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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 16 |
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Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
Bei Ernst Blochs 80. Geburtstag 1965 in Tübingen: Leo Bauer schattenhaft zwischen Gerhar Zwerenz und dem 2010 verstorbenen Jan Robert Bloch. Leo Bauer wurde1952 durch ein sowjetisches Militärgericht zum Tode verurteilt und später in Springers Welt am Sonntag der kommunistischen Unterwanderung von Willy Brandt beschuldigt
Beginnen wir mit unserem Leo Bauer. 1912 in Ostgalizien geboren. Mit zwei Jahren nach Chemnitz ins heute eingeschwärzte, damals rotleuchtende Sachsen verbracht – galizischer Jude wird sächsischer Revolutionär, die Mischung stimmt. Und ausgerechnet dieser Leo Bauer geht als Kanzlerberater in die Annalen deutscher Geschichte ein? Als ich den legendären Kämpen 1961 in der Redaktion des stern kennenlernte, sah ich zuerst die tiefe Trauer, die ihn umschattete. Es gibt einen Augenausdruck, der sich nur bei im Zentrum getroffenen Exkommunisten findet.
Bauer galt als arroganter, schwer verträglicher Mensch, und manchmal war er das wohl auch. Er konnte sich von einem Augenblick zum andern aus dem guten Freund in den hartherzigen unbeirrbaren Apparatschik verwandeln, der er ja auch einmal gewesen sein muss. Doch welche Lasten hatte dieser Mann zu schleppen.
Die alten Emigranten, die vor Hitler nach Paris geflüchtet waren, kannten Bauer als geheimnisvollen Geldverwalter der KPF, der notleidende Genossen über Wasser hielt. Nach dem Krieg schaffte sich Bauer im Hessischen Landtag als KPD-Abgeordneter viele Feinde, ging dann in die DDR und wurde Chefredakteur im Rundfunk, bis ihn die Sowjets der Spionage für die USA verdächtigten, verhafteten, zum Tode verurteilten, zu 25 Jahren Lager begnadigten und nach Workuta schickten, von wo er zurückkehrte, als Adenauer von Moskau die Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen und Häftlinge erreichte. Bauer, auf seinen Wunsch in die BRD entlassen, trat in die SPD ein, fand das Wohlwollen Herbert Wehners.
In der stern-Redaktion hatte Bauer bald den richtigen Platz gefunden. Seine Nützlichkeit für die lllustrierte war ebenso groß wie diejenige für Wehner und die SPD. Ein Mann mit seinen Erfahrungen war unbezahlbar und unersetzlich. Meine Zusammenarbeit mit dem stern und Leo Bauer dauerte nur wenige Monate. Ich schrieb eine Serie über Walter Ulbricht und erhielt dadurch Einsicht in das Material, das der stern mit seinen enormen Möglichkeiten beschafft hatte. Allerdings schrieb ich mich nur von Zusammenbruch zu Zusammenbruch voran und hielt die psychischen Belastungen dieser Art Auftragsarbeit kaum aus. Die Erfordernisse einer solchen Serie und meine inneren Schwierigkeiten passten nicht zusammen, so dass ich zur Zumutung wurde für die Redaktion. Noch heute bewundere ich den stellvertretenden Chefredakteur Victor Schuller, mit dem ich neben Bauer am meisten zu tun hatte, dass er sich nicht weigerte, mit mir zu arbeiten. Wahrscheinlich war ich, abgesehen von den politischen Dimensionen, für die Knochenmühle der Serienschreibe nicht geschaffen. Zwar kann ich beinahe pausenlos Manuskripte liefern, doch nicht unter einem von den Rotationsmaschinen befohlenen Rhythmus mit dem von außen kommenden Termindruck, auch brauche ich die Möglichkeiten fortgesetzter Korrekturen und Varianten, alles Dinge, die den Serienautor nicht kümmern dürfen.
