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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
1 Nachrufe & Abrechnung |
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Zwischenbericht zum Jahreswechsel 2012/13
Von Nietzsche zu Heidegger und Hitler oder
von Nietzsche zu Marx und Bloch?
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman- Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln).
Der Dritte Teil trägt den Titel:
Nachrufe & Abrechnung und soll gehen, bis es nicht mehr weitergeht.
Was hiermit höflichst angezeigt wird. Inklusive Dank an die Weggenossen. Aus dem nahen Saarland mailte Michael Mansion:
»Euer vorerst letzter Poetenladen-Beitrag macht ein wenig melancholisch, aber dies nicht des Inhalts wegen. Alle Beiträge waren für mich auch ein Gang durch einen guten Teil nicht selbst erlebter Geschichte. Es gab (mir) bekannte und unbekannte Namen, Situationen, Kuriositäten und bitter ernste Sachen und es gab so etwas wie einen dialektischen Leitfaden, der sich nicht so einfach aufrollen lässt, weil da ein ganz großer Denker in der Rolle sitzt, um den sich das alles (auch) dreht.
Die Welt als Versuch im Micro und Macrokosmos und darin eine zum Philosophieren durchaus befähigte Spezies, die auf Fußballplätzen randaliert, anstatt die richtigen Drecksäcke an Laternen zu hängen. Du bist ein Feuerkopf, benutze deinen Verstand! schallts mir da aus der Oberwelt entgegen und ich kann mich temporär beruhigen, so lange ich nicht wieder Nachrichten höre und meiner 94 Jahre alten Mutter einen Höllenschrecken einjage, wenn ich losbrülle. Was bedeutet es, die Erbschaft einer Zeit anzunehmen?«
Aus dem Pleißenland reagiert Waltraud Seidel:
»Zum Teufel mit dem Tod, dort hätte er genug zu tun! Was habt Ihr uns zunächst für einen Schrecken eingejagt, lieber Gerhard, liebe Ingrid, zumindest bis der Text die vielfältigsten Betrachtungsweisen dieses diffizilen Themas freigab. Eine Gesellschaft, die das Sterben nach Gehaltsklasse und Besitz einrichtet, ist sterblicher als sie glaubt. – Den Satz habe ich herausgelöst, er gehört in die Kopfbögen der Versicherungsagenturen, die uns ständig attackieren, den Hinterbliebenen doch die Freude an unserem Tod nicht durch anfallende Kosten zu vermiesen. Die könnte unser Nachwuchs eh' nicht bezahlen, also sind wir der Trauer gewiss. Herrlich die Ideen zur Widergeburt.«
Herzlich wütend Andreas Mytze von den europäischen ideen aus London gegen Tod, Teufel und Broder mit dem Schlusssatz: »Liebe Freunde von der Sichtbaren Front: Geht das so? oder ist das milde (zu scharf) formuliert???«
Das Netz ist durchschwirrt von diplomierten Fürzen. Einer ließ sowas fahren: »Natürlich gab es scharfe und verletzende und sehr berechtigte linke Kritik an passiv-aggressiven Heulsusen und Opferdarstellern wie Gerhard Zwerenz, Alice Schwarzer oder der Friedensbewegung.« So ein Dödel aus der Kriegsbewegung.
Zuspruch kommt zeitgleich vom sonst recht blochfremden Neuen Deutschland, am 15./16. 12. 2012 findet sich in unten links von jrs ein kerniges Zitat des Philosophen aus dem ersten Schweizer Exil: »Das was hier gestümpert wurde, ist nicht zu halten, hier ist die zwölfte Kugel abgefeuert, von der im Freischütz gesprochen wird, und die den Schützen trifft.« Die Sottise könnte heute direkt auf die Regierungsbank gemünzt sein. Mein Langzeitgedächtnis schaltet sich ein. Da war doch etwas? Siegfried Prokop in Zwischen Aufbruch und Abbruch – Die DDR 1956:
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Die verschenkte Alternative
Siegfried Prokop
Zwischen Aufbruch u. Abbruch
Homilius Verlag 2007
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Der Rückblick auf vergessen gemachte DDR-Geschichten der fünfziger Jahre ruft eine vorangegangene Schlüsselszene ins Gedächtnis:
Vor der Mauer von 1961 stand die Kopf-Mauer von 1956/57. Mit der Wende gegen Bloch rettete Ulbricht damals seine Macht im Politbüro und signalisierte, Partei und Staat entledigten sich intellektueller Potentialität ohne Rücksicht auf Volksfront-Begleitung. Als ich am 30.1.1957 in der Leipziger Kongresshalle auf Siegfried Wagners Polemik gegen mein Freiheitsgedicht, aus dem er zitierte, mit dem Vorlesen aller Strophen reagierte, lag die Entscheidung beim Publikum, den versammelten, teils mit Bussen aus dem Land herangekarrten Kulturarbeitern. Es herrschte Schweigen, am Ende Schlussapplaus für die Partei und ihren erneuerten Rückwärtskurs. Später wurde mir heimlich Wagners Redemanuskript zugespielt. Es besteht aus der Zeitungsseite mit dem Gedicht samt Wagners Anmerkungen und enthält in aller Kürze das Kernprogramm unserer Differenzen. Die Kongresshallen-Szene schilderte ich erstmals 1974 in Der Widerspruch, erschienen bei S. Fischer, Frankfurt/Main, 1991 legte der Aufbau-Verlag mit einer TB-Ausgabe nach. Nie wurde ich darauf angesprochen. Das gesamte 5-Punkte-Programm des Jahres 1957 gegen Bloch soll vergessen sein. Der Westen hat keine Ahnung, der Osten will keine haben. Das wär ja gelacht.
Wir waren vier Schulfreunde. Drei wurden zur Wehrmacht eingezogen und fielen im Juli 1944 in Frankreich von derselben Bombe getroffen. Ich meldete mich lange zuvor freiwillig zur Luftwaffe, um als Pilot das Land verlassen zu können. Weil das misslang, ging ich im August 1944 per pedes zur Roten Armee und überlebte in etwas abenteuerlicher Gefangenschaft. Über Moskau, Minsk und Zwickau kam ich acht Jahre später nach Leipzig, wo ich den Philosophen Ernst Bloch kennenlernte und im Jahr darauf eine gewisse Ingrid, die es nach 1945 aus Liegnitz über die Oder-Neiße-Grenze ins sandige Brandenburg und dann in die sächsische Messestadt verschlagen hatte. Also, ohne den Umweg über die roten Russen lägen meine werten Knochen mit denen meiner drei zerbombten Schulfreunde vereint in der Normandie, was ja auch eine schöne Gegend ist. Wer, verdammt nochmal, man möge mir die Frage verzeihen, schriebe dann diese luftige Autobiographie? Ich bin ein Übriggebliebener aus der Weimarer Republik wie Ingrid eine Übriggebliebene aus Niederschlesien ist. Unsere Wahlheimat Leipzig, wo wir bleiben wollten, blieb uns nicht. So gingen wir über Berlin, Köln, Irland, München, Frankfurt und Offenbach in den Taunus, wo er am höchsten ist und Brunhilde einst mit Felsbrocken um sich warf. Wir betreiben hier eine kleine mobile Wortwerkstatt mit Bibliothek wie Casanova einst im böhmischen Dux. Manchmal sitzen wir ungläubig lauschend in den Bergen herum und erzählen uns einfach bunte Geschichten von dir und mir. Kann aber auch sein, mich packt plötzlich ein honoriger Wutanfall:
Kurze Rekapitulation: Nietzsches Satz von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, inzwischen zu sprichwörtlichem Rang gelangt, bildet für Bloch den Gegenpol eigenen Denkens. Sein Dreisatz: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« bildet das Herzstück seiner revolutionären Philosophie. Die ersten beiden Sätze als Diagnose. Der dritte Satz könnte eine aus These und Antithese gezogene Synthese sein. Ist es aber nicht. Dass wir, Mensch und Menschheit erst im Werden begriffen sind, bleibt willentlich bedingt, indem wir den ewig sich wiederholenden Kreislauf durchbrechen oder nicht. Brechts Diktum über Karthago – noch stark nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten, unauffindbar nach dem dritten Krieg demonstriert den statischen Kriegskreislauf. Blochs Dreisatz mit der Forderung, den menschlichen Werdegang nicht in Kreisen enden zu lassen, wird im Postulat des aufrechten Ganges zum Prozess mit offenem Ausgang. Das Tier ohne aufrechten Gang, der Mensch auf dem Weg in der steten Versuchung, ins Animalische zurückzufallen. Schopenhauers Satz vom Menschen als Raubtier führt direkt zu Nietzsches Zarathustra als Übermenschen, der sich zur blonden Bestie mausert. Bloch dazu: Nietzsche stellte die richtigen Fragen und gab die falschen Antworten. Die richtigen Antworten suchte der junge Bloch im Übergang von Nietzsche zu Marx. Deshalb die Vorliebe für die Dissertation von Marx und seine 11 Feuerbach-Thesen mit dem Ton auf der 11. These, die zur 12. drängt.
Wir waren und sind so frei, diese 12. These in Blochs Sinn als Variante der 11. hinzuzufügen: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sich zu verändern.« Kannst du die Welt verändern ohne dich selbst zu verändern, weil du ja auch ein Stücklein Welt bist? Das heißt, du bis frei und hast zu verantworten, was du tust oder unterlässt. Parteimarxisten lehnen das ab. Fühlen sich wohl im gegossenen Beton musealer Dogmen vieler Parteilehrjahre. Ihnen schreibt das Politbüro vor, wie die Gesellschaft zu verändern ist. So schreiten sie siegesgewiss von Niederlage zu Niederlage. Soweit zu Linkerhand. Zur Rechten dies: Am 13. Dezember 2007 beklagte die FAZ per Leitartikel die »Wiederauferstehung des Antifaschismus« und damit des »Geistes der DDR.« In diesen Jahren feierte das NSU-Mördertrio bereits Halbzeit. Ob der FAZ-Leitartikler von redaktioneller Unwissenheit oder von postfaschistischem Ungeist zeugt, mögen die bürgerlichen Rechtsintellektuellen bitte selbst entscheiden. Von unserem Freund, dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, stammt der Satz, er befinde sich im Feindesland, sobald er sein Arbeitszimmer verlasse. Wir atmeten auf, wenn wir einander trafen. Ringsum war zuviel feindliche Vergangenheit verblieben.
Wie jedes Jahr im Januar wird in Berlin Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gedacht. Ein Stein auf dem Friedhof erinnert auch an die Opfer des Stalinismus. Ich denke zuerst an Leo Trotzki, wohlwissend, andere halten auch Hitler für ein Opfer des Stalinismus. Es ist an der Zeit, über die 11. Feuerbach-These nachzudenken und über deren Ergänzung durch eine 12. These im Geiste Ernst Blochs. Wieviel das mit der aktuellen Suhrkamp-Krise zu tun hat findet sich im Zweiten Teil des Zwischenberichts. Diese Information als Vorschuss – Ins Gelingen verliebt sein ist ein Satz von Bloch, der im Suhrkamp-Konflikt eine Rolle spielt. Dazu mehr im Jahr 2013. Ins Scheitern verliebt sein wäre keine lebenswerte Alternative.
Das bringt uns auf ein Märchen vom nachmalig vielgerühmten Mann im schönen alten Frankfurt am Main kurz nach Kriegsende. Der alte Mann mit Hut hatte sich schon in jüngeren Jahren zum König seiner Zeitung ernannt und regierte sie auch so. Er sammelte einige Minister um sich, die als leitende Redakteure galten und so gute Arbeit leisteten, dass sie den König aushielten und er sie. Ab und zu gab es Palastrevolten, dann sprang der Herrscher auf seinen riesigen Schreibtisch und schrie gegen Gott und die Welt, bis ihm die Luft ausging, Danach kam die Zeitung zustande, und sie war gut. Wie das Auge des Königs auf mich fiel, notierte ich erstmals im Bericht aus dem Landesinneren, der 1974 erschien und es sogar, vermutlich aus Versehen, zum Buch des Monats brachte, außerdem trug es mir beim König allerlei ein: a) einen Liebesbrief, b) ein Hausverbot, c) noch einen Liebesbrief samt zwei Bänden königlicher Poesie im Schuber mit Widmung:
Damit nicht genug, Karl Gerold verfasste eigens für mich ein Gedicht, hier am Ende des Textes abgedruckt. Der König dominierte über Jahrzehnte hin die Frankfurter Rundschau, die nun im Sterben liegt oder schon tot ist, wir berichteten darüber im 20. und 21. Nachwort. Es soll außer mir noch fünf Überlebende aus der Gerold-Zeit geben, die ich herzlich grüße. Falls das Blatt tatsächlich abgeht, ist es weder Selbstmord noch Freitod, sondern ein Unfreitod, unnötig, doch historisch erklärbar. Der Weltgeist lässt nicht mit sich scherzen. Er hat keinen Humor. Anders Karl Gerold, wenn er dichtete. So manch ein Wort wiegt schwer: Die Toten reiten in der Nacht, die man noch gestern umgebracht … Aus Gerolds Sammlung Ein Leben lang. Mein Dank auch für Die einsame Blume – ich verstand die Zeilen als Gruß eines zum ständigen Kampf gezwungenen sozialistischen Arbeiterjungen an seinesgleichen.
So einfach die zwölf Zeilen sich ausnehmen, es lohnt, sie zu inhalieren. Der Variante wegen:
Der zweite Teil des Zwischenberichts folgt am nächsten Montag
PS: Zum89. Nachwort »Von der Beschneidung bis zur begehbaren Prostata« blieben wir bisher die Antwort auf verschiedene Anfragen schuldig. Wir fassen zusammen: Wer Beschneidungen gegen das Grundgesetz durchsetzen will, sollte sich fairerweise selbst beschneiden lassen.
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