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Oktober 2011
Es ist die Geschichte einer unerhörten Verweigerung, eines rätselhaften Rückzugs in die Negation und das Schweigen. Kein literarischer Held der Moderne hat den Ausstieg aus der bürgerlichen Existenz so konsequent und endgültig vollzogen wie der pflichtvergessene Schreiber Bartleby aus der Erzählung Herman Melvilles. Der völlig unauffällige und vollendet höfliche Bartleby wird in dieser Erzählung als Schreiber in einer Anwaltskanzlei angestellt und widmet sich zunächst mit großem Fleiß seinen Aufgaben. Eines Tages jedoch entwickelt er einen rätselhaften Eigensinn, der sich zur Fundamentalverweigerung ausdehnt und der schließlich seinen Arbeitgeber zur Verzweiflung bringt. Als der Anwalt seinen Schreiber dazu auffordert, ein kopiertes Dokument auf Fehlerhaftigkeit zu prüfen, reagiert Bartleby mit dem berühmten Satz, der zur Grundmelodie der Erzählung wird: „I would prefer not to – Ich möchte lieber nicht.“ Der geduldige Anwalt hält dieses störrische Verhalten zunächst nur für ein Zeichen von Schrulligkeit oder Ermüdung, muss dann aber bald feststellen, dass Bartleby alle weiteren Anweisungen mit derselben Beharrlichkeit zurückweist: „Ich möchte lieber nicht.“ Alle Versuche, den in sich zurückgezogenen Bartleby zur Vernunft zu bringen und ihn wieder als Arbeitskraft zu reaktivieren, scheitern am stummen Widerstand des Schreibers. Schließlich weiß sich der Anwalt nicht mehr zu helfen und gibt seine Kanzlei auf, um sie an einem anderen Standort wiederzueröffnen. Der regungslose Bartleby bleibt in der leeren Kanzlei zurück. Man wirft ihn ins Gefängnis, wo er stumm die Wand anstarrt und am Ende die Nahrungsaufnahme verweigert. Melvilles Erzähler verrät am Ende noch, dass der undurchschaubare Bartleby früher in einem „Amt für unzustellbare Briefe“ in Washington gearbeitet habe.
In ihrer aktuellen Herbstausgabe, der Nummer 3/2011, deutet die österreichische Literaturzeitung „ Volltext“ die grandiose Erzählung Herman Melvilles als Chiffre für die biografischen Niederlagen, die der Autor in der Zeit der Niederschrift des Textes durchlebt hat. Als „Bartleby“ im Jahr 1853 erschien, war der Ruhm Melvilles verblasst, der Autor hatte die Aufmerksamkeit bei der Kritik und dem Publikum verloren, sein später legendärer Roman „Moby Dick“ hatte sich als Flop erwiesen. Im Grunde hatte Melville in seiner Erzählung auch seine eigenen literarischen Schöpfungen als „unzustellbare Briefe“ ironisiert, die vom amerikanischen Publikum ungelesen retourniert wurden.
Die neue „Volltext“-Ausgabe wartet mit einem Experiment auf, das auf die Enthierarchisierung des Literaturbetriebs zielt, im Grunde aber nur eine uralte Idee neu auflegt. Die Namen der Heft-Autoren sind nämlich anonymisiert, um die Aufmerksamkeit ganz auf den Inhalt und den stilistischen Habitus der einzelnen Beiträge zu lenken. Die Sabotage am eitlen Autorenkult ist jedoch nur halbherzig durchgeführt, denn wer die Autorennamen erfahren will, braucht nur die Internet-Seite von „Volltext“ aufzurufen. Das biedere Anonymus-Spiel sollte uns daher nicht weiter beschäftigen, dafür aber die durchweg von Schriftstellern verfassten Kritiken in dieser Ausgabe. Gleich zwei Beiträge sind dem hervorragenden neuen Erzählband der Schweizer Autorin Monique Schwitter gewidmet, den Geschichten des Bandes „Goldfischgedächtnis“, die – wie es heißt – „aus scheinbar harmlosen Situationen eine abgründige Dynamik“ entwickeln. Die fatalistische Wucht dieser Geschichten ist gewaltig. An einer Stelle wird programmatisch Alfred Döblin zitiert: „Die Dinge haben eine Neigung, ins Nichts zu rollen.“ Und dieser fatalen Bewegungsrichtung, dieser abschüssigen Lebensbahn folgen im Grunde alle Figuren von Monique Schwitter. Diese Prosa zeigt Menschen auf ihrem Weg ins Aussichtslose, an einen finalen Grenzpunkt, von dem aus es keine Rückkehr gibt. Es sind Geschichten, die – in Anlehnung an Friedrich Dürrenmatt – konsequent „die schlimmstmögliche Wendung nehmen“. Eine alternde Schauspielerin, die allmählich ihr Erinnerungsvermögen verliert, sucht den Freitod vor Amrum. Eine andere Frau trifft bei ihren Meditationsübungen im Wald auf einen Verzweifelten und kann ihn trotz ihrer Aufheiterungskünste nicht von der Selbstzerstörung abbringen.
