April 2010
Um sich die gegenwärtig knapp gewordene Ressource Aufmerksamkeit zu sichern, verwandelt sich so mancher Schriftsteller in einen Schreihals. Zu den lautstarken Rabauken der Schrift, die sich mit grellen Provokationen exponieren, darf man auch den russischen Schriftsteller Edward Limonow rechnen, der seit Jahren literarische Aggressionstechniken ausprobiert, die der Subtilität unverdächtig sind. In seiner aktuellen Ausgabe No. 13 hat nun das Magazin „Krachkultur“ den rebellischen Schreihals Limonow als literarischen Kronzeugen adoptiert. Ende der sechziger Jahre hatte Limonow der Sowjetunion den Rücken gekehrt, um in New York und der Neuen Welt sein Glück zu finden. Was er fand, war ein Vagabundendasein unter Alkoholikern, Landstreichern und marginalisierten Emigranten, von denen er später in seinem autobiografischen Roman „Fuck off, Amerika“ und ähnlich drastischen Erzählungen berichtete. Zum Selbstverständnis dieses Autors gehört ein offen ausgelebter Größenwahn, der ihn dazu trieb, nach seiner Rückkehr nach Russland eine Nationalbolschewistische Partei zu gründen und sich als Wiedergänger Lenins gegen Russlands autokratischen Präsidenten Putin zu positionieren. Seine Erzählungen, die sich an Drastik und bewusst mobilisierten Klischees gegenseitig überbieten, sind so recht nach dem Geschmack der Zeitschrift „Krachkultur“, die mit den Limonow-Kostproben ihrem Namen alle Ehre macht. In der umfangreichsten Erzählung dieser „Krachkultur“-Ausgabe erwählt sich der Protagonist, ein russischer Emigrant in einem heruntergekommenen New Yorker Hotel, den italienischen Diktator Benito Mussolini zu seinem Vorbild. Limonow erzählt von der Kläglichkeit des Emigrantendaseins in New York, einem Leben in schmutzigen Hotels zwischen schwarzen Drogendealern, ausschweifenden Alkoholorgien, zusammengeschnorrter Sozialhilfe und unfassbarer Elendsprostitution. Für die haarsträubenden Abenteuer seines Helden findet Limonow einen rauen, aggressiven Ton der Männlichkeit, der sich mehr als einmal seiner eigenen Absurdität überführt. Auch die Identifikation des Helden mit Mussolini gehört zu den recht durchsichtigen Tricks, die Limonow anwendet, um seine Provokationsstrategie auf Touren zu bringen. Sein herber Realismus muss sich zudem ständig eines überdrehten Vulgäridioms bedienen, um die gewünschten Schockwirkungen zu erzielen.
Als deutsches Pendant des kunstvollen Schreihalses bringt die „Krachkultur“ einen altgedienten Bohemien und Männlichkeitsdarsteller ins Spiel: Wolf Wondratschek. Was hier Wolf Reiser in seiner Reportage über Deutschlands angeblich letzten „Rock-Poeten“ zusammengetragen hat, bedient aber nur die alte Wondratschek-Legende vom lonesome Cowboy, der sein Außenseitertum durch Begeisterung für den Boxkampf, für das Mafia- und das Prostituiertenmilieu kultiviert. Der Reporter ist sichtlich bemüht, dem Selbstverständnis des Autors zu schmeicheln und ihm die „Hingabe“ einer – so wörtlich – „blutenden Männerseele“ anzudichten. Was sich Wondratschek bei seinen Recherchen durch die Spelunken St. Paulis bis hin zu den Territorien des Wiener Opernmilieus jedenfalls immer bewahrt hat, ist seine „große Klappe“. An eitlem Selbstlob herrschte bei diesem Autor nie ein Mangel.