Wir beendeten die Zusammenarbeit mitten in der Serie, die dann ohne meinen Namen weiterlief. Leo Bauer erschien um Mitternacht in unserer Kölner Wohnung – mit Koffer, in dem er die wichtigsten Materialien und Unterlagen abholte. Es befanden sich Aufzeichnungen von Herbert Wehner darunter, auf die Bauer besonderen Wert legte und jede Seite prüfte, ob auch alles vorhanden sei. Ich hatte mir Fotokopien angefertigt von diesen Texten. Da ich Wehner heimlich bewunderte, auch wenn ich politisch oft anderer Meinung war und dies sagte und schrieb, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, davon etwas gegen Wehner zu verwenden. Nur missfiel mir die Heimlichtuerei, mit der die Genossen Herbert und Leo die Wehnerschen Niederschriften umgaben. So forderten sie die Gegner geradezu heraus, über Wehner und seine kommunistische Vergangenheit zu giften. Eine rücksichtslose Offenlegung hätte diesem furiosen Politiker nur nützen können. Doch rate einer Gottes und der Parteien Funktionären, die doch per se alles besser wissen.
Unsere Wohnung mit dem Ulbricht-Material wurde mehrfach Ziel geheimnisvoller Geschäftigkeit. Namhafte Publizisten und politische Autoren aus aller Welt reisten an, Einblick zu erbitten. Mir wurde das bald zuviel, auch argwöhnte ich illegale Aktionen und hatte Grund dazu, was mich bewog, die wichtigsten Papiere, Wehners Aufzeichnungen darunter, außer Haus in Sicherheit zu bringen
Wie gut ich daran getan hatte, zeigte sich bald. Wir fuhren zehn Tage in die Ferien; als wir zurückkehrten, war die Wohnung heimlich durchsucht worden. Unklar blieb, hatten sich hier östliche oder westliche Interessenten betätigt. Ich bekam die Nase solcher Vorkommnisse wegen bald gestrichen voll und war heilfroh, als ich die Serie los wurde. Außerdem sah ich ein, dass wir über die wirklich wissenswerten Dinge wie das Verhältnis Ulbrichts zu Stalin so schnell nichts Effektives herausbringen konnten; es gab darüber weder eindeutiges Material noch wirklich glaubhafte Zeugenaussagen. Gerade auf diese internen Vorgänge und ihre Interpretation aber hätte ich Wert gelegt. Als wir dann in München wohnten, rief Leo Bauer eines Tages an. Er sei auf der Durchreise, habe kein Hotelzimmer bestellt, ob er eine Nacht bei uns bleiben könne. Er sprach seltsam unklar. Der Anruf wunderte mich. Seit Bauer zum Chefredakteur der Neuen Gesellschaft berufen worden war und überall als Kanzlerberater galt, hatte er sich mir gegenüber zurückgehalten, was ich verstand und akzeptierte, denn jetzt pflegte er hohe Freundschaften, wurde oft mit Grass gesehen und musste vorsichtig sein. Die alte Freundschaft konnte politisch schaden.
Es war ein schöner sonniger Vormittag, ich ging auf Lauerstellung im Garten und verschnitt die Rosen. Keine halbe Stunde später hielt Bauers Wagen auf der Waldtruderinger Straße. Die Gartenschere in Händen ging ich hinaus. Mein Besucher blieb auf der anderen Straßenseite neben seinem Auto stehen und blickte nach vorn Richtung Wasserburger Landstraße. Ich lief hinüber. Vorn an der Kurve parkte ein schneller BMW. Sieh dir diese Gehlen- Kameraden an! sagte Bauer. Wir gingen ins Haus. Kann ich hier verschwinden, ohne dass die Kameraden was merken? Ich begriff und hatte mir schon meinen Vers drauf gemacht. Seit Wochen brachten die Zeitungen obskure Meldungen, wonach die SPD mit den italienischen Kommunisten Verbindungen aufgenommen habe und auf diesem Umweg mit der SED ins Gespräch kommen wolle. Dies lesend, hatte ich unwillkürlich an Leo Bauer gedacht, der nach wie vor zur KPI die besten Beziehungen unterhielt.
