|
|
|
|
Februar 2012
„Man muss vergessen, dass es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen.“ Mit solchen wuchtigen Sätzen wollte einst der rebellische Großstadtpoet Rolf Dieter Brinkmann die marode literarische Welt aus den Angeln heben und der Lyrik den kleinmütigen Kulturgehorsam austreiben. In einer Vorbemerkung zu seinem 1968 publizierten Gedichtband „Die Piloten“ forderte er seine Dichterkollegen auf, von den überstrapazierten „Kulturellen Wörtern“ abzulassen und stattdessen „herumzugehen und sich vieles einmal anzusehen“, als eine Art Rückrufaktion der sinnlichen Wahrnehmung. Solche Totalverwerfungen einer ganzen Literaturgattung sind eine Domäne jener literarischen Extremisten, die in revolutionärer Ungeduld die gesamte Institution Literatur hinwegfegen und durch ein neues unerhörtes Kunstprogramm ersetzen wollen.
Zu diesen hoch reizbaren Extremisten des Avantgardismus gehörte auch der 1925 in Rumänien geborene Buchstabenpoet und Filmemacher Isidore Isou, der Begründer des sogenannten Lettrismus. Aus einer jüdischen Familie stammend, geriet Isou im Rumänien des faschistischen Diktators Ion Antonescu in Lebensgefahr und floh daher 1945 nach Paris, wo er alsbald die lettristische Revolution ausrief. Die Form der literarischen Dissidenz, die Isou gemeinsam mit einigen Mitstreitern zelebrierte, führte im Frankreich der Nachkriegszeit zu allerlei Skandalen: Der mit spektakulären Aktionen auftrumpfende Isou wurde wahlweise als Pornograph, politischer Nestbeschmutzer oder als Blasphemiker geschmäht.
In Deutschland war der 2007 verstorbene Isou bislang nur durch die philologischen Arbeiten von Michael Lentz und durch einige Reminiszenzen von Oskar Pastior präsent, eine umfassende, vielstimmige Auseinandersetzung mit seiner Poetik steht jedoch noch aus. Das könnte sich jetzt ändern, denn das auf solche Einzelgänger der literarischen Moderne spezialisierte „Schreibheft“ hat jetzt unter dem bezeichnenden Titel „Die Zeichen des Messias“ ein aufregendes Dossier zum Phänomen Isidore Isou vorgelegt.
In der aktuellen Ausgabe, der Nummer 78 des „Schreibheft“, hat der Essayist Stefan Ripplinger funkelnde Traktate, Manifeste, Erzählungen und Gedichte Isidore Isous gesammelt – und dabei dem zwischen kulturrevolutionärer Energie, Graphomanie und Größenwahn oszillierenden Dichter ein schillerndes Denkmal gesetzt. In einer eigentümlichen Melange aus Messianismus, Ironie und Provokationslust imaginierte sich der junge Isou als der größte Ästhetiker, Dichter und Philosoph seiner Zeit, als veritabler Götterliebling, der „wie ein wunderbarer Meteorit erscheinen und die gesamte Literatur ändern würde“. Das „Schreibheft“ druckt etwa eine kühne schematische Zeichnung zur „geistigen Entwicklung der Dichtung“, auf der sich Isou als Vollender der Moderne darstellt, auf den alle poetischen Kraftfelder des Symbolismus und Surrealismus zulaufen. In einer Erinnerung verweist der Filmemacher Eric Rohmer auf die Intention Isous, sich „links vom Surrealismus zu positionieren“. Am Ausgangspunkt der lettristischen Revolte stand dabei – so behauptete Isou immer wieder – ein Lesefehler. Denn der junge Literatur-Messias fand in einem Text des konservativen Kulturphilosophen Hermann Graf Keyserling den Appell, der Dichter habe „den Vokal zu erweitern“. Erst später bemerkte er, dass sich Keyserling nicht auf den „Vokal“, sondern allgemein auf die „Vokabel“ bezogen hatte. Bis zur Entdeckung dieses Irrtums hatte Isou bereits sein Programm einer Verabsolutierung des Buchstabens und der phonetischen Elemente der Sprache entwickelt. In seinem „Manifest der lettristischen Poesie“ findet man dementsprechend die für Avantgardisten einschlägige Forderung, „die Zerstörung der Wörter zugunsten der Buchstaben“ voranzutreiben und „die Wörter in ihre Buchstaben zu zertrennen“. Das führt schließlich zu einer Invasion der Buchstaben auf allen Gebieten: Buchstaben, Zeichen, Lettrien markieren nicht nur Texte, sondern auch Stoffe, Fotografien oder Gemälde. Alles wird mit Buchstaben bedeckt, das Paradies ist die Schrift.