Während ein junges Literaturmagazin wie „Krachkultur“ gerne auf vordergründige, grelle Effekte setzt, da verstrickt sich eine traditionsreiche Zeitschrift wie „Sinn und Form“ lieber in die schmerzhaften Bewusstseinsherausforderungen unserer Epoche. „Sinn und Form“ ist auch im sechzigsten Jahr seines Bestehens den Prinzipien seines Gründungsherausgebers Peter Huchel treu geblieben. In den Gründerjahren der DDR war es Huchel, der „Sinn und Form“ zu einem Forum für offenes, unreglementiertes Denken verwandelte und dort den überzeugten Marxisten ebenso ein Diskussionsorgan bot wie Skeptikern, Fatalisten und anderen frei schwebenden Intellektuellen. Huchel bezahlte für diese Offenheit den Preis der gesellschaftlichen Isolation. 1962 zwang man ihn zum Rücktritt als Chefredakteur und hielt ihn in seinem Haus nahe Potsdam de facto unter Hausarrest. Aber auch seine Nachfolger in der „Sinn und Form“- Chefredaktion ließen sich von den Vorgaben der SED-Kulturpolitiker nicht knechten. „Sinn und Form“ blieb eine Zeitschrift der weltanschaulichen Häresie, der literarischen Unbotmäßigkeit. Für die sozialistischen Reformträume eines Stephan Hermlin oder Volker Braun war hier ebenso Platz wie für die Tagebücher von Ernst Jünger. Im Jubiläumsheft von „Sinn und Form“, der No 2/2010, veröffentlicht man nun ein Kleinod literaturkritischer Dissidenz. Es ist ein Stück literaturkritische Prosa aus dem Nachlass des 2001 verstorbenen Schriftstellers W.G. Sebald, das – wie so vieles aus der Feder dieses Autors – brisante Thesen enthält. Sebald hatte 1993 in der Zeitschrift „Lettre international“ eine Attacke auf den Schriftstellerkollegen Alfred Andersch publiziert, einen Essay, der einem Denkmalsturz der linken Ikone Andersch gleichkam. In der gleichen Zeit schrieb Sebald einen kritischen Essay über Jurek Becker und über dessen viel gelobte Romane über Menschen im jüdischen Ghetto. Dass der Suhrkamp Verlag damals die Publikation von Sebalds Essay in einem Materialienband über Becker ablehnte, verwundert nicht. Der nun in „Sinn und Form“ abgedruckte Sebald-Essay über Jurek Becker enthält erhebliche Kritik am literarischen Modus der Erinnerung, dessen sich Becker in seinen Ghetto-Romanen bedient. Hier sei ein „Mangel an persönlicher Präsenz“ zu verzeichnen, so moniert Sebald, eine „wirkliche Erinnerungsleistung“ finde bei Becker nicht statt, das „Erinnerungsmodell“ sei ein falsches, „von nostalgischer Traurigkeit überglänztes“. Die Lektüre der Jurek Becker-Romane erwecke geradezu den Eindruck, die Erinnerung an die Schrecken des Ghettos sei vom Autor „vorsätzlich unterbunden“ worden. Das, so resümiert Sebald, sei aber auch als „Schutzmechanismus“ des Autors zu verstehen, um der „zerstörerischen Gewalt“ der Kindheitserinnerungen in sich keinen Raum zu gewähren. Mit solchen Thesen stellte sich Sebald, wie später auch in seinen Reflexionen über „Literatur und Luftkrieg“, weit außerhalb des germanistischen Konsensus.
Eine Position des Außerhalb, des kunstvollen, aber randständigen Schreibens nehmen oft auch die Autoren der nach wie vor besten deutschsprachigen Lyrik-Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“ ein. In der aktuellen Nummer 31 von „Zwischen den Zeilen“ präsentieren sich einige Autorinnen und Autoren, die ihre literarische Sozialisation am Literaturinstitut in Leipzig durchlaufen haben. Aber welch unterschiedliche Temperamente sind da anzuzeigen! Der aus Völklingen stammende Konstantin Ames favorisiert ein sprachexperimentelles Schreiben, das auf die „Ironiefähigkeit“ und semantische Biegsamkeit des lyrischen Sprechens vertraut. Die in Mecklenburg aufgewachsene Kerstin Preiwuß entwickelt eine aus alptraumhaften Visionen und Schreckensmythen sich speisende „Rede“, in die sich existenzielle Elementarerfahrungen eingeschrieben haben. Der literaturhistorisch versierte Bertram Reinecke schließlich schreibt lyrische Texte nach Quelltexten unterschiedlichster Art, als könne Dichtung nur noch entstehen durch die Anverwandlung und Überschreibung älterer Sprachschichten. So wird von Reinecke eine Übersetzung des walisischen Dichters Dylan Thomas in vier verschiedenen, höchst kunstvollen Versionen durchgespielt oder ein altes Andreas Gryphius-Sonett auf das aktuelle Thema Finanzspekulation hin transformiert. Am eindringlichsten spricht in diesem „Zwischen den Zeilen“-Heft die lyrische Stimme von Kerstin Preiwuß, die in ihrem neuen poetischen Zyklus die möglichen Bewegungsformen der Gedicht-Wörter in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod evoziert. Thematisiert werden Metamorphosen des Körpers und Urszenen des Schmerzes. Ich zitiere den Anfang ihres Zyklus:
heut wird gehäutet
sagen die leut
roh am schmerz
ausschaben
sagen die leut
weidet euch
wächst ein geweih aus
linnen erst dann pergament dann bast
zur not ein
verschwinden unter der hand
kauert unter den nägeln
der kopf und der leib eine frau
ist mir gegeben
zum überleben
Eine weitere eigensinnige Stimme aus Leipzig wird im neuen Heft, der Nummer 57 der Dresdner Zeitschrift „Ostragehege“ vorgestellt: die Dichterin Mara Genschel, die in ihren Texten die musikalische Verwandtschaft der Poesie mit dem Gesang zu zelebrieren versteht. In einem Porträt Mara Genschels bescheinigt ihr Anja Utler eine „(volksliedverwandte) Direktheit“ und „Klangverläufe körperlichen Hierseins“ – wobei in den abgedruckten Texten Mara Genschels nicht recht deutlich wird, ob sich ihr Sprechen wirklich einer musikalischen Inspiration oder eher einer sprachgestischen Willkür verdankt. In Heft 57 von „Ostragehege“ lassen sich noch weitere aufregende Funde machen: ein neuer Zyklus des lyrischen Mystikers Christian Lehnert etwa oder neue poetologische Notizen von Elke Erb. Von großer expressiver Wucht sind die Arbeiten des Dresdner Maler-Dichter Andreas Hegewald, der in „Ostragehege“ farbintensive Tintographien über die vier Ur-Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft präsentiert. Der künstlerischen Mehrfachbegabung Hegewald verdanken wir nicht nur diese faszinierend leuchtkräftigen Tuschebilder, sondern auch die Gründung eines unabhängigen bibliophilen Verlags, der noch zu DDR-Zeiten den Doktrinen der SED-Kulturpolitik eine freie, offene Poesie entgegensetzte.
In den Quellgründen dieser nicht-offiziellen, dissidentischen Poesie hat auch der Schriftsteller Jan Faktor seine ersten Gehversuche unternommen. Er schrieb in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine bizarre experimentelle Dichtung – und zwar an der Seite jener „Prenzlauer Berg-Connection“, die sich nach der Wende als reges Einflussgebiet des Staatssicherheitsdienstes entpuppte. Welch wundersame Wege und Umwege ein unorthodoxer literarischer Lebenslauf nehmen kann, zeigt in der neuen Ausgabe, der No 8 des „poet“ das große Gespräch mit Jan Faktor. Als tschechisch schreibender Jungautor kam Jan Faktor 1978 ins „hässliche Ostberlin“ und schloss sich dort alsbald den rebellischen Zirkeln um den Bürgerrechtler Ekkehard Maaß und später den poetischen Anarchisten um Bert Papenfuß und Stefan Döring an. Bald fing Faktor an, Wörterbücher auszuschlachten und banale Texte nach allen Regeln der Kunst zu zerhacken. So entwickelte er sich rasch zum deutschen Sprachartisten, der 1989 im Aufbau Verlag den experimentellen Band „Georgs Sorgen um die Zukunft“ vorlegte – nicht ahnend, dass die Partei mit einer eigens eingerichteten Edition die Prenzlauer Berg-Dichter vereinnahmen wollte. Nach den Enthüllungen um die Stasi-Verstrickungen von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski wandte sich Faktor in den neunziger Jahren vom Prenzlauer Berg-Biotop ab und versuchte neue literarische Wege zu finden. Nach vielen vergeblichen Anläufen gelang Faktor der Durchbruch zum Romanautor – bis hin zum vielfach verzweigten Kindheits- und Entwicklungsroman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“, der in diesem Jahr für den Leipziger Buchpreis nominiert war. Für seine literarische Erfolgsgeschichte wurde Faktor absurderweise von seinen früheren Kollegen abgestraft: Er galt wegen seiner Prosa-Eskapaden einige Zeit als „Verräter“ und Opportunist. Literarische Widerstandsfähigkeit bemisst sich jedoch nicht nach Erfüllung irgendwelcher Rebellions-Normen. Sie realisiert sich in der Durchbrechung aller Regeln und Doktrinen, die zur literarischen Konvention geschrumpft sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Regeln nun bürgerlicher oder antibürgerlicher Herkunft sind. Wer sich literarisch immer nur wiederholt, hat ästhetisch kapituliert.
Krachkulturt: H. 13, 2010
Bunte Raben Verlag, Martin Brinkmann, Hollerallee 6, 28209 Bremen, 180 S., 10 €
Sinn und Form: H. 2/2010
Redaktion: Postfach 210250, 10502 Berlin. 140 S., 9 €
Zwischen den Zeilen: H. 31, 2010
Urs Engeler, Postfach, CH-4718 Holderbank SO. 190 S., 10
Ostragehege: H. 57, 2010
c/o Axel Helbig, Birkenstr. 16, 01328 Dresden. 78 S., 4,90 €
poet: No 8, 2010
Poetenladen, Blumenstr. 25, 04155 Leipzig. 256 S., 8.80 €
Michael Braun 13.04.2010
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese April 2010
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Michael Braun
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