Wir bauten einen wunderschönen Türken. Ich öffnete die beiden hölzernen Flügel des wackeligen Gartentors, Bauer fuhr seinen Wagen herein und parkte sichtbar vor dem Haus, in das wir uns beide zurückzogen. Ich sammelte später gemächlich noch ein paar Gartenutensilien ein und hielt nach dem BMW Ausschau. Er parkte noch immer hundert Meter weiter vorn. Zwei ältere bullige Herren saßen im Wagen, ein jüngerer Mann schlenderte auffallend gelangweilt die Waldtruderinger Straße entlang.
Ich begleitete Bauer hinter dem Haus in den Dschungel, wie wir das Stück nannten, das im prächtigsten Wildwuchs prangte. Von hier gelangte er durch einen Zaun, dessen Latten man abheben konnte, ins nächste Grundstück und von dort auf die Parallelstraße. Ich hatte ihm beschrieben, wie er auf Umwegen zur Post käme, wo er sich von der öffentlichen Fernsprechzelle aus ein Taxi rufen und in die Stadt zum verabredeten Treff fahren könne.
Bauer kehrte kurz vor Mitternacht zurück. Mit dem Taxi. Der BMW stand noch immer in Lauerstellung. Die Kameraden von Gehlen werden nicht schlecht geflucht haben. Wir tranken eine Flasche Wein, redeten und gingen erst gegen Morgen zu Bett. Andern Tags fuhr Bauer nach Bonn zurück. Der Überwachungs-BMW stand nicht mehr in der Straße. Bauer sagte, er werde in Kürze nach Rom fliegen, da kämen die Gehlen-Kameraden dann wieder mit. Sie wüssten stets gut Bescheid und er könne sie immer nur für wenige Stunden abschütteln. Schade, sagte ich, dass wir in Rom kein Haus gemietet haben. Bauer hustete, er sah blass aus und schien nicht in bester Form; hager und kränklich kam er mir vor. Das war nicht mehr der kräftige aktive Mann, den ich gekannt hatte. Wahrscheinlich wühlte die Krankheit schon in ihm. Wir beredeten zum letzten Male unsere alten Lieblingsthemen. Ich erkundigte mich nach Wehners Stimmungslage. Ob der antike Löwe die Bourgeoisie noch immer für unfähig halte, dem Kommunismus Widerstand zu leisten? Wenn es dem Bürgertum ans Leder geht, bleiben nur zwei Möglichkeiten – entweder faschisiert oder ergibt es sich! Das hatte Leo Bauer schon vor vielen Jahren als Wehners Meinung wiedergegeben. Ich pflichtete aus eigener Erfahrung bei. Nur sah Wehner in einer aktivierten Sozialdemokratie die Rettung, und da blieb ich skeptisch. Das sozialdemokratische Selbstverständnis machte zu einschneidenden Reformen unfähig. So erstarrten die Besitz- und Produktionsverhältnisse, woraus folgen musste, dass die Klassenkonflikte sich unvermeidlich zuspitzen würden, der Westen also auf die Dauer unsicheren Zeiten entgegen ginge.
Im Frühjahr 1971 sah ich Bauer zum letzten Mal. Es war bei einer offiziellen Veranstaltung inmitten eines Pulks von Politikern und Leibwächtern, die Willy Brandt umgaben. Jemand winkte mir aus der Gruppe mit einer müden Bewegung zu. Beinahe hätte ich den Winkenden übersehen. Auch erkannte ich den Mann nicht gleich. Er war groß und hager. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass dies Leo Bauer gewesen sein muss, nein, der Schatten Bauers. Von seinem Tod las ich dann in der Presse.
Leo Bauer hatte wie Herbert Wehner und andere Exkommunisten viele Demütigungen hinnehmen müssen. Nur selten sprach er davon. Man beredet derlei höchstens unter guten Freunden. Ich selbst hatte mir gleich zu Anfang eine Art dicker Schutzhaut zugelegt, denn wer auf jede Demütigung regieren wollte, verwandelte sich schnell in ein Nervenbündel.
