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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung
Die Sächsische Autobiographie, inzwischen ungetarnt offen als authentisches Autobiographie-Roman-Fragment – weil unabgeschlossen – definiert, besteht bisher aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nachrufe & Abrechnung.
Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Nachrufe & Abrechnung 38 |
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»Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
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»Hätte es mehr ...Menschen mit der Überzeugungskraft und Tapferkeit Carl von Ossietzkys ... gegeben, so wäre die Katastrophe vermieden worden.«
Thomas Mann
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Der Bundespräsident, Reisekader und Pastor Gauck war kürzlich in Prag unterwegs. Die FAZ überschreibt den Bericht am 7. Mai mit: Ein Wunder, sich in die Augen zu schauen – und erläutert das Wunder: »Gauck schlägt bei seiner Rede in Prag große historische Bögen, nimmt Anleihen bei Havel und auch bei Kafka – und blickt optimistisch in die Zukunft .« Am selben Tag meldet neues deutschland etwas exakter: Auch eine Geschichte des Leids – »Gauck erinnert in Prag an NS-Besatzung und Vertreibung der Sudetendeutschen. « Wir schlagen den historischen Bogen noch weiter und erinnern mit Dank an die Tausende deutscher Emigranten, die sich ab 1933 in Prag aufhalten durften, wo auch die aus Berlin über Wien geflüchtete Neue Weltbühne erscheinen konnte, bis die stolze siegreiche Wehrmacht nach Österreich und Sudetenland eben auch Prag mit Feldgrau und Parteibraun beglückte. Für die nächste Reise in die tschechische Hauptstadt empfehlen wir dem Staatsoberhaupt einen Besuch des Hauses Melantrichova 1. Vielleicht sind im Dachgeschoss noch die zwei winzigen Kämmerchen zu besichtigen, in denen die exilierte Weltbühne ihren Redaktionssitz hatte und von wo aus sie den verfolgten deutschen Linksintellektuellen ihren Widerstand zu artikulieren ermöglichte. Um Namen zu nennen: Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Stefan Heym, Heinrich Mann, Walter Mehring, Theodor Plivier, Erwin Piscator, Gustav Regler, Friedrich Wolf, Arnold Zweig. Wären Reichs- und Sudetendeutsche den antifaschistischen Aufrufen gefolgt, hätten weder Ostpreußen noch Schlesier oder Sudetendeutsche ihre teure Heimat verloren. In Zeiten der Kriege trifft es Schuldige wie Schuldlose. Wer den Krieg beginnt, sollte nicht in der Niederlage sein Los beklagen, das er anderen zugedacht hatte. Zum Tode Carl von Ossietzkys schrieb Bertolt Brecht:
Der Mund des Warners Ist mit Erde zugestopft.
Das blutige Abenteuer
Beginnt.
Das wurde 1938 in der Neuen Weltbühne zu Prag gedruckt. Die sich die Ohren zuhielten, um nicht zu hören, die ihre Augen verschlossen, um nicht zu sehen, haben keine Legitimation, heute die Klappe aufzureißen. Und ihre Ableger auch nicht. Sie sollten ihrem Gott danken, am Leben zu sein. Herr Bundespräsident, fahren Sie nach Prag, verbeugen Sie sich vor den Antifaschisten der ersten Stunde und danken Sie unseren tschechischen Schwestern und Brüdern für ihre frühe Solidarität.
Erstdruck neue deutsche Literatur 10/90. Nachdruck im Poetenladen sowie in der Lyrikzeitung, von Ingrid im Netz aufgefunden.Was aber entzweite Loest und Zwerenz zum Ende hin?
Der Mai 2014 ist saukalt. Im Osten wird wieder geschossen. Droht Rückkehr der Ostfront? Das habe ich hinter mir. Aus dem Albtraum auffahrend höre ich mich schimpfend erst kürzlich geschriebene Sätze repetieren. Aufstehen und nachschlagen. Gefunden im Nachruf 6, Seite 6: Unser Trupp, Rotarmisten und Deutsche, fordert eine abgeschnittene Restgruppe der Wehrmacht zur Übergabe auf. Zum Dank werden wir unter Feuer genommen. Im Kugelhagel zurückgekrochen. Auf beiden Seiten Verluste. Panzer rollen an, die letzten Wehrmachtshelden zu erledigen. Wer nicht hören will, muss bluten? Es ist nicht mein Krieg. In Leipzig, wenn von Blochs philosophischer Kategorie Front die Rede war, hörte ich Schüsse. Da lag der Krieg, der nicht meiner war, ein kleines Jahrzehnt zurück. Heute ist es mehr als ein halbes Jahrhundert. In der Zeitung werde ich belehrt, dass wir nichts wissen vom Wechselspiel zwischen Hitler und den Deutschen. Soweit es den Deutschen als Kollektiv gab, war Hitler sein Bauchredner.