Aber noch einmal zurück zu dem poetischen Extremisten Rolf Dieter Brinkmann. Er wird gerne als ein Adept des rauen amerikanischen Realismus gesehen, der die narrativen Gesten der Amerikaner in eine formal zerklüftete, typografisch zerrissene Poesie integriert hat. Eine ganz andere Brinkmann-Lesart erprobt in der neuen Ausgabe, der Nummer 62 der Literaturzeitschrift „Am Erker“, der Literaturwissenschaftler Klaus Vogel. Vogel entziffert fernöstliche Motive in Brinkmanns Gedichten, vor allem die Methoden der Bildgebung, wie sie das japanische Haiku kultiviert hat. So erscheint ein fantastisches Augenblicks-Gedicht Brinkmanns wie „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“ als „Anti-Pop“ und als Realisierung lyrischer Haiku-Techniken, wird hier doch ein sinnlich erfasstes Alltagsbild durch meditative Betrachtung aufgeladen. In dieser Hinsicht weisen selbst die formal zerklüfteten Langgedichte Brinkmanns untergründige Beziehungen zum Haiku auf. Voraussetzung für eine solche Lesart ist freilich Vogels These, dass das Haiku eigentlich keine Gedichtform meint, sondern ein „existentielles Ereignis“, ein „sinnlich- wahrnehmbares Drama“, in dem „die die existentielle Gesamtheit des schöpferisch-erkennenden Subjekts der äußeren Welt begegnet“. Es macht den Reiz des neuen „Am Erker“-Heftes aus, dass der fotografischen Unmittelbarkeits-Poetik Rolf Dieter Brinkmanns ein gänzlich anderes Dichtungs-Konzept entgegengehalten wird: Emanuel Maeß stellt die emphatische Stefan George-Studie des jungen Dichters Christophe Fricker vor. Das psalmenhafte Sprechen Georges wird hier nicht ideologiekritisch verworfen, sondern als kühne Aneignung des Schönen legitimiert.
Zwischen diesen beiden Polen Brinkmann und George tastet sich die junge deutsche Literatur in sehr unterschiedlich akzentuierten Suchbewegungen zu einer eigenen Ausdrucksform vor. Wer die Magazine der jungen deutschen Literaturszene studiert, Zeitschriften wie „randnummer“ oder „]trash[pool“„ dem mag es scheinen, dass sie den wütenden Auflehnungsgesten eines Brinkmann deutlich näher sind als der erhabenen Selbstexklusion eines George. Speziell die Gedichte der jungen Autoren in „]trash[pool“ sind in erster Linie „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“, wie Brinkmann eine seiner monumentalen Tagebuch-Collagen genannt hat. Viel Anfängerhaftes findet sich in der zweiten Ausgabe von „]trash[pool“, aber auch ein sehr erhellendes Interview mit dem Übersetzer Ulrich Blumenbach, der den Sprachreichtum des hyperrealistischen Schriftstellers David Foster Wallace erläutert. Eine wesentlich konturiertere Ästhetik der Dissidenz finden wir in der vierten Ausgabe des Literaturheftes „randnummer“. Hier kann man kleine Meisterstücke entdecken, etwa die „bildgebenden verfahren“ des Dichters Nicolai Kobus, eine kleine, artistisch gefügte Kollektion von Gemäldegedichten. Der verstörendste Text des Heftes ist freilich eine kleine Rollenprosa des Dichters Konstantin Ames, die in die Spätzeit der DDR zurückblendet und ein saarländisch-brandenburgisches Dichtertreffen rekonstruiert. Eine Episode, die offen lässt, inwieweit sie als Fiktion oder als klandestines Protokoll zu lesen ist.
Als schrille Neutöner, die auf die bewährten Verfahren der schnellen Schnitte und der schroffen Montagetechniken setzen, exponieren sich in der „randnummer“ und im „]trash[pool“ die Lyriker Kristoffer Cornils und Richard Duraj. Der 1987 geborene Cornils präsentiert eine „Haikuzerstückelung“, die sich aggressiv gibt, gleichwohl – ähnlich wie in Brinkmanns „Highkuh“-Adaption - die mystischen Qualitäten der japanischen Gedichtform erhalten will.
