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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wider­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 16

Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf


Bei Ernst Blochs 80. Geburtstag 1965 in Tübingen: Leo Bauer schatten­haft zwischen Gerhar Zwerenz und dem 2010 ver­storbenen Jan Robert Bloch. Leo Bauer wurde1952 durch ein sowjetisches Militärgericht zum Tode verurteilt und später in Springers Welt am Sonntag der kom­munis­tischen Unter­wanderung von Willy Brandt beschuldigt



Beginnen wir mit unserem Leo Bauer. 1912 in Ost­gali­zien geboren. Mit zwei Jahren nach Chemnitz ins heute einge­schwärzte, damals rot­leuchtende Sachsen ver­bracht – galizischer Jude wird sächsi­scher Revo­lutionär, die Mischung stimmt. Und ausge­rechnet dieser Leo Bauer geht als Kanzler­berater in die An­nalen deutscher Ge­schich­te ein? Als ich den legen­dären Kämpen 1961 in der Redak­tion des stern kennen­lernte, sah ich zuerst die tiefe Trauer, die ihn um­schattete. Es gibt einen Augen­aus­druck, der sich nur bei im Zentrum getrof­fenen Ex­kommunis­ten findet.
  Bauer galt als arroganter, schwer verträg­licher Mensch, und manchmal war er das wohl auch. Er konnte sich von einem Augen­blick zum andern aus dem guten Freund in den hart­herzigen unbe­irr­baren Apparat­schik verwandeln, der er ja auch einmal gewesen sein muss. Doch welche Lasten hatte dieser Mann zu schleppen.
  Die alten Emigranten, die vor Hitler nach Paris geflüchtet waren, kannten Bau­er als geheimnis­vollen Geld­verwalter der KPF, der not­leidende Genossen über Wasser hielt. Nach dem Krieg schaffte sich Bauer im Hessischen Landtag als KPD-Ab­geord­neter viele Feinde, ging dann in die DDR und wurde Chef­redakteur im Rund­funk, bis ihn die Sowjets der Spionage für die USA ver­dächtigten, ver­hafteten, zum Tode ver­urteil­ten, zu 25 Jahren Lager begna­digten und nach Wor­kuta schick­ten, von wo er zurück­kehr­te, als Adenauer von Moskau die Heim­kehr der letzten Kriegs­gefan­genen und Häft­linge er­reichte. Bauer, auf seinen Wunsch in die BRD ent­lassen, trat in die SPD ein, fand das Wohl­wollen Herbert Wehners.
  In der stern-Redaktion hatte Bauer bald den richtigen Platz gefunden. Seine Nütz­lich­keit für die lllus­trierte war ebenso groß wie diejenige für Wehner und die SPD. Ein Mann mit seinen Erfah­rungen war unbe­zahlbar und uner­setzlich. Meine Zusammen­arbeit mit dem stern und Leo Bauer dauerte nur wenige Monate. Ich schrieb eine Serie über Walter Ulbricht und erhielt dadurch Einsicht in das Material, das der stern mit seinen enormen Mög­lich­keiten beschafft hatte. Aller­dings schrieb ich mich nur von Zusammen­bruch zu Zusammen­bruch voran und hielt die psychi­schen Belas­tungen dieser Art Auftrags­arbeit kaum aus. Die Erforder­nisse einer solchen Serie und meine inneren Schwierig­keiten passten nicht zu­sammen, so dass ich zur Zumu­tung wurde für die Redak­tion. Noch heute bewundere ich den stell­ver­tretenden Chef­redakteur Victor Schuller, mit dem ich neben Bauer am meisten zu tun hatte, dass er sich nicht weigerte, mit mir zu arbeiten. Wahr­schein­lich war ich, abge­sehen von den poli­tischen Dimensionen, für die Knochen­mühle der Serien­schreibe nicht geschaffen. Zwar kann ich beinahe pausen­los Manu­skripte liefern, doch nicht unter einem von den Rotations­maschinen befoh­lenen Rhythmus mit dem von außen kommenden Termin­druck, auch brauche ich die Mög­lich­kei­ten fort­gesetzter Korrek­turen und Varianten, alles Dinge, die den Serien­autor nicht kümmern dürfen.