Soweit gekommen mit den Notizen aus lang vergangenen Zeiten, wollte ich wie im Titel angekündigt zu den zwei weiteren dem Marx-Kopf entsprungenen Genossen Exgenossen übergehen, doch unser Haus-Archiv offenbarte einen vierten Kandidaten: William S. Schlamm, früher Chefredakteur der Exil-Weltbühne, danach aber in Axel Springers Welt und Welt am Sonntag zum Kolumnisten rechter Hand avanciert.
Zwerenz-Artikel in konkret von 1971
Für diesen Schlamm wird Willy Brandt zum »bösen Serenissimus von Bonn« und unser Leo Bauer zu seinem »Geheimrat, der Brandt und Egon Bahr zur teuflischen neuen Ostpolitik anstiftet.« Aufgeschreckt begriff ich, was ich mit meiner Hilfe für Leo Bauer gegen die Nachstellungen des BND angerichtet und ergo mit zu verantworten hatte. Bauer ist Brandts »Bundesberater … Bundesdenker … Bundesideologe … Bundesbeauftragter in geheimen Kontakten mit den kommunistischen Parteien Europas … Leninist … trojanischer Esel, nein, kein Esel, aber ein ausgezeichnet trainierter leninistischer Fuchs …« Und was sonst noch? Zur besseren Übersicht fasste ich die Schlamm-Invektiven vor längerer Zeit schon mal in der Zeitschrift konkret 2/1971 zusammen:
Die Schlamm-Schlacht des von Axel Springer favorisierten Hau-drauf-Journalisten gegen Leo Bauer steigerte sich von Woche zu Woche, selbst Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal des Ghetto-Aufstands in Warschau wird auf Bauers verderblichen Einfluss zurückgeführt, denn Bauer wie Herbert Wehner und Egon Bahr bewirkten mit ihrer neuen Ostpolitik als »trojanische Esel« den Sieg der Sowjets wie den Untergang Europas, deshalb Lieber tot als rot. Inzwischen schreibt man das Jahr 2013, wir leben noch, nicht tot, doch immer noch rot angesichts der penetranten Nachfolger des 1978 in Salzburg verstorbenen William S. Schlamm.
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Selbst ein kluger Golo Mann wurde bei Bild zum total falschen Propheten
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Im Nachruf 10 vom 14.4.2013 zitierten wir aus Wolfgang Eckerts Gedichtband Rettet die Clowns. Die lyrischen Charakterporträts stammen aus Meerane, einem der typischen Orte im Dreieck zwischen Leipzig – Chemnitz – Zwickau. Zur Lyrik-Sammlung gehört der Eckertsche Erzählband Das ferne Leuchen der Kindheit. Als ich 1990 mein Geburtsland wieder besuchen durfte, erlebte ich bei meinen Lesungen sowohl Licht wie Schatten. Die Frage ist, weshalb Sachsen seine Vergangenheit heute so bemüht verdunkelt und verdüstert. Wie wäre es mit dem ungescheuten Ausleuchten unserer Kindheit? Außerdem bieten wir unterschiedliche Jugenderinnerungen zu unterschiedlichen Zeiten auf. »Als die Indianer kamen« betitelt Eckert den Einmarsch der Amerikaner. So cool wie exakt kann Kindheit und globale Historie im Fußball in eins zusammenfinden:
»An solch einem Fußballtag kam einmal ein Mann die Straße daher in einer Uniform, die keine mehr war, denn es blitzte nicht an ihr. Um seine bloßen Füße hatte er Lappen gewickelt. Was ich damals nicht wusste: Bei seiner Flucht über das Kurische Haff hatte er sich die Zehen erfroren. Unter der Meute erkannte er mich und winkte. Er blieb stehen und wartete. Es war mein Vater. Aber ich hatte keine Zeit, zu ihm zu rennen. Für mich war er einfach wieder da. Warum sollte das nicht so sein? Ich war gerade dabei, ein Tor zu schießen.