Für die Titelgeschichte der neuen „Volltext“-Ausgabe zeichnet Felix Philipp Ingold verantwortlich: Es ist ein Auszug aus seinem Roman „Alias oder Das wahre Leben“, der auch für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Es ist ein verstörender Bericht aus dem Leben eines russischen Mannes wolgadeutscher Herkunft, der im Zeitalter der Extreme zwischen die Kulturen und die Moralsysteme gefallen ist. Als junger Mann startet Kirill Beregow alias Carl Berger eine Karriere als Offizier bei der Roten Armee und lernt dort zunächst das Töten von wehrlosen Gefangenen. Danach erhält er als Übersetzer einen Einblick in den Funktionsmechanismus eines faschistischen Vernichtungslagers, in das System der Entrechtung, Demütigung und Tortur, mit dem hier Menschen zugrundegerichtet werden. Später versucht Beregow alias Berger auch als Schriftsteller zu reüssieren, wobei seine Darstellungsversuche der Schrecken des Archipel Gulag nicht mit den Direktiven kommunistischer Literaturpolitik in Einklang zu bringen sind. Felix Philipp Ingold gelingt hier nicht nur das Porträt einer Epoche, sondern auch ein Grenzgang zwischen den Gattungen – nämlich zwischen den Ansprüchen einer rein dokumentarischen Literatur, die sich auf verbürgte Lebensgeschichte stützt, und dem Eigensinn einer epischen Einbildungskraft. Was ist literarische Fiktion, was ist ein authentisches Dokument? Im Felix Philipp Ingolds Darstellung der Lebensgeschichte Kirill Beregows kann man diese beiden Bereiche nicht trennen.
Auf welch bizarre Weise auch noch im 21. Jahrhundert die Ästhetisierung der Politik betrieben wird, erörtert im aktuellen Heft der 56 der Leipziger Literaturzeitschrift „ Edit“ der Essayist Guillaume Paoli. Er interpretiert den exzentrischen libyschen Diktator Gaddafi als entgleistes „Gesamtkunstwerk“, als revolutionäre Ikone, die auf bizarre Weise die „Theatralisierung der Politik“ betreibe. In seiner Selbstdarstellung ähnele Gaddafi, so glaubt Paoli, einem „Aktionskünstler“, habe er doch nicht nur die monochrome Flagge Libyens entworfen, sondern auch ein schickes Automodell designt und sogar einen Musik-Videoclip produziert. Die zentralen Thesen des sogenannten „Grünen Buches“, der Politik-Bibel Gaddafis, wiederholten nur die Grundauffassungen der europäischen Avantgarde- Bewegungen. Mit diesen durchaus bedenkenswerten Thesen entwirft Paoli ein fast weichgezeichnetes Bild eines Diktators, der sich nur den Fauxpas leistet, seine künstlerische Ambition in politischen Größenwahn zu transformieren. Ein weiterer Essay in „Edit“ vollzieht eine wirklich vorbildliche Suchbewegung nach den etymologischen Wurzeln und künstlerischen Manifestationen eines kleinen Sprachpartikels. Die Dichterin Sylvia Geist folgt in ihrem Essay „Das Aber der Aprikosen“ den Spuren der Konjunktion „Aber“ vom Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm bis hin zur Weltdichtung Inger Christensens. Hier isst ein sehr poetischer, auch in seiner Vielgestaltigkeit großartiger Essay entstanden, der ein kleines Wort in seiner äußeren Gestalt wie auch in seinen inneren Hallräumen und Konnotationen prüft.
Solche mikroskopischen Untersuchungen an unscheinbaren Wörtern oder Naturphänomenen sind in der deutschen Essayistik selten geworden.