  Wir beendeten die Zusammenarbeit mitten in der Serie, die dann ohne meinen Namen weiter­lief. Leo Bauer erschien um Mitter­nacht in unserer Kölner Wohnung – mit Koffer, in dem er die wichtigs­ten Mate­rialien und Unter­lagen abholte. Es be­fanden sich Auf­zeich­nungen von Herbert Wehner darunter, auf die Bauer beson­deren Wert legte und jede Seite prüfte, ob auch alles vor­handen sei. Ich hatte mir Foto­kopien ange­fer­tigt von diesen Texten. Da ich Wehner heimlich be­wunderte, auch wenn ich politisch oft anderer Meinung war und dies sagte und schrieb, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, davon etwas gegen Wehner zu verwenden. Nur miss­fiel mir die Heim­lich­tuerei, mit der die Genossen Herbert und Leo die Wehner­schen Nieder­schrif­ten umgaben. So forderten sie die Gegner geradezu heraus, über Wehner und seine kom­munis­tische Ver­gan­gen­heit zu giften. Eine rück­sichts­lose Offen­legung hätte diesem furiosen Polit­iker nur nützen können. Doch rate einer Gottes und der Parteien Funktio­nären, die doch per se alles besser wissen.
  Unsere Wohnung mit dem Ulbricht-Material wurde mehrfach Ziel geheim­nis­voller Geschäf­tig­keit. Namhafte Publi­zisten und poli­tische Autoren aus aller Welt reisten an, Einblick zu er­bitten. Mir wurde das bald zuviel, auch arg­wöhnte ich ille­gale Aktionen und hatte Grund dazu, was mich bewog, die wich­tigsten Papiere, Wehners Auf­zeich­nungen darunter, außer Haus in Sicherh­eit zu bringen
  Wie gut ich daran getan hatte, zeigte sich bald. Wir fuhren zehn Tage in die Ferien; als wir zurück­kehrten, war die Woh­nung heim­lich durch­sucht worden. Un­klar blieb, hatten sich hier östliche oder west­liche Interes­sen­ten betätigt. Ich bekam die Nase solcher Vor­kom­mnisse wegen bald gestrichen voll und war heil­froh, als ich die Serie los wurde. Außer­dem sah ich ein, dass wir über die wirk­lich wis­sens­werten Dinge wie das Verhältnis Ulbrichts zu Stalin so schnell nichts Effek­tives heraus­bringen konnten; es gab darüber weder ein­deuti­ges Mate­rial noch wirk­lich glaub­hafte Zeugen­aus­sagen. Gerade auf diese internen Vor­gänge und ihre Inter­preta­tion aber hätte ich Wert gelegt. Als wir dann in München wohnten, rief Leo Bauer eines Tages an. Er sei auf der Durch­reise, habe kein Hotel­zimmer bestellt, ob er eine Nacht bei uns bleiben könne. Er sprach seltsam unklar. Der Anruf wun­derte mich. Seit Bauer zum Chef­redak­teur der Neuen Gesell­schaft be­rufen worden war und überall als Kanzler­berater galt, hatte er sich mir gegen­über zurück­gehal­ten, was ich ver­stand und akzep­tierte, denn jetzt pflegte er hohe Freund­schaften, wurde oft mit Grass gesehen und musste vor­sichtig sein. Die alte Freund­schaft konnte poli­tisch schaden.

