poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Abrüstung der Idylle
Das 20. Internationale Literaturfestival in Leukerbad

Von Michael Braun
   20. Internationale Literaturfestival in Leukerbad

      


Die ehrgeizigste Sängerin unter den Dichtern des Leukerbader Literatur­festi­vals heißt Samantha. Der Grau­papagei des Hotels Dala be­herrscht viele Sprachen, Gruß­formeln und Lock­rufe und sendet aus seinem Käfig die absonderlichsten Laut­poeme in die Wal­liser Bergwelt. Zum zwan­zigs­ten Mal hatten sich beim schöns­ten Literatur­festi­val der Schweiz vor alpi­ner Kulisse drei Dutzend Autoren aus allen Konti­nenten zu einer lite­rari­schen Stand­ort­be­stim­mung ver­sammelt – und zum ersten Mal konnte sich die Lust an der intel­lektuel­len Kontro­verse gegen die Wellness-Bedürf­nisse der von der Hitze er­schöpf­ten Li­tera­tur­menschen behaupten.
  Die Tonlage der Leukerbad-Besucher ist traditions­gemäß auf Heiter­keit und intel­lektuelle Frate­rni­sierung gestimmt. Diesmal war der Charme der Lite­raturidylle deut­lich ramponiert. Das Dorf­zentrum präsen­tierte sich als Dauer­bau­stelle, die Dich­ter fla­nier­ten an Ab­sper­run­gen, auf­geris­senen Dorf­pfaden und ver­git­terten Hotel­eingängen vorbei. So war man glück­lich, beim Initia­tions­ritual des Festi­vals, dem Spa­zier­gang durch die Dala­schlucht mit dem Lyri­ker Christoph W. Bauer, doch noch einen mysti­schen Moment mit­zuerleben. Auf einem Wiesen­stück nahe der Schlucht schob der Guide der Lite­ratur­pilger einen Deckel beiseite – und schon stiegen Dämpfe aus der Tiefe auf, aus dem Ur­stoff einer der zahl­reichen Leuker­bader Heil­quellen.

Um die alten, etwas angestaubten Lesungs-Formate aufzubrechen, hatte man zum Festival-Jubiläum gleich neun Grund­satz­debatten über den gesell­schaft­lichen und poli­tischen Status der Lite­ratur organi­siert – mit großem Gewinn für alle Betei­ligten. In der Galerie St. Laurent, dem Zentrum der Diskurse, resi­dier­te der Star des Festivals, der Lite­ratur­wis­sen­schaft­ler Joseph Vogl, der mit seinem ketze­ri­schen Essay „Das Gespenst des Kapi­tals“ vor vier Jahren die neue Fibel der anti­kapi­talis­tischen Welt­analyse vor­gelegt hat und nun mit seinen grif­figen Thesen („Der mo­derne Odys­seus ist ein Spe­kulant“) gewis­ser­maßen die kri­tische Tonspur für die Leuker­bader Gespräche lie­ferte. „Was ist eigent­lich Realis­mus in der Ge­gen­warts­lite­ra­tur?“ Die Frage Thomas Hettches beant­wor­tete Vogl mit elegan­ten histo­rischen Pirou­et­ten. Zum Beispiel mit dem Rück­ver­weis auf den Roman „Sieben Se­kunden“ des Ameri­kaners Don de Lillo, in dem ver­schwörungs­theo­retische Phan­tasien zur Ermor­dung John F. Kennedys mit einer de­tail­beses­senen Chronik der Ereig­nisse in Kon­kur­renz treten und am Ende die Phan­tas­mago­rie von der Realität nicht mehr unter­scheidbar ist. „Glaube keiner konsis­tenten Wirk­lic­hkeits­er­zäh­lung“, dekre­tierte Vogl, der in seinem offen­bar hitze­resis­tenten schwar­zen An­zug zum Orakel von Leuker­bad aufstieg.
  Manche seiner literatursoziologischen Tiefbohrungen klangen freilich wie Reprisen aus den marxis­tischen Grund­büchern der 1970er Jahre, wie etwa Rudolf Wolfgang Müllers Meister­werk „Geld und Geist“. Dass der Kauf­mann des Mittel­alters im späten 20. Jahr­hundert zum Broker am Finanz­markt mutiert und über die Geschicke der Politik entscheidet: Solche Ein­sichten zum Primat der Ökono­mi­schen in der Politik gehören seit je zu den marxis­tischen Ever­greens – freilich werden sie von Vogl stilis­tisch funkeln­der verpackt.
  Als dann mit Stefan Zweifel der eloquenteste Intellektuelle der Schweiz in Aktion trat, hätte sein überbordender Scharfsinn den Diskurs über „Krise und Kultur“ beinahe kolla­bieren lassen. Zum Glück ant­wor­teten ihm Lukas Bärfuss und Marcel Beyer nicht mit selbst­gefäl­ligen Markie­rungen der eigenen Außen­seiter-Position, sondern mit skeptischen Selbst­befra­gungen: „Wie nah bin ich eigentlich den Top-Managern“, fragte Marcel Beyer, „wie verwandt sind meine Denkwelten mit den Größen­phan­tasien der Finanz­markt-Trader?“ Eine düstere Prognos­tik zum Status der Phantasie in der schönen neuen Medien­welt entwickelte Klaus Theweleit im Gespräch mit dem Lyriker Gerhard Falkner. Im Blick auf die Zeichen- und Bilder­stürme auf Facebook und Twitter sprach Thewe­leit von den tief­reichen­den Ver­änder­ungen in der mentalen Grund­aus­stattung des Menschen. Die „Ent­leerung des Realen“ und „das Ver­siegen des inneren Mono­logs“ (Ger­hard Falkner) sind die markanten Folgen der neuen Kultur­techniken. Das „leere Lachen“ der Ju­gend­lichen, die auf ihren Smart­phones iko­nisch wie se­man­tisch ver­stümmelte Bot­schaften aus­tau­schen, bilden die eine Seite des Reali­täts­ver­lusts. Eine zweite, dunkle Seite finden wir in dem von Thewe­leit be­schrie­benen „be­rausch­ten Lachen“ der Tä­ter, ein Lachen, das etwa die Milizen des „Islami­schen Staats“ beim Voll­zug schau­rigs­ter Mord­taten ausstellen.
  Die Leukerbader Gespräche lieferten zwar nur knappe Skizzen und Problem­aufrisse zum Status des Realen im digitalen Zeitalter. Aber sie bilden neue starke Fundamente, um ein an seinen eigenen Routinen laborierendes Festival zu retten.
Michael Braun    07.2015   

 

 
Michael Braun
Bericht
Archiv