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Abrüstung der Idylle
Das 20. Internationale Literaturfestival in Leukerbad
Von Michael Braun
20. Internationale Literaturfestival in Leukerbad |
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Die ehrgeizigste Sängerin unter den Dichtern des Leukerbader Literaturfestivals heißt Samantha. Der Graupapagei des Hotels Dala beherrscht viele Sprachen, Grußformeln und Lockrufe und sendet aus seinem Käfig die absonderlichsten Lautpoeme in die Walliser Bergwelt. Zum zwanzigsten Mal hatten sich beim schönsten Literaturfestival der Schweiz vor alpiner Kulisse drei Dutzend Autoren aus allen Kontinenten zu einer literarischen Standortbestimmung versammelt – und zum ersten Mal konnte sich die Lust an der intellektuellen Kontroverse gegen die Wellness-Bedürfnisse der von der Hitze erschöpften Literaturmenschen behaupten.
Die Tonlage der Leukerbad-Besucher ist traditionsgemäß auf Heiterkeit und intellektuelle Fraternisierung gestimmt. Diesmal war der Charme der Literaturidylle deutlich ramponiert. Das Dorfzentrum präsentierte sich als Dauerbaustelle, die Dichter flanierten an Absperrungen, aufgerissenen Dorfpfaden und vergitterten Hoteleingängen vorbei. So war man glücklich, beim Initiationsritual des Festivals, dem Spaziergang durch die Dalaschlucht mit dem Lyriker Christoph W. Bauer, doch noch einen mystischen Moment mitzuerleben. Auf einem Wiesenstück nahe der Schlucht schob der Guide der Literaturpilger einen Deckel beiseite – und schon stiegen Dämpfe aus der Tiefe auf, aus dem Urstoff einer der zahlreichen Leuker bader Heilquellen.
Um die alten, etwas angestaubten Lesungs-Formate aufzubrechen, hatte man zum Festival-Jubiläum gleich neun Grundsatzdebatten über den gesellschaftlichen und politischen Status der Literatur organisiert – mit großem Gewinn für alle Beteiligten. In der Galerie St. Laurent, dem Zentrum der Diskurse, residierte der Star des Festivals, der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, der mit seinem ketzerischen Essay „Das Gespenst des Kapitals“ vor vier Jahren die neue Fibel der antikapitalistischen Weltanalyse vorgelegt hat und nun mit seinen griffigen Thesen („Der moderne Odysseus ist ein Spekulant“) gewissermaßen die kritische Tonspur für die Leuker bader Gespräche lieferte. „Was ist eigentlich Realismus in der Gegenwartsliteratur?“ Die Frage Thomas Hettches beantwortete Vogl mit eleganten historischen Pirouetten. Zum Beispiel mit dem Rückverweis auf den Roman „Sieben Sekunden“ des Amerikaners Don de Lillo, in dem verschwörungstheoretische Phantasien zur Ermordung John F. Kennedys mit einer detailbesessenen Chronik der Ereignisse in Konkurrenz treten und am Ende die Phantasmagorie von der Realität nicht mehr unterscheidbar ist. „Glaube keiner konsistenten Wirklichkeitserzählung“, dekretierte Vogl, der in seinem offenbar hitzeresistenten schwarzen Anzug zum Orakel von Leukerbad aufstieg.
Manche seiner literatursoziologischen Tiefbohrungen klangen freilich wie Reprisen aus den marxistischen Grundbüchern der 1970er Jahre, wie etwa Rudolf Wolfgang Müllers Meisterwerk „Geld und Geist“. Dass der Kaufmann des Mittelalters im späten 20. Jahrhundert zum Broker am Finanzmarkt mutiert und über die Geschicke der Politik entscheidet: Solche Einsichten zum Primat der Ökonomischen in der Politik gehören seit je zu den marxistischen Evergreens – freilich werden sie von Vogl stilistisch funkelnder verpackt.
Als dann mit Stefan Zweifel der eloquenteste Intellektuelle der Schweiz in Aktion trat, hätte sein überbordender Scharfsinn den Diskurs über „Krise und Kultur“ beinahe kollabieren lassen. Zum Glück antworteten ihm Lukas Bärfuss und Marcel Beyer nicht mit selbstgefälligen Markierungen der eigenen Außenseiter-Position, sondern mit skeptischen Selbstbefragungen: „Wie nah bin ich eigentlich den Top-Managern“, fragte Marcel Beyer, „wie verwandt sind meine Denkwelten mit den Größenphantasien der Finanzmarkt-Trader?“ Eine düstere Prognostik zum Status der Phantasie in der schönen neuen Medienwelt entwickelte Klaus Theweleit im Gespräch mit dem Lyriker Gerhard Falkner. Im Blick auf die Zeichen- und Bilderstürme auf Facebook und Twitter sprach Theweleit von den tiefreichenden Veränderungen in der mentalen Grundausstattung des Menschen. Die „Entleerung des Realen“ und „das Versiegen des inneren Monologs“ (Gerhard Falkner) sind die markanten Folgen der neuen Kulturtechniken. Das „leere Lachen“ der Jugendlichen, die auf ihren Smartphones ikonisch wie semantisch verstümmelte Botschaften austauschen, bilden die eine Seite des Realitätsverlusts. Eine zweite, dunkle Seite finden wir in dem von Theweleit beschriebenen „berauschten Lachen“ der Täter, ein Lachen, das etwa die Milizen des „Islamischen Staats“ beim Vollzug schaurigster Mordtaten ausstellen.
Die Leukerbader Gespräche lieferten zwar nur knappe Skizzen und Problemaufrisse zum Status des Realen im digitalen Zeitalter. Aber sie bilden neue starke Fundamente, um ein an seinen eigenen Routinen laborierendes Festival zu retten.
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Michael Braun
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