Ein zweites Beispiel für eine gelungene essayistische Umkreisung eines unspektakulären Naturgeschöpfs finden wir in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 94 der europäischen Kulturzeitschrift „Lettre International“. Es ist Susanne Röckels Erkundung der „Spatzendämmerung“, das Soziogramm einer naturblinden Gesellschaft, die das Verschwinden der Sperlings, der zu den ältesten Begleitern der Menschen in Mitteleuropa gehört, nicht einmal bemerkt hat. Der Essay liest sich wie eine Liebeserklärung an die schlichtesten, glanzlosesten Vögel unserer Lebenswelt, die man am ehesten noch in den Winkeln einer steckengebliebenen Modernisierung, in den Armenvierteln und pauperisierten Zonen unserer Städte antreffen kann. Über viele Jahrhunderte hinweg hat man veritable Vernichtungsfeldzüge gegen den Sperling geführt. Die Hauptanklagepunkte waren dabei: Der Spatz sei ein Räuber, ein Nahrungskonkurrent des Menschen, er sei auch der Unkeuschheit überführt, zudem strapaziere er uns durch seinen ohrenbeleidigenden Gesang. Die Beliebtheit dieser Vögel ohne jeden prachtvollen Federschmuck ist denkbar gering. Einzig die Dichtung weiß den grauen Vogel, der uns seit der Jungsteinzeit begleitet, noch zu würdigen. Etwa Durs Grünbein in seinem schönen Gedicht „Noch eine Regung“: „Grüß dich, Sperling in der Pfütze, guter Geist, / Da am Wegrand badend, immerfort gehetzt. / Weißt ja längst, was demnächst jeder weiß, / Deine Regenfrische sagts. – Ich übersetze: / Tschilp, tschilp, wie fragil ist dies fossile, / Euer Monstrum, tschilp, Gesellschaft doch.“
Ein absolut fesselnder Beitrag in diesem „Lettre“-Heft ist auch das intensive Gespräch, das Frank Raddatz mit dem großen Tragödien-Regisseur und Theater-Mystagogen Peter Stein geführt hat. Hier kann Stein in der gebotenen Ausführlichkeit seine Argumente für die absolute Werktreue und für seine, die „andere Realität“ der alten Stücke erhaltenden Theater-Inszenierungen entfalten. „Ich möchte einem Kunstwerk einfach Gerechtigkeit widerfahren lassen“, postuliert Stein und wendet sich gegen die Zwanghaftigkeit aller „Aktualisierungen“ des zeitgenössischen Regietheaters. Durch den Raub am historischen Zeitkern der alten Tragödien, so glaubt Peter Stein, hat eine ungeheure Banalisierung in den deutschen Theatern Einzug gehalten.
Grenzüberschreitung – diese Devise eines modernen Willkürtheaters, die im Grunde eine Maxime der historischen Avantgardebewegungen ist, hat die Münsteraner Literaturzeitschrift „Am Erker“ in ihrer neuen Ausgabe näher inspiziert. Als Motto der Nummer 61 des „Erker“ fungiert ein Satz des wunderbar unberechenbaren Avantgardisten und Mystikers Hugo Ball: „Die Dimensionen wuchsen, die Grenzen fielen.“
Zwei Abrissarbeiter an den literarischen Gattungsgrenzen fallen in diesem „Erkers“-Heft besonders auf: Einer davon ist der Autor Peter Blut, dessen empirische Existenz bezweifelt werden darf. Vermutlich handelt es sich bei Herrn Blut um eine Erfindung seines angeblichen Nachlassverwalters Florian Schenkel. Ein großes Vergnügen bereitet jedenfalls Peter Bluts Text „Lilz – eine Verkraftung“, eine geniale Thomas Bernhard-Parodie mit endlosen Wiederholungsschleifen, die unter anderem von einer skurrilen Entschlackungskur des Erzählers mit Ingeborg Bachmann handelt.
Der zweite Grenzüberschreiter in „Am Erker“ ist ein wuchtiger Außenseiter der späten DDR-Literatur, der früh gestorbene Punk-Poet „Matthias“ BAADER Holst. Der einst aus Halle an den Prenzlauer Berg gekommene Autor musste in seinem schmalen Werk immer besonders dick auftragen, um in seiner Exzentrik bemerkt zu werden. In seinem Text „viel spaß auf der titanic“ hat Holst seinen Platz in der Literaturgeschichte anvisiert: „ich halte dir einen platz frei in der weltgeschichte vielleicht zwischen beowulf und brechreiz vielleicht zwischen benn und bethlehem vielleicht in der straßenbahn“. Bei Benn und Bethlehem war dann doch kein Platz mehr frei. Eine Straßenbahn wurde ihm zum Verhängnis. Ende Juni 1990 wurde BAADER Holst in der Oranienburger Straße in Berlin unter nie geklärten Umständen von einer Straßenbahn angefahren und erlag eine Woche später seinen Verletzungen.
Volltext Nr. 3/2011
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien. 48 Seiten, 2,90 Euro.
Edit Nr. 56,
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 130 Seiten, 5 Euro.
Lettre International 94
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 140 Seiten, 11 Euro.
Am Erker 61
c/o Frank Lingnau, Rudolfstr. 8, 48145 Münster. 160 Seiten, 9 Euro.
Michael Braun 19.10.2011
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Michael Braun
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