Es war ein schöner sonniger Vormittag, ich ging auf Lauerstellung im Garten und ve­rschnitt die Rosen. Keine halbe Stunde später hielt Bauers Wagen auf der Wald­truderinger Straße. Die Garten­schere in Händen ging ich hinaus. Mein Besucher blieb auf der anderen Straßen­seite neben seinem Auto stehen und blickte nach vorn Richtung Wasser­burger Land­straße. Ich lief hinüber. Vorn an der Kurve parkte ein schneller BMW. Sieh dir diese Gehlen-Kameraden an! sagte Bauer. Wir gingen ins Haus. Kann ich hier ver­schwinden, ohne dass die Kameraden was merken? Ich begriff und hatte mir schon meinen Vers drauf gemacht. Seit Wochen brachten die Zeitungen obskure Meldungen, wonach die SPD mit den italienischen Kommunis­ten Verbin­dungen auf­genommen habe und auf diesem Umweg mit der SED ins Gespräch kommen wolle. Dies lesend, hatte ich unwill­kürlich an Leo Bauer gedacht, der nach wie vor zur KPI die besten Bezie­hungen unterhielt.
  Wir bauten einen wunderschönen Türken. Ich öffnete die beiden höl­zernen Flügel des wacke­ligen Gartentors, Bauer fuhr seinen Wagen herein und parkte sichtbar vor dem Haus, in das wir uns beide zurückzogen. Ich sammelte später gemäch­lich noch ein paar Gar­ten­uten­silien ein und hielt nach dem BMW Aus­schau. Er parkte noch immer hundert Meter weiter vorn. Zwei ältere bullige Herren saßen im Wagen, ein jüngerer Mann schlen­derte auf­fallend gelang­weilt die Wald­trude­ringer Straße entlang.
  Ich beglei­tete Bauer hinter dem Haus in den Dschungel, wie wir das Stück nannten, das im präch­tigs­ten Wild­wuchs prangte. Von hier gelangte er durch einen Zaun, dessen Latten man ab­heben konnte, ins nächste Grund­stück und von dort auf die Parallel­straße. Ich hatte ihm beschrie­ben, wie er auf Umwegen zur Post käme, wo er sich von der öffent­lichen Fern­sprech­zelle aus ein Taxi rufen und in die Stadt zum ver­ab­redeten Treff fahren könne.
  Bauer kehrte kurz vor Mitternacht zurück. Mit dem Taxi. Der BMW stand noch immer in Lauer­stellung. Die Kameraden von Gehlen werden nicht schlecht geflucht haben. Wir tranken eine Flasche Wein, redeten und gingen erst gegen Morgen zu Bett. Andern Tags fuhr Bauer nach Bonn zurück. Der Über­wachungs-BMW stand nicht mehr in der Straße. Bauer sagte, er werde in Kürze nach Rom fliegen, da kämen die Gehlen-Kameraden dann wieder mit. Sie wüssten stets gut Bescheid und er könne sie immer nur für wenige Stunden abschütteln. Schade, sagte ich, dass wir in Rom kein Haus gemietet haben. Bauer hustete, er sah blass aus und schien nicht in bester Form; hager und kränklich kam er mir vor. Das war nicht mehr der kräftige aktive Mann, den ich gekannt hatte. Wahr­schein­lich wühlte die Krankheit schon in ihm. Wir beredeten zum letzten Male unsere alten Lieb­lings­themen. Ich erkun­digte mich nach Wehners Stimmungs­lage. Ob der antike Löwe die Bourgeoisie noch immer für unfähig halte, dem Kommunis­mus Widerstand zu leisten? Wenn es dem Bürger­tum ans Leder geht, bleiben nur zwei Mög­lich­keiten – entweder faschi­siert oder ergibt es sich! Das hatte Leo Bauer schon vor vielen Jahren als Wehners Meinung wieder­gegeben. Ich pflichtete aus eigener Erfah­rung bei. Nur sah Wehner in einer aktivierten Sozial­demokratie die Rettung, und da blieb ich skep­tisch. Das sozial­demo­krati­sche Selbst­ver­ständnis machte zu ein­schnei­denden Reformen unfähig. So er­starrten die Besitz- und Pro­duktions­ver­hält­nisse, woraus folgen musste, dass die Klassen­konflikte sich unver­meidlich zuspitzen würden, der Westen also auf die Dauer un­sicheren Zeiten entgegen ginge.
  Im Frühjahr 1971 sah ich Bauer zum letzten Mal. Es war bei einer offiziellen Veran­staltung inmitten eines Pulks von Politikern und Leibwächtern, die Willy Brandt umgaben. Jemand winkte mir aus der Gruppe mit einer müden Bewegung zu. Beinahe hätte ich den Winkenden über­sehen. Auch erkannte ich den Mann nicht gleich. Er war groß und hager. Erst im Nach­hinein wurde mir bewusst, dass dies Leo Bauer gewesen sein muss, nein, der Schatten Bauers. Von seinem Tod las ich dann in der Presse.
  Leo Bauer hatte wie Herbert Wehner und andere Ex­kommunisten viele Demü­tigun­gen hin­nehmen müssen. Nur selten sprach er davon. Man beredet derlei höchs­tens unter guten Freunden. Ich selbst hatte mir gleich zu Anfang eine Art dicker Schutz­haut zugelegt, denn wer auf jede De­mü­ti­gung regie­ren wollte, ver­wandel­te sich schnell in ein Ner­ven­bündel.