Da ging er ins Haus, und ich hatte das Ende des Krieges nicht bemerkt.«
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Wolfgang Eckert
Das ferne Leuchten der Kindheit
Mironde 2010
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Eckert bietet sächsisches Understatement, Familien- und Weltgeschichte in Lakonie, gewürzt mit so trockenem wie labendem Humor. Der Autor erlebte als Kind die Kriegsjahre, als Jugendlicher die Nachkriegszeit mit einer soliden Berufsausbildung zum Weber und später als Schriftsteller die DDR mit dem folgenden West-Anschluss. In Fremdheit vereinsamt, wie von vielen seiner, unserer Ost-Kollegen zu hören ist. Hier fünf charakteristische Zeilen aus Eckerts Gedichtband:
Wir, die Geläuterten
Eines gescheiterten Systems,
die nun in einem anderen sind,
müssten aus den Herztönen
den neuen Kollaps hören.
Zur Zufallsdramaturgie: Ausgehend vom Chemnitzer Marx-Monument ist an drei jüdische Linksintellektuelle zu erinnern. Der jüdische Ex-Linke W. S. Schlamm tritt als rechtsintellektueller Kalter Krieger und variabler Hetzer dazwischen. Mystifiziert Leo Bauer zum ewigen Moskau-Buben. Wir reagieren darauf mit Belegen, die ihn widerlegen, verschieben unsere erneute Parteinahme für Stefan Heym und Walter Janka auf demnächst und schalten den jüngeren an Ort und Stelle gebliebenen, insofern linken Heimatpoeten Wolfgang Ebert ein. Unser Chemnitzer Trio hatte wegen Gefahr für Leib und Leben flüchten müssen, Eckert gelangte daheim von einem Land ins andere. Kollaps oder Krebstod?
Leipzig im Mai/Juni 2013 auf allen Kanälen nichts außer Richard Wagner und Sigmar Gabriel. Selbst die Pleiße versucht sich rötlich und schafft es nur bis rostbraun. Aus Groß-Paris reist Genosse Hollande an, nuckelt an Gerhard Schröders Bierflasche herum, dass Peer Steinbrück vor Neid gelb wird und Angela ihn christlich tröstet. Bald wird sie nach London entfleuchen, die bayerischen Fußball-Löwen zu ölen. Ein Foto geht um die Welt: Leipzigs Marktplatz, üppig geplantes Sozi-Fest und lauter leere Sitzbänke. O Schreck – Sachsens 150 Jahre alte SPD schafft landesweit gerade mal noch 10%? Merkel lächelt Hollande zu, der ihr das rechte Händchen tätschelt, Gabriel steht raumgreifend dabei – was tun? Die ganz große Koalition von CDU/SPD und Berlin/Paris wird anvisiert? Egon Bahr protestiert wortreich. Erich Loest, als Völkerschlachtdenkmal verkleidet, tritt dazwischen und erinnert daran – die Sachsen zogen einst mit Napoleon bis nach Moskau und zurück bis Leipzig, wo sie die Franzosen verratend zu den Russen und Preußen überliefen. Zum Glück naht Joachim Gauck und hält flugs seine Volksfreiheitsrede. Ich bin leicht schockiert. In Leipzig dichtete ich einst Die Mutter der Freiheit heißt Revolution … und das auch noch am 30. Januar 1956 in der Kongresshalle meiner Partei mitten ins machthabende Gesicht. Ist Pastor Gauck ein verspäteter Plagiarius? Laut sage ich: Herr Bundespräsident, Sie sollten mich wenigstens vollständig zitieren! Von meinen eigenen Worten aufgeweckt aus dem festlichen Alptraum greife ich zur Zeitung und lese, Gabriel zitierte in Leipzig zum Schluss den abwesenden Ernst Bloch: Als Sozialdemokrat müsse man »ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern.« Jetzt müssen wir zum Tübinger Friedhof aufbrechen, dem 1977 verstorbenen Bloch Trost zu spenden, sonst rotiert der fälschlich angerufene Philosoph auf ewig im Grabe.
