den Auszeichnungen, Preisen und Bundesverdienstkreuzchen retteten den Ehrenbürger nicht vorm Riss in der Erde, wie er es 1981 in seiner Autobiographie nannte, nicht ohne Anspielung auf meinen 1974 erschienenen Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Kann der totale Exitus, wenn überhaupt, im Kampf um Marx durch Mediation wie 1648 beim Friedensschluss von Münster verhindert werden?
War die DDR der unzureichende, hinkende Versuch eines linken Deutschland, und so sah es Bloch, tendiert die Berliner Republik zur konservativ-neoliberalen Variante mit Verzicht auf einen Führer und seine Diktatur, weil der Verlust von Pluralität, Alternative und Freiheit als kommodes Ziel längst akzeptiert ist von denen, die es nicht mehr anders wissen wollen und sollen, wo nicht dürfen. Der schleichende Entzug von Philosophie führt zum seIben Resultat wie ihr Verbot. Im übrigen ist Schach spielen besser als aus dem Fenster springen.
Beim Warschauer Aufstand im August 1944 klauten ein Wehrmachtsdeserteur und zwei seiner polnischen Bewacher einen deutschen Panzer. Auf Irrfahrt durch die umkämpfte Hauptstadt werden sie im Gebiet der Aufständischen beschossen, weil ihr Panzer noch das Hakenkreuz der Wehrmacht trägt. Geraten sie in von Deutschen beherrschte Stadtteile, halten die Polen dem deutschen Fahrer die Pistole an den Kopf, und der hätte als Deserteur ohnehin den Tod zu erwarten. Der Panzer dröhnt so lange durch die Straßen, wie die Feindschaft anhält. Wir sitzen drin und wer zurückschießt, beginnt den Krieg immer neu.
|
|
|
|
|