Zu den radikalsten literarischen Extremisten des letzten Vierteljahrhunderts gehört auch der Schriftsteller und Filmemacher Thomas Harlan, der Sohn des berüchtigten Regisseurs Veit Harlan, der 1940 den Film „Jud Süß“ drehte, den berühmtesten antisemitischen Film der Kinogeschichte. Zeit seines Lebens hat sich der 1929 geborene Thomas Harlan an der nationalsozialistischen Verstrickung seines Vaters abgearbeitet, das Trauma der deutschen Schuld ließ ihn nicht mehr los. Nach dem Krieg verließ Thomas Harlan Deutschland, lebte in Frankreich und Italien und fand in aufwendigen Recherchen erschütternde Dokumente über die Gräueltaten in den Vernichtungslagern. Zum Schriftsteller wurde Harlan erst mit 71 Jahren, als er im Jahr 2000 in seinem Buch „Rosa“ die Geschichte des Vernichtungslagers Kulmhof erzählte, in dem bereits vor dem Massenmord in Auschwitz die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung begann.
Das aktuelle Heft, die Nummer 1/2012 der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“, veröffentlicht ein Porträt und ein Gespräch mit Thomas Harlan, dazu Tagebuchaufzeichnungen des Harlan-Freundes Jean-Pierre Stephan, dem der totkranke Autor in einer Klinik bei Berchtesgaden sein letztes Buch „Veit“ diktierte, eine Anklage und zugleich Liebeserklärung an den Vater. Im Gespräch mit Sieglinde Geisel erklärt der im Oktober 2010 gestorbene Harlan, warum ihn das Lager in Kulmhof zeitlebens beschäftigt hat: „Daß man mitten in der Welt, ohne Lagerzaun, dreihunderttausend Menschen umbringen kann, die man aus dem hundert Kilometer entfernten Litzmannstadt dorthin schafft…und sie in ein Schloß bringt und dann in ein Auto steigen läßt, einen Gaswagen, der jeden Tag, für die Bevölkerung sichtbar, aus dem Schloß herausfährt und nach sieben Kilometern Wald auf eine Lichtung kommt, wo die unterwegs Getöteten aus dem Auto in eine Grube gekippt werden. Und es hat niemanden gestört.“
Zum Schluss sei noch auf die erste Ausgabe der neuen europäischen Poesiezeitschrift „Limen“ verwiesen, die wohl hoffnungsvollste Zeitschriften-Neugründung dieser Tage. Das erste Heft versammelt jeweils zweisprachig Gedichte und poetologische Notizen von Dichtern aus Deutschland, Frankreich und Italien. „sist zappenduster in diesem gedicht, welche sprache es wohl spricht?“ Die Verszeile Uljana Wolfs präludiert eine Reihe von sprachskeptischen Texten, die sich in „Limen“ zu einem beeindruckenden Gruppenbild avancierter Poesie zusammenfinden. Die „Limen“-Autoren werden in konzisen Porträts vorgestellt und steuern knappe Statements zum Thema „Dichtung und Politik“ bei. So verhilft bereits die erste Ausgabe der von Kristin Bischof und Massimo Pizzingrilli herausgegebenen Zeitschrift zu verheißungsvollen Entdeckungen, etwa der Dichtung von Philippe Beck, der eine kühne „metapoetische Kunst“ anstrebt und dabei die Wörter umgräbt und ihre Konnotationen freilegt. Die stärkste Wirkung geht von den Texten des früh verstorbenen Christophe Tarkos aus, der in seiner verzweifelten Poetik das Vertrauen in die Wörter verloren hat: „Die Worte sind unbrauchbar. Was die Worte ersetzt sind Wolken, sind Schwaden, sind…kleine Stücke von Gesprochenem, sind Ausdrücke. Die Ausdrücke, die Tiraden sind Klöße, …, Wasserbomben, die explodieren. Der Sinn kommt zur Explosion, er explodiert an der Spitze der Tiraden, das ist ein Schlag, das ist ein schöner Schlag, das ist ein schöner Findling, das ist ein schöner Ausdruck. Das ist ein schöner Ausgang.“
Schreibheft 78
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 190 S., 13 Euro.
Am Erker No. 62
c/o Frank Lingnau, Rudolfstr. 8, 48145 Münster.148 S., 9 Euro.
Randnummer No 4
c/o S. Kornappel, Okerstr. 43, 12049 Berlin. 108 S., 5 Euro.
Trashpool, Heft 2 (2011)
Neckarhalde 8, 72070 Tübingen. 104 S., 5,20 Euro.
Sinn und Form 1/2012
Postfach 210250, 10502 Berlin. 142 S., 9 Euro.
Limen, Heft 1(2011)
Postfach 2923, 49019 Osnabrück. 144 S. 14,80 Euro.
Michael Braun 15.02.2012
|
|
|
Michael Braun
Bericht
Archiv
|
|