Soweit gekommen mit den Notizen aus lang vergangenen Zeiten, wollte ich wie im Titel ange­kündigt zu den zwei weite­ren dem Marx-Kopf ent­sprun­genen Genossen Ex­genos­sen über­gehen, doch unser Haus-Archiv offenbarte einen vierten Kandi­daten: William S. Schlamm, früher Chefredakteur der Exil-Welt­bühne, danach aber in Axel Springers Welt und Welt am Sonntag zum Kolum­nisten rechter Hand avanciert.

Zwerenz-Artikel in konkret von 1971

Für diesen Schlamm wird Willy Brandt zum »bösen Se­renis­simus von Bonn« und unser Leo Bauer zu seinem »Geheimrat, der Brandt und Egon Bahr zur teuflischen neuen Ost­politik anstiftet.« Auf­ge­schreckt begriff ich, was ich mit meiner Hilfe für Leo Bauer gegen die Nachstellungen des BND ange­richtet und ergo mit zu ver­ant­worten hatte. Bauer ist Brandts »Bundes­berater … Bundes­denker … Bundes­ideo­loge … Bundes­beauf­tragter in ge­heimen Kon­takten mit den kom­munis­ti­schen Parteien Europas … Le­ninist … tro­jani­scher Esel, nein, kein Esel, aber ein ausge­zeichnet trai­nier­ter leninis­tischer Fuchs …« Und was sonst noch? Zur bes­seren Über­sicht fasste ich die Schlamm-Invek­tiven vor länge­rer Zeit schon mal in der Zeit­schrift konkret 2/1971 zusammen:

Die Schlamm-Schlacht des von Axel Springer favo­risierten Hau-drauf-Journa­listen gegen Leo Bauer steigerte sich von Woche zu Woche, selbst Willy Brandts Knie­fall vor dem Ehren­mal des Ghetto-Aufstands in Warschau wird auf Bauers ver­derb­lichen Ein­fluss zurück­geführt, denn Bauer wie Herbert Wehner und Egon Bahr be­wirkten mit ihrer neuen Ost­politik als »troja­nische Esel« den Sieg der Sowjets wie den Unter­gang Europas, des­halb Lieber tot als rot. Inzwi­schen schreibt man das Jahr 2013, wir leben noch, nicht tot, doch immer noch rot ange­sichts der pene­tranten Nach­folger des 1978 in Salz­burg ver­stor­be­nen William S. Schlamm.
 
Selbst ein kluger Golo Mann wurde bei Bild zum total falschen Propheten



Im Nachruf 10 vom 14.4.2013 zitierten wir aus Wolfgang Eckerts Gedichtband Rettet die Clowns. Die lyrischen Charakterporträts stammen aus Meerane, einem der typi­schen Orte im Dreieck zwischen Leipzig – Chemnitz – Zwickau. Zur Lyrik-Sammlung gehört der Eckert­sche Erzähl­band Das ferne Leuchen der Kindheit. Als ich 1990 mein Geburts­land wieder besuchen durfte, erlebte ich bei meinen Le­sungen sowohl Licht wie Schatten. Die Frage ist, weshalb Sachsen seine Ver­gan­gen­heit heute so bemüht verdunkelt und ver­düstert. Wie wäre es mit dem unge­scheuten Aus­leuch­ten unserer Kind­heit? Außerdem bieten wir unter­schied­liche Jugend­erin­nerungen zu unter­schied­lichen Zeiten auf. »Als die Indi­aner ka­men« betitelt Eckert den Ein­marsch der Ameri­kaner. So cool wie exakt kann Kind­heit und globale Historie im Fußball in eins zusammen­finden:
  »An solch einem Fußballtag kam einmal ein Mann die Straße daher in einer Uniform, die keine mehr war, denn es blitzte nicht an ihr. Um seine bloßen Füße hatte er Lappen gewickelt. Was ich damals nicht wusste: Bei seiner Flucht über das Kurische Haff hatte er sich die Zehen erfroren. Unter der Meute erkannte er mich und winkte. Er blieb stehen und wartete. Es war mein Vater. Aber ich hatte keine Zeit, zu ihm zu rennen. Für mich war er einfach wieder da. Warum sollte das nicht so sein? Ich war gerade dabei, ein Tor zu schießen.
  Da ging er ins Haus, und ich hatte das Ende des Krieges nicht bemerkt.«