Das schöne Bloch-Wort von der Liebe zum Gelingen findet sich in Das Prinzip Hoffnung gleich anfangs im Vorwort. Von der SPD ist nicht im entferntesten die Rede. Aber » … der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus.« Immerhin erstaunt es, dass ein SPD-Vorsitzender mitten in Leipzig Bloch zitiert, wenn auch ohne zureichenden Bezug zum Philosophen. Das ginge auch exakter. Die Zeit ist günstig, die sächsische Metropole dazu der genuine Ort. Historische Ereignisse zwangen die besiegten KP-Genossen zu erheblichen Korrekturen. Was hindert die SPD an ähnlichen Schritten? Was hindert den Vorsitzenden Gabriel daran, am großen vergangenen Vorsitzenden Bebel Maß zu nehmen? Geschichtsrevisionen und klarer Blick zurück eröffnen den freien Blick nach vorn. 1914 verlor die SPD mit der Zustimmung zu des Kaisers Kriegskrediten ihren Verstand samt ihrer Seele. Auf die Abspaltung von USPD und Spartakus folgte die KPD-Grünädung. Sebastian Haffners Wort vom Verrat der SPD an den eigenen Werten manifestiert den objektiven Tatbestand. Das Bündnis, nein, die Kameraderie Ebert – Noske – Pabst führt von 1918/19 zu 1923, als Ebert die Reichswehr nach Sachsen und Thüringen einmarschieren lässt, um die von Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam gebildeten Regierungen niederzuschlagen. Zehn Jahre später tritt Hitler-Deutschland die Macht an. Das wäscht kein Heinrich August Winkler rein, auch wenn er den SPD-Nationalhistoriker herauskehrt und Sigmar Gabriel den Immanuel Kant als Genossen entdeckt, um sich Marx zu ersparen. Im Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revolution von 1956 steht gegen Ende: »Ihr schliefet den Schlaf der Ungerechten. Erwacht, und lasst uns gemeinsam besser fechten.« Die kleine Gedichtzeile war der authentische Wunsch vieler. Die Partei wagte nicht, authentisch revolutionär zu sein und antwortete repressiv. Geschehen in Leipzig und Ostberlin. Was hindert SPD und Linkspartei heute an der gemeinsamen Liebe zum Gelingen? Blochianer nennen das den 3. Weg suchen. Die Genossen brauchten dazu nicht mal über ihren Schatten zu springen, das rote Herz über die Mauer im Kopf zu werfen genügte schon.
Das ferne Leuchten der Kindheit. Ein Marx-Kopf aus dem Exil in London nach Chemnitz. Drei Köpfe als Botschaft. Der Gang durch Parteien, Fronten, Kriege, Irrtümer. Das ferne Leuchten aus einem besiegten Land, das der Vergessenheit anheimfallen soll. Die Wüste breitet sich aus. Ortschaften schließen. Ganze Straßenzüge versinken Aber:
Polit-Promis zu Besuch Gucken Sie mal, wer Mittwoch alles in Leipzig war
So jubelte Bild am Freitagmorgen des 31.5.2013 in tomatensroten Groß-Lettern. Die Farbe ging rasch wieder verloren. Erhalten blieb die Schwarz-Weiß-Meldung über Schäuble und seine Rede in der historischen Schalterhalle der Deutschen Bank. Welch ein Geschichtsbewusstsein! Rätselfrage: Warum besuchte Gabriel in Leipzig nicht das Liebknecht-Haus? Weil Karl Liebknecht Kommunist wurde und Vater Wilhelm Liebknecht Marxist wie August Bebel war? Apropos Leipzig »…die Erscheinung Dimitroffs in Leipzig hat der Revolution mehr geholfen als tausend Referenten in Versammlungen.« Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit)
Das alles ist blanke Gegenwart im Huckepack der Vergangenheit. Inzwischen traten die Flüsse in Sachsen, Thüringen und Bayern vor lauter Wut aus ihren angestauten Flussbetten. »Die Pleiße war mein Mississippi« ist unsere Folge 23 im poetenladen überschrieben. Das war Erinnerung im fernen Leuchten der Kindheit und wurde erneute Realität. Wir werden darauf zurückkommen.
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