Überfallartig setzt mir mein Gedächtnis zu. Eine Stimmung dient ihm als Hinterhalt. Eine besondere Art des Lichts, des Tons, ein bestimmter Geruch wird meinem Gedächtnis zum Angriffszeichen. Das Erinnerungsvermögen ist eine furchtbare Waffe, ein auf die Gelegenheit des Zustoßens lauernder Dolch, eine meuchelnde Hand, die ihn führt oder mit absichtslosen Bewegungen Gift in den Becher träufelt, wenig nur, Tag um Tag eine Spur, und daran siechst du hin, Tag für Tag um ein weniges mehr, um ein Gran weniger lebendig. Erinnerungen können töten. Ich kenne Menschen, die fliehen ihr Gedächtnis wie einen Mörder. Es gibt vielerlei Arten, an seinem Gedächtnis zu sterben. Manche erinnern sich nur im Schlafe. Ich hab schlimm geträumt, sagen sie nach dem Erwachen. Und ihre Gesichter sind bleich wie die Gestalten der Träume. Das sind Menschen, die ihr Gedächtnis nur liegend überfällt. Kaum haben sie sich erhoben, sind aufgestanden, Menschen in senkrechter Haltung, ist die Erinnerung von ihnen abgeglitten, sie waschen sich den Traum ab. Ihr Gedächtnis ist eine Frage der Toilette. Ich bewundere diese Menschen. Sie schlagen die Augen auf und schon ist die Zeit ihnen untertan. Wie glücklich sie sind, wie schön und unkompliziert, wie vollkommen glatt – solange sie wachen. Ich aber bin ein Opfer meiner Erinnerungen, die sich mit immer neuen Erfahrungen aufmischen. Mag sein, eine Zeitungsüberschrift wie Bischöfe debattieren über Pille danach ist so skurril wie die Klage des Meisterkochs über seinen Hunger am Herd.
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Am 15. Mai 2014 wird der neue Marx in der FAZ bereits verdammt
Thomas Piketty
Das Kapital im 21. Jahrhundert
Auf Deutsch ab November 2014
C.H. Beck
Das Buch auf Englisch
März 2014
Harvard University Press
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Im Nachruf 36 mit dem Titel Die unvollendete DDR als Vorläufer fragten wir, weshalb der fachlich wohlinformierte DDR-Ökonom Jörg Rösler den Namen Fritz Behrens verschweigt, wenn er über Das Neue Ökonomische System – NÖS der DDR berichtet. Heute, am 12. Mai 2014 bespricht Roesler in der jungen Welt ein eben erschienenes Buch über die NÖS und wieder fehlt es am Erfinder des Systems, der dafür repressiert wurde, bis sein Gegner Walter Ulbricht es zu spät und nur halbherzig einzuführen suchte. China setzte sein NÖS mit Erfolg durch. SU und DDR versagten und vergingen. Das Verhältnis heutiger Genossen zu den oppositionellen 56ern wie Behrens, Janka, Bloch u.a. ähnelt dem der Westler gegenüber den 68ern. Am besten vergessen. Indessen gilt fast schon global: Ein Rockstar-Ökonom erobert Amerika. (FAZ 10.05.2014) Die Medien sind voll davon. Vom Spiegel bis zu nd und jw macht ein Rock-Star Furore, der gar keiner ist, sondern ein neomarxistischer Partisan, den so zu nennen die Courage fehlt. Das Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty erregte in Frankreich wenig Aufsehen, schlägt jedoch, warum wohl, in den USA hohe Wellen und bringt damit das deutsche Feuilleton in Zugzwang. Ein linker Franzose, der in Amerika mit Marx wenigstens Teile des intellektuellen Überbaus aufstört, nur weil er die monströse Teilung der Gesellschaft der Kapitalkonzentration zuschreibt, rührt an den Nerv der Börsen- und Banken-Welt. Die Demokratie vergeht, die Oligarchie ergreift die Macht. Bei Piketty liest sich das in stringenten Formeln und Thesen so nachvollziehbar, wie die Lektüre bei Marx erheblicher intellektueller Energien bedarf. Das Kapital von Marx ist das meistgenannte ungelesene Buch der Welt. Pikettys Grundformel, in die Sprache der Alltagserfahrung übersetzt, heißt ganz unmissverständlich: Kapitalbesitz macht schneller reich als Lohn und Gehalt. Piketty sieht das wie Marx. Der setzte auf Revolution, Piketty nicht. Wer aber die Oligarchie nicht akzeptiert ist zu fragen, wie sie ohne Revolution zu verhindern wäre. Georg Büchner schrieb, wir erinnern uns, anno 1835: »Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt …« Das heißt, ohne Revolution herrschen die Leute mit den vergoldeten Arschlöchern. Kurzfassung: Der Verrat an Marx hilft so wenig wie der Verrat an Jesus Christus. Wo Jesus den Glauben predigt, setzt Marx auf Sprache&Logos, Aufklärung also. Beide scheiterten bisher an der Praxis. Soweit sind wir gerade mal wieder.
In der Erinnerungs-Serie von 2014 zurück zu 1914 befasst die Zeitung sich heute mit der Schlacht von Verdun. Arnold Zweig mit seinem Roman Erziehung vor Verdun bleibt ungenannt. Das ist kein Wunder, sondern konsequent. Hätte Verdun als exemplarische Menschenmaterialschlacht erziehend gewirkt, wären die späteren Taten samt der gesamten Geschichte anders verlaufen. Unser Hausarchiv im Untergeschoss enthält einen Großteil der Gablenzer Bibliothek, glücklich gerettet vor der Bücherverbrennung im Jahr 1933. Arnold Zweig, Ludwig Renn, Henry Barbusse, E. M. Remarque – was ergab sich aus all ihren Werken?
Nach dem 1. Weltkrieg brauchte Deutschland 15 Jahre, um sich stark genug für die nächste Welteroberung zu fühlen. Nach dem 2. Weltkrieg benötigte es dazu ein halbes Jahrhundert. Politik und Kultur sind ablesbar an der Literatur. Antikriegs- Bücher aus den Jahren der Weimarer Republik, die zahlreiche Leser fanden, wurden nach dem 2. Weltkrieg nicht adäquat fortgesetzt. Den Hitler-Verstehern folgten im Westen die Naziverbrechen-Verleugner und im Osten die von Stalin gedemütigten Genossen. Im Adenauer-Staat bemisstraute, vor Gericht gezerrte und verurteilte Kommunisten wichen vor der Haft oder danach in die DDR aus, wo sie entweder diszipliniert funktionierten oder den Kotau verweigerten und dafür zu büßen hatten. Die Konflikte wurden nach dem Untergang der DDR weder artikuliert noch bereinigt. Die Entfremdung der Bonn-Berliner Demokratie zur eskalierenden West-Oligarchie zeigt sich Tag für Tag deutlicher. Die Linke wurde in der Weimarer Republik besiegt, unter Adenauer minimiert, in der DDR behindert und verfälscht. Heute tritt die Berliner Republik das Erbe ihrer Vorläufer an. Es besteht die Gefahr, dass der nationale rechte Kreislauf wie 1914 von neuem beginnen und sich vollenden kann.
Jede historische Epoche wird von ihrer zuletzt genutzten Waffe geprägt. Auf Messer und Schwert folgten Gewehr und Kanone. Nach Panzer, Bomber und U-Boot folgt nichts mehr als deren Automatisierung. Man stelle sich vor, Roms Kaiser hätten wie unsere heutigen Machthaber einen Atomkoffer mit sich herumtragen lassen. Nero hätte nicht nur seine Stadt verbrannt. Die von uns seit Jahren verbreitete Warnung vor dem ewigen Kreislauf der Geschichte wird nun sogar von Helmut Schmidt vertreten. Zur Ukraine-Krise sagte er im Interview mit der Bild-Zeitung: »Die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag« … Europa stehe am Abgrund. So jener Ex-Kanzler, der einst mit dem NATO-Doppelbeschluss das ganze Land aufrührte. Macht das Alter weise? Seit dem Kriegsende beruft Schmidt sich auf Karl Popper. Nach dem Tode von Ernst Bloch bedauerte der Politiker in einem Beileidstelegramm an Karola Bloch, nicht beizeiten mit dem Philosophen diskutiert zu haben. Vielleicht hätte ihn das früher befähigt, vernünftige Entscheidungen zu treffen statt die Weichen Richtung künftiger Katastrophen zu stellen.
Unser Leben in begrenzten Erfahrungswelten versperrt den Ausbruch ins Unbekannte. Das Tellurische ist ebenso wenig erfahrbar wie das Metaphysische. Rückzug ist angesagt. Der Priester predigt, der Gläubige betet, der Techniker ersinnt stets neue Waffen, die der Soldat handhabt, während der Pragmatiker sich ums Haus kümmert, bis es zerbombt wird und der kollektive Fatalismus die nächsten naiven Optimisten ins Laufrad der Geschichte schickt. Das ist die Hölle des Kapitals, sagen die Revolutionäre, werden dafür zur Strafe verurteilt und finden sich ins Laufrad verbannt wieder. Vonwegen neue Menschen und Revolution. Dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt fehlte als Politiker die Courage, das zu realisieren, was er heute immerhin auszusprechen wagt. Zu spät, Genosse ... Was nun tun?
1956 regten Leipziger Studenten ein Seminar über Blochs Postulat vom aufrechten Gang an. Bloch er#-wog erst eine Vorlesung und verwarf dann den Plan, denn über einen Gang redet man nicht, man geht ihn. Nach Blochs Tod äußerte sein Sohn Jan Robert sich kritisch dazu mit dem Worten: »Wie können wir verstehen, dass zum aufrechten Gang Verbeugungen gehörten?« (Sinn und Form Mai/Juni 1991) Dazu unsere Variante in Sklavensprache und Revolte, Kapitel Der Mord an der Philosophie, erweiterbar auf Politik, Kultur, Literatur im 21. und wahrscheinlich letzten Jahrhundert. Gerade verlautet aus seriösen Wissenschaftskreisen, unsere Erde hat eine gewaltige Beule – wie der Planet sind zu viele der auf ihm lebenden an den Schalthebeln der Macht sitzende Menschen mit Beulen behaftet, am Kopf und im Kopf, also wird der Betrieb nicht mehr lange fortzuführen sein. Jan Robert Bloch hätte bedenken müssen, die revolutionäre Taktik seines Vaters ist das Gegenteil von Opportunismus. Die heute wieder mit einem Krim-Krieg spielen, ahnen nicht, welche ungeheuerlichen Verbrechen Wehrmacht und Rote Armee dort begingen, bevor die Krim als judenfrei heim ins Reich gemeldet wurde.
Wir empfehlen Die unsichtbare Flagge von Peter Bamm als autobiographisches Zeugnis eines Militärarztes über die Eroberung der Krim durch die Wehrmacht bis zur Meldung über die judenfreie Krim. Folgt die gnadenlose Rache der sowjetischen Armee bei der Rückeroberung. Das Buch erschien bereits 1952 in München und ist als authentischer Kriegsbericht bis heute unübertroffen. Wer es kennt und neue Ostfronten nicht prinzipiell ausschließt, der tanzt auf Massengräbern. Diagnose frei nach Peter Bamm: Chronische Erfahrungsresistenz. Von ihm stammt auch das Bekenntnis: »Es ist keiner von uns ganz schuldig am Ausbruch der Barbarei. Es ist auch keiner von uns ganz unschuldig.« Gibt es Fortschritte? Die Oberklasse zeigt sich heute kriegsgeneigter als die Mehrheit des Volkes. Von der Leyen »will Bundeswehr eher ins Ausland senden« – eine Frau der Zukunft eben. Steinmeier reist als Außenminister von Krise zu Krieg und Krieg zu Krise, bei Günther Jauch wird Putin resolut als Faschist benannt, was den toten Stalin erfreuen wird, er war ja nur Stalinist, inzwischen lockt Ungarns Orban alle außerhalb Ungarns lebenden Ungarn heim ins Reich, was von Rumänien bis zur Unkraine Unruhe schafft, als gäb's dort davon nicht schon genug, in Potsdam aber soll die traditionsreiche Garnisonskirche wieder erstehen, ein Film mit Hindenburg und Hitler wird gedreht, wer spielt den alten Bart und wer den jüngeren? Sie werden ihre Kriegsgeschichte nachspielen bis sie in die neuen Klitterungen passt. Ernst Jünger als Exempel deutscher Einheit geht längst wieder so flott um als wolle er sich selber abhören. Achtung Werbung: »Ernst Jünger – In Stahlgewittern – Ungekürzte Lesung von Tom Schilling, Hörverlag, München 2014. 10 CDs, 560 Min., 34,99 €«. Auferstehung der Helden in Wort, Bild und Ton? Die immense Werbung fürs Blutwurst-Buch passt akkurat in die gerade laufende Serie 1914-2014, was mich zu meinem eigenen patriotischen Beitrag reizt. Leider nicht zu hören, aber im poetenladen und in Die Venusharfe, München 1985 nachzulesen:
Abendlied eines Opfers der Flöhe
Im Gedenken an Ernst Jünger
(1982)
All meine schwulen Bedürfnisse hab
im Bajonettkampf ich abgenutzt
bis auf die Rippenknochen und das rote,
dampfende, herausgefetzte Gedärm.
All meine maßgeschneiderten Ängste
wurden erschossen an der Mauerwand.
Vergraben im Urnenfeld Verdun.
Auf dem Marsch durch sibirische Taiga.
Dass alle Menschen Brüder werden
ist so wahr wie das Salz im Meer.
Brüderlich vereint bleicht dein Gebein.
Deine Asche weht im Wind.
(Auf den Kanarischen Inseln, wo die
Passate wehn, kannst du, verstorben,
Jahrtausende überstehn. Als Fels
Und Höhlengestein. In Ewigkeiten sein.)
All meine Liebe wandt' ich den Gräsern
Und Käfern zu. Biologie im Urzustand.
Ich bin Goethe im Römer zu Frankfurt.
Nenn mich Anarch. Und schnarch.
Umgeben von jämmerlichen Adepten, die,
den Bajonetten entkommen, den großen
Mobilmachungen, ihren Speichel mir weihen.
Soll ich's verzeihen?
Ach, meine kriegerische Vergangenheit,
ach, meine pulverdampfende Befangenheit,
zivilistisch lebe ich getarnt.
Keiner hat vor den Flöhen mich gewarnt.
Für mich war der Fall damit als Satire abgeschlossen. In der FAZ vom 19. Mai 2014 jedoch gilt Jüngers In Stahlgewittern wieder als »wichtigste Darstellung des Ersten Weltkriegs.« Volksaufklärung für Intellektuelle, die mal etwas Originalgetreues über die Schlachten von 1914 – 1918 hören wollen? Unser Nachruf 38 geht am 26. Mai online, am Sonntag zuvor gab's Wahlen in Europa wie der Ukraine. Rückt Europa noch weiter nach rechts? Wohin steuert die Ukraine? Krieg nicht ausgeschlossen? Die FAZ am 19.5. mit der innigen Empfehlung, den Grabenkämpfer Jünger zu hören, bleibt zwei Tage später beim Graben: »Der deutsche Außenminister steht vor einem Graben …« Der arme Mann. Es geht um die bestimmende Rolle Deutschlands in der Welt. Die Elite will, das Volk will nicht. »Über diesen Graben lässt sich keine Brücke bauen. Die Politik aber hat keine Wahl.« So der Originalton FAZ. Wozu gab's am 25. Mai eigentlich Wahlen, wenn die Politik gar keine Wahl hat?
Am 23. Mai haut FAZ-Herausgeber Berthold Kohler gleich im Leitartikel gewaltig auf die Pauke. Im zweiten Satz hockt er schon wieder im Graben, der die mutige Elite vom kriegsunwilligen Volk trennt. Weitaus schlimmer, in den neudeutschen Ostländern sind die Wähler noch mehr für die schöne frühe BRD-Parole Ohne uns! als heute im Westen. Kohler am Ende seiner Jüngeriade: »Wer glaubt, Deutschland könne durch Grenzgängertum zwischen den Welten auf dritten Wegen zurück in jene paradiesischen Zeiten gelangen, in denen es weitgehend aus der Weltpolitik ausgeklammert war, irrt.« Woher weiß das der Herausgeber so genau? Lieber mit dem Volk auf dritten Wegen irren als mit dem strammen Leitartikler Kohler an der Ostfront wie die Väter im Graben landen.
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