Wolfgang Eckert
Das ferne Leuchten der Kindheit
Mironde 2010



Eckert bietet sächsisches Under­statement, Familien- und Welt­geschichte in La­konie, gewürzt mit so trocke­nem wie la­bendem Humor. Der Autor erlebte als Kind die Kriegsjahre, als Jugend­licher die Nachkriegszeit mit einer soliden Berufs­ausbildung zum Weber und später als Schrift­steller die DDR mit dem fol­genden West-An­schluss. In Fremd­heit verein­samt, wie von vielen seiner, unserer Ost-Kollegen zu hören ist. Hier fünf cha­rakte­ristische Zeilen aus Eckerts Gedicht­band:

Wir, die Geläuterten
Eines gescheiterten Systems,
die nun in einem anderen sind,
müssten aus den Herztönen
den neuen Kollaps hören.

Zur Zufallsdramaturgie: Ausgehend vom Chemnitzer Marx-Monument ist an drei jüdische Links­intel­lek­tuel­le zu erinnern. Der jüdische Ex-Linke W. S. Schlamm tritt als rechts­intel­lektuel­ler Kalter Krieger und variabler Hetzer dazwischen. Mysti­fiziert Leo Bauer zum ewigen Moskau-Buben. Wir reagieren darauf mit Belegen, die ihn widerlegen, verschieben unsere erneute Partei­nahme für Stefan Heym und Walter Janka auf demnächst und schalten den jüngeren an Ort und Stelle geblie­benen, insofern linken Heimat­poeten Wolfgang Ebert ein. Unser Chemnitzer Trio hatte wegen Gefahr für Leib und Leben flüchten müssen, Eckert gelangte daheim von einem Land ins andere. Kollaps oder Krebstod?
  Leipzig im Mai/Juni 2013 auf allen Kanälen nichts außer Richard Wagner und Sigmar Gabriel. Selbst die Pleiße versucht sich rötlich und schafft es nur bis rostbraun. Aus Groß-Paris reist Genosse Hollande an, nuckelt an Gerhard Schrö­ders Bierf­lasche herum, dass Peer Stein­brück vor Neid gelb wird und Angela ihn christlich tröstet. Bald wird sie nach London ent­fleuchen, die baye­rischen Fußball-Löwen zu ölen. Ein Foto geht um die Welt: Leipzigs Markt­platz, üppig geplantes Sozi-Fest und lauter leere Sitzbänke. O Schreck – Sachsens 150 Jahre alte SPD schafft landesweit gerade mal noch 10%? Merkel lächelt Hollande zu, der ihr das rechte Händchen tätschelt, Gabriel steht raum­greifend dabei – was tun? Die ganz große Koa­lition von CDU/SPD und Berlin/Paris wird anvi­siert? Egon Bahr protes­tiert wortreich. Erich Loest, als Völker­schlacht­denkmal verkleidet, tritt dazwischen und erinnert daran – die Sachsen zogen einst mit Napoleon bis nach Moskau und zurück bis Leipzig, wo sie die Franzosen verratend zu den Russen und Preußen über­liefen. Zum Glück naht Joachim Gauck und hält flugs seine Volks­freiheits­rede. Ich bin leicht schockiert. In Leipzig dichtete ich einst Die Mutter der Freiheit heißt Revo­lution … und das auch noch am 30. Januar 1956 in der Kon­gress­halle meiner Partei mitten ins macht­habende Gesicht. Ist Pastor Gauck ein verspäteter Plagiarius? Laut sage ich: Herr Bundes­prä­sident, Sie sollten mich wenigstens vollständig zitieren! Von meinen eigenen Worten aufgeweckt aus dem fest­lichen Alp­traum greife ich zur Zeitung und lese, Gabriel zitierte in Leipzig zum Schluss den abwe­senden Ernst Bloch: Als Sozial­demo­krat müsse man »ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern.« Jetzt müssen wir zum Tübinger Friedhof aufbrechen, dem 1977 verstorbenen Bloch Trost zu spenden, sonst rotiert der fälsch­lich angerufene Philosoph auf ewig im Grabe.
  Das schöne Bloch-Wort von der Liebe zum Gelingen findet sich in Das Prinzip Hoff­nung gleich anfangs im Vorwort. Von der SPD ist nicht im entferntesten die Rede. Aber » … der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus.« Immerhin erstaunt es, dass ein SPD-Vorsitzender mitten in Leipzig Bloch zitiert, wenn auch ohne zu­reichen­den Bezug zum Philo­sophen. Das ginge auch exakter. Die Zeit ist günstig, die sächsische Metro­pole dazu der genuine Ort. Histo­rische Ereig­nisse zwangen die besiegten KP-Genos­sen zu erheblichen Korrekturen. Was hindert die SPD an ähnlichen Schritten? Was hindert den Vor­sitzenden Gabriel daran, am großen ver­gangenen Vor­sitzenden Bebel Maß zu nehmen? Geschichts­revisionen und klarer Blick zurück eröffnen den freien Blick nach vorn. 1914 verlor die SPD mit der Zu­stimmung zu des Kaisers Kriegs­kre­diten ihren Verstand samt ihrer Seele. Auf die Ab­spal­tung von USPD und Spar­takus folgte die KPD-Grün­ädung. Sebastian Haffners Wort vom Verrat der SPD an den eigenen Werten manifestiert den objektiven Tatbestand. Das Bündnis, nein, die Kame­raderie Ebert – Noske – Pabst führt von 1918/19 zu 1923, als Ebert die Reichswehr nach Sachsen und Thüringen ein­marschieren lässt, um die von Sozial­demo­kraten und Kom­munis­ten gemein­sam gebildeten Regie­rungen nieder­zu­schlagen. Zehn Jahre später tritt Hitler-Deutsch­land die Macht an. Das wäscht kein Heinrich August Winkler rein, auch wenn er den SPD-Na­tional­histo­riker heraus­kehrt und Sigmar Gabriel den Immanuel Kant als Genossen entdeckt, um sich Marx zu ersparen. Im Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revo­lution von 1956 steht gegen Ende: »Ihr schliefet den Schlaf der Unge­rechten. Erwacht, und lasst uns gemein­sam besser fechten.« Die kleine Gedicht­zeile war der au­then­tische Wunsch vieler. Die Partei wagte nicht, authentisch revolutionär zu sein und ant­wor­tete repres­siv. Geschehen in Leipzig und Ost­berlin. Was hindert SPD und Links­partei heute an der gemein­samen Liebe zum Gelingen? Blochianer nennen das den 3. Weg suchen. Die Genos­sen brauchten dazu nicht mal über ihren Schatten zu springen, das rote Herz über die Mauer im Kopf zu werfen genügte schon.
  Das ferne Leuchten der Kindheit. Ein Marx-Kopf aus dem Exil in London nach Chemnitz. Drei Köpfe als Botschaft. Der Gang durch Parteien, Fronten, Kriege, Irrtümer. Das ferne Leuchten aus einem besieg­ten Land, das der Ver­ges­sen­heit anheim­fallen soll. Die Wüste breitet sich aus. Ort­schaften schließen. Ganze Stra­ßen­züge versinken Aber:

Polit-Promis zu Besuch Gucken Sie mal, wer Mittwoch alles in Leipzig war

So jubelte Bild am Freitagmorgen des 31.5.2013 in tomaten­sroten Groß-Lettern. Die Farbe ging rasch wieder verloren. Erhalten blieb die Schwarz-Weiß-Meldung über Schäuble und seine Rede in der histo­rischen Schalterhalle der Deutschen Bank. Welch ein Geschichts­bewusst­sein! Rätsel­frage: Warum besuchte Gabriel in Leip­zig nicht das Liebknecht-Haus? Weil Karl Lieb­knecht Kommunist wurde und Vater Wilhelm Liebknecht Marxist wie August Bebel war? Apro­pos Leipzig »…die Erschei­nung Dimitroffs in Leipzig hat der Revo­lution mehr geholfen als tausend Refe­renten in Ver­sammlungen.« Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit)

Das alles ist blanke Gegenwart im Huckepack der Vergangen­heit. Inzwi­schen traten die Flüsse in Sachsen, Thüringen und Bayern vor lauter Wut aus ihren ange­stau­ten Fluss­betten. »Die Pleiße war mein Missi­ssippi« ist unsere Folge 23 im poeten­laden überschrie­ben. Das war Erin­nerung im fernen Leuchten der Kind­heit und wurde erneute Rea­lität. Wir werden darauf zurück­kommen.
Gerhard Zwerenz